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bb) Problemlage „Off-Label-Use

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Die Arzneimittelzulassung wird dem pharmazeutischen Unternehmer erteilt. Sie soll bewirken, dass zugelassene Fertigarzneimittel für die vorgesehene Indikation bei Beachtung der Verabreichungsvorgaben wirksam und ungefährlich sind. Die Zulassung bewirkt die Verkehrsfähigkeit des Arzneimittels. Diese ist Voraussetzung für die ärztliche Anwendung. Die Entscheidung über den Zulassungsantrag und -bereich des Arzneimittels trifft der pharmazeutische Unternehmer nach erwerbswirtschaftlichen Erwägungen. So sind z.B. Arzneimittel, die in der Kinderheilkunde eingesetzt werden überwiegend noch nicht anerkannt.[54] Bei seltenen Erkrankungen fehlt es an systematischen Erforschungsmöglichkeiten und im Hinblick auf die Forschungskosten am Interesse der Pharmaindustrie, Zulassungsverfahren einzuleiten. Der Arzt ist im Einzelfall ggf. verpflichtet, Arzneimittel außerhalb der Zulassung einzusetzen, wenn er das Medikament für wirksamer, nebenwirkungsfreier oder alternativlos hält.[55]

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In der gesetzlichen Krankenversicherung sind Arzneimittel nur dann einsetzbar, wenn sie das Zulassungsverfahren nach den §§ 21 ff. AMG durchlaufen haben.[56] Die Arzneimittelzulassung nach dem Arzneimittelgesetz ist Voraussetzung für die Verordnungsfähigkeit in der gesetzlichen Krankenversicherung (Umkehrschluss aus § 34 SGB V, nach dem der G-BA arzneimittelrechtlich zugelassene Fertigarzneimittel von der Verordnungsfähigkeit ausschließen kann).

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Mit Urteil vom 19.3.2002 hatte das BSG[57] bei gleichzeitiger Präzisierung der Ausnahmevoraussetzungen gegenüber der Remedazenentscheidung[58] den „Off-Label-Use“, d.h. den zulassungsüberschreitenden Einsatz eines Arzneimittels, ausnahmsweise in bestimmten Fällen als erstattungsfähig anerkannt. Nach dieser Rechtsprechung erfolgt der Einsatz nur mit Arzneimitteln, die für andere Indikationen zugelassen sind, also arzneimittelrechtlich unbedenklich sind:[59]

Einsatz bei einer schwerwiegenden, regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung,
Fehlen einer vertretbaren anderen Behandlungsalternative,
Konsens in den einschlägigen Fachkreisen über den voraussichtlichen Nutzen des zulassungsüberschreitenden Einsatzes des Arzneimittels.

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Von derartigem Nutzen könne ausgegangen werden, wenn aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht auf einen Behandlungserfolg bestehe. Dies sei dann der Fall, wenn die Zulassung für die neue Indikation beispielsweise beantragt oder die Ergebnisse einer klinischen Prüfung der Phase III veröffentlicht seien. Die Entscheidung vom 19.3.2002[60] verlangt letztlich noch zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen und Konsens in den einschlägigen Fachkreisen über den voraussichtlichen Nutzen. Auf dieser Grundlage ist durch die Bundesregierung die Expertengruppe „Off-Label“ beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) eingerichtet worden.[61]

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Mit der Entscheidung des BSG v. 19.10.2004[62] erfolgte eine weitere Öffnung des Arzneimitteleinsatzes, und zwar für die Fälle, in denen eine systematische Erforschung der Krankheit wegen ihrer Seltenheit praktisch ausgeschlossen ist und weil in diesen Fällen regelmäßig auch nicht mit entsprechenden Empfehlungen des G-BA zu rechnen ist.

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Der bislang bereits sehr begrenzte Einsatz nicht zugelassener Arzneimittel ist durch den Nikolaus-Beschluss des BVerfG v. 6.12.2005[63] weiter geöffnet worden. Versicherte können in notstandsähnlichen Situationen unter engen Voraussetzungen die Versorgung mit arzneimittelrechtlich in Deutschland und der EU nicht zugelassenen Arzneimitteln beanspruchen. Dieses Recht folgt unmittelbar aus dem Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG als der Versicherungspflicht unterworfenem Mitglied der gesetzlichen Krankenversicherung und der grundrechtlichen Schutzpflicht des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG auf Mindeststandards.[64] Die grundsätzlichen Annahmen für den Einsatz nicht zugelassener Arzneimittel dürften hiernach gegeben sein, wenn

eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Krankheit vorliegt,
bezüglich dieser Krankheit keine allgemein anerkannte dem medizinischen Standard entsprechende Behandlung zur Verfügung steht,
der Einsatz des Arzneimittels beim Versicherten auf einer auf Indizien gestützten nicht ganz fern liegenden Aussicht auf Heilung oder spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf beruht. Auf den Konsens der einschlägigen Fachkreise kommt es nicht an.

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Das BSG hat die Kriterien nach Maßgabe des BVerfG in einem außergewöhnlichen prozessualen Verfahren zur Darstellung rechtlicher Voraussetzungen in einem Vergleich herausgearbeitet[65] und in weiteren Entscheidungen konkretisiert.[66]

Es dürfe zur Annahme des ausnahmsweisen Einsatzes zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung kein Verstoß gegen das Arzneimittelrecht vorliegen.
Es bedürfe einer abstrakten und individuellen Betrachtung der gebotenen Wahrscheinlichkeit und einer konkreten Analyse und Abwägung von Chancen und Risiken des voraussichtlichen Nutzens.
Zudem müsse die Behandlung regelmäßig fachärztlich nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt und ausreichend dokumentiert sein.

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Wenn nun aber ein Konsens der einschlägigen Fachkreise nicht mehr gefordert wird, dürfte es ausreichen, wenn die Entscheidung für den „Off-Label-Use“ auf besonderer ausgewiesener ärztlicher Fachkunde und Erfahrung beruht.[67]

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Die untergerichtliche Rechtsprechung dehnt den Anwendungsbereich des „Off-Label-Use“ z.T. weiter aus,[68] und zwar auf Krankheiten, die zwar nicht lebensbedrohlich sind, die aber zu gravierenden Folgen führen. Dieser Ansatz ist nach der Rechtsprechung des BSG[69] aber nicht tauglich, da jede unterlassene Behandlung einmal zur Lebensbedrohung führen kann,[70] dennoch reicht es aus, wenn die Krankheit lebensbedrohlich ist oder jedenfalls vergleichbare schwere, unzumutbare Folgen nach sich zieht. In mehreren Verfahren hat das BSG zwischenzeitlich mit Urteilen v. 13.10.2010 den Begriff einer notstandsähnlichen Lage auf lebensbedrohliche Lagen konkretisiert.[71] Hierunter fällt bei palliativer Versorgung nicht die Behandlung von Folgen einer lebensbedrohlichen Grunderkrankung.

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Tipp

Bei Fragen des „Off-Label-Use“ wird empfohlen, aus dem Fundus der aktuellen Rechtsprechung zu schöpfen. Dazu dient in hervorragender Weise der RID Rechtsprechungsinformationsdienst der Deutschen Gesellschaft für Kassenarztrecht www.de-kassenarztrecht.de. Wer sich mit Fragen des „Off-Label-Use“ befassen muss, kommt an der Ausarbeitung von Hart Off-Label-Use, Heidelberger Kommentar zum Arztrecht, Krankenhausrecht und Medizinrecht Nr. 3910 nicht vorbei. Eine systematisierte Datenbank mit Entscheidungssuchmaschine u.a. zum „Off-Label-Use“ finden Sie zudem unter www.nikolaus-beschluss.de.

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Die Rechtsprechung hatte dazu geführt, dass nach § 36b Abs. 3 SGB V (a.F.) nunmehr der G-BA verpflichtet war, in Beratung durch eine Expertengruppe des BfArM in den Arzneimittelrichtlinien nach § 92 Abs. 1 Nr. 6 i.V.m. § 139b Abs. 4 SGB V ein Verzeichnis für Off-Label-Indikationen von Arzneimitteln zu schaffen. Der pharmazeutische Unternehmer muss aber der Aufnahme aus Gründen der damit verbundenen Haftungsübernahme zustimmen. Dies ist durch Aufnahme von Abschnitt K Anlage VI über die Verordnungsfähigkeit von Arzneimitteln in nicht zugelassenen Anwendungsgebieten (Off-Label-Use) geschehen.[72]

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Diese Regelungen des § 36 Abs. 3 S. 1 SGB V (a.F.) i.V.m. dem AMG sind durch das GKV-VStrG aufgrund der klarstellenden Regelung des § 2 Abs. 1a SGB V i.V.m. § 35c Abs. 1 SGB V für den Bereich des zulassungsüberschreitenden Off-Label-Use modifiziert worden.[73]

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Für den zulassungsüberschreitenden Einsatz im Rahmen klinischer Studien hat der Gesetzgeber im GKV-WSG durch Schaffung des § 35c Abs. 2 SGB V entsprochen. Die Verabreichung von nicht zugelassenen Medikamenten in klinischen Studien ist dann möglich, wenn hierdurch eine therapierelevante Verbesserung der Behandlung einer schwerwiegenden Erkrankung im Vergleich zur bestehenden Behandlungsmöglichkeit zu erwarten ist und wenn die damit verbundenen Mehrkosten in einem angemessenen Verhältnis zum erwarteten medizinischen Zusatznutzen stehen. Die Verordnung kann nur im Rahmen ambulanter Behandlung im Krankenhaus oder durch Hochschulambulanzen erfolgen. Auf die zu erwartenden Richtlinien des G-BA wird verwiesen.

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Tipp

Das BSG hat bereits Hinweise zum Prozedere bei „Off-Label-Use“ gegeben.[74] Der Vertragsarzt konnte bei nicht zugelassenen Arzneimitteln Privatrezepte ausstellen und es dem Versicherten überlassen, sich um Erstattung zu kümmern. Der Vertragsarzt sollte aber entsprechend seiner Beratungspflicht nach § 128 Abs. 5a SGB V auf die Möglichkeit der Erstattung im Rahmen des Off-Label-Use hinweisen und sinnvollerweise selbst als befugter Antragsteller den – nicht die Schriftform erforderlichen – Antrag an die Krankenkasse auf Genehmigung stellen. Wenn eine Möglichkeit der Erstattung nach § 2 Abs. 1a SGB V in besonderen Fällen besteht, setzt dies die Beratung des Vertragsarztes oder Krankenhausarztes vor der Verordnung von Privatleistungen voraus.

Bei Ablehnung der Leistungen durch die Krankenkasse kann der Versicherte seinerseits einstweiligen Rechtsschutz beantragen. In der Abwägung stehen dann Grundrechtsschutz nach Art. 2 Abs. 1 und 2 sowie Art. 1 GG gegen Kostenlast der Krankenkasse, was häufig zu einem Erfolg im einstweiligen Rechtsschutzverfahren führt. Bei Eilbedürftigkeit und gleichzeitig offenen Fragen der Anspruchsvoraussetzungen kann die Folgenabwägung zur vorläufigen Gewährung der Leistungen führen.[75]

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Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien drei unter dem Stichwort Off-Label-Use umkämpfte Verordnungsfelder benannt:

Lucentis-Streit

Bei behandlungsbedürftiger Maculadegeneration steht die Behandlung mit Avastin einem für diese Indikation nicht zugelassenes Arzneimittel zum Preis von 80,00 € je Spritze zur Verfügung, während das zugelassene Medikament Lucentis Kosten von 1.500,00 € je Spritze verursacht.[76] Dies führte zur Diskussion eines Off-Label-Use aus Kostengründen.[77] Anerkannt ist, dass das Wirtschaftlichkeitsgebot auch im Bereich des Off-Label-Use grundsätzlich eine Rolle spielt.[78]

Das BSG[79] hat einen Off-Label-Use allein aus Kostengründen für das zur Behandlung der Makuladegeneration nicht zugelassene Krebsmittel Avastin abgelehnt.

Das Arzneimittel Lucentis (Ranibizumab) ist als einziges Arzneimittel mit der Indikation der Behandlung feuchter Makuladegeneration in der gesetzlichen Krankenversicherung zugelassen. Selbst eine Einzelaufteilung eines Medikamentes aus der Verpackung kann nach der umstrittenen Rechtsprechung der Landessozialgerichte ein unzulässiger Off-Label-Use sein.[80]

Medikamentierung bei Multipler Sklerose

Die Rechtsprechung ist bei der Anerkennung von Kostenerstattungen für auf Privatrezept verordnete, selbst beschaffte und außerhalb eines bestimmungsgemäßen Indikationsgebietes angewandte Arzneimittel zur Behandlung der Multiplen Sklerose zunehmend zurückhaltend geworden.[81]

ADHS von Erwachsenen

Für den Einsatz von Methyl Phenidat, einem Kinderarzneimittel für Erwachsene, hat sich der 11. Senat des LSG Berlin-Brandenburg ausgesprochen.[82]

Dem gegenüber hat der 5. Senat des LSG Berlin-Brandenburg[83] sich gegen den Einsatz des Medikamentes im Erwachsenenbereich ausgesprochen. Das BSG[84] sah keine regelmäßig tödlich verlaufende oder zumindest wertungsmäßig vergleichbare Erkrankung, hält aber die Verordnungsfähigkeit dennoch nicht grundsätzlich für ausgeschlossen. In diesem Sinne negativ entschied auch das LSG NRW.[85]

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Tipp

Der beratende Anwalt und der verordnende Arzt sollte mit den Risiken einer Off-Label-Verordnung sehr sorgfältig prüfend umgehen: Verordnungen nicht verordnungsfähiger Arzneimittel bergen für Vertragsärzte immense Risiken. Verordnungen für Immunoglobine beispielsweise können rasch zu Regressen in sechsstelliger Höhe führen. Regresse unterliegen einer vierjährigen Ausschlussfrist. Auf eine verschuldensabhängige Verursachung eines sonstigen Schadens mit anderen Verjährungsfristen kann nicht zurückgegriffen werden.[86]

Der betroffene Arzt sollte bei einem Off-Label-Use-Arzneimittelregress immer Widerspruch einlegen und kann nicht wie im sonstigen Arzneimittelregress unmittelbar Klage erheben. Das Bundessozialgericht hat lediglich in Fällen, in denen umstrittene Arzneimittel oder umstrittene Wirkstoffe unmittelbar ausgeschlossen sind, das Widerspruchsverfahren als nicht erforderlich erklärt.[87]

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