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Eiszeit

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Die globale Erwärmung ist heute in aller Munde – zumindest im Munde derer, die aufmerksam das Weltgeschehen verfolgen. Die meisten Forscher haben sich mittlerweile der Meinung angeschlossen, dass diese Erwärmung auf menschliches Einwirken zurückzuführen ist. Es gibt noch ein paar Skeptiker (auch wenn es unter den Klimaspezialisten nur noch sehr, sehr wenige sind), die argumentieren, dass die momentane Erwärmung nur eine weitere in einer langen Reihe von natürlichen Klimaschwankungen ist, die die Erde in den letzten Millionen Jahren erlebt hat. In gewisser Weise haben sie natürlich recht: Das Klima der Erde geht schon seit eineinhalb Millionen Jahren auf und ab, und wenn überhaupt, dann sind die Schwankungen bis heute extremer geworden, nach oben wie nach unten. Wir befinden uns derzeit in einem Zeitraum mit eher wärmeren Umweltbedingungen, und der dauert schon etwa 10.000 Jahre an. (Und wenn wir nur diesen Verlauf zugrunde legen, sollten wir eher eine Abkühlung erwarten als eine dramatische Erwärmung.) Aber vor gerade einmal 20.000 Jahren befanden sich Europa und Nordamerika im festen Griff einer Eiszeit. Riesige Gletscher, groß wie Kontinente, Tausende Meter dick, lagen über Skandinavien und der Hudson Bay, und das Gewicht des Eises schob ihre Ränder weiter in Richtung Süden, bis ins heutige Deutschland bzw. Illinois. Die Auswirkungen dieser riesigen Mengen Eis waren aber noch weit über die Gletscherränder hinaus zu spüren. Durch die Kälte über den Gletschern entstand ein hoher atmosphärischer Druck, der die „normalen“ Klimazonen nach Süden verschob. Als Ergebnis wurde es in fast ganz Europa nicht nur kälter, sondern auch trockener. Das Wasser, das als Schnee auf die Gletscher fiel, blieb dort liegen, und der Meeresspiegel auf der ganzen Welt fiel um ganze 120 m, was die Form der Kontinente veränderte. Vor etwa 20.000 Jahren hätte man von Paris nach London laufen können oder von Alaska nach Sibirien. Die europäischen Laubwälder verschwanden und machten baumlosen, kalten Steppen Platz, an die die Gletscher stießen; Nadelbäume verbreiteten sich in Richtung Süden. Und auch die Tiere veränderten sich. Statt im Wald ansässiger Säugetiere wie Hirsche und Elche gab es Rentiere, Moschusochsen, Mammuts und Wollnashörner, wie sie im kalten Grasland zu Hause waren. Es gab auch andere Raubtiere – Löwen und Hyänen gesellten sich zu den üblichen Wölfen und Bären. Das Europa der Eiszeit war vollkommen anders als das heutige.9, 10

Vor 20.000 Jahren waren die Neandertaler schon längst verschwunden, aber diese jüngste größere Eiszeit war nur die letzte in einer langen Reihe von Eiszeiten. Sie begann vor etwa 30.000 Jahren und endete vor etwa 12.000 Jahren. Eine etwas weniger intensive Eiszeit ging dieser voraus: Sie begann vor 70.000 Jahren und endete vor 60.000 Jahren – und diese erlebten die Neandertaler definitiv noch mit. (In der Tat lassen sich viele unserer besterhaltenen europäischen Neandertaler auf diesen Zeitraum datieren.) Vor 180.000 bis 128.000 Jahren gab es eine sehr lange, sehr intensive Eiszeit, und eben zu dieser Zeit entwickelte sich die „klassische“ Neandertaler-Anatomie. Davor gab es noch mehrere weitere Eiszeiten, bis ganz zurück in die Zeit des unmittelbaren Vorfahren des Neandertalers, des Homo heidelbergensis. Während dieser Eiszeiten und der dazwischenliegenden Warmzeiten war es nicht immer gleich kalt oder warm; das Klima schwankte stark, von extrem kalt bis zu extrem warm, oft über Intervalle von nur ein paar Tausend Jahren hinweg. Die durchschnittliche Temperatur während der Eiszeiten war niedriger als heute, und in jeder gab es kältere Intervalle und auch kurze Zeiten extremer Kälte, die nur ein paar Tausend Jahre dauerten. Wir wissen, dass die Neandertaler während der Eiszeiten in Europa blieben, aber archäologische Hinweise deuten darauf hin, dass sie manche Gegenden infolge extremer Kälte verließen; das tat der moderne Mensch allerdings ebenfalls, als er schließlich vor 40.000 Jahren nach Europa kam. Klar ist, dass sich die Neandertaler in Europa in einer Zeit der schwankenden Klimabedingungen entwickelten, mit mehreren langen kalten Phasen, die Zehntausende Jahre dauerten – reichlich Zeit für eine natürliche Selektion nach den Regeln von Bergmann und Allen.

Wie gut passten sich die Neandertaler denn nun der Kälte an? Ihre Anatomie weist darauf hin, dass sie sich der Kälte womöglich nicht besser anpassten als manche moderne Menschen, z.B. die Inuit. Leslie Aiello und Peter Wheeler haben eine differenzierte Analyse des Körpertyps der Neandertaler durchgeführt, um festzustellen, wie viel Kälte ein Neandertaler aushalten konnte.11 Aufgrund der Kenntnis von Körperbau und Bemuskelung der Neandertaler (auf die man durch Skelettüberreste schließen kann) sowie einer Schätzung der basalen Stoffwechselrate, die ihre starke Abhängigkeit von Fleisch berücksichtigte (dazu später mehr), waren sie in der Lage, eine „minimale nachhaltige Umgebungstemperatur“ zu errechnen – das ist die niedrigste Lufttemperatur, bei der man vollkommen nackt und ohne Feuer überleben kann. Das Ergebnis: 8 °C. Die gleiche Berechnung für den modernen Europäer ergab 10,5 °C. Dies ist nur ein geringer Vorteil; wir erfahren dadurch, dass die Neandertaler wahrscheinlich besser an kalte Umgebungen angepasst waren als moderne Europäer, aber nicht viel. Ohne die Hilfe zweier kultureller Mechanismen zum Warmhalten wären sie niemals in der Lage gewesen, die Eiszeit in Europa zu überleben: Feuer und Kleidung.

Auch die Nase der Neandertaler hat man mit der Anpassung an die Kälte in Verbindung gebracht. Moderne Menschen, die in kalten Klimazonen leben, neigen zu einer langen, hoch angesetzten Nase. Anthropologen glauben, dass dadurch die Luft ein bisschen besser erwärmt und befeuchtet wird, bevor sie in die Lunge eintritt. Doch die Nasen dieser Menschen sind zwar lang, aber auch schmal, nicht breit wie die Nasen der Neandertaler. Andere Anthropologen glauben daher, dass die Nasengröße der Neandertaler eher auf ihr hohes Niveau körperlicher Anstrengung zurückzuführen ist, bei dem die Fähigkeit, größere Mengen Luft durch die Nase ein- und auszuatmen, ein Vorteil sein kann.12

Es scheint, dass die Anpassung an eine kalte Umgebung einige markante Merkmale der Neandertaler erklären kann, aber bei Weitem nicht alle. Die Größe von Schädel und Gehirn, das vorstehende Mittelgesicht, das fliehende Kinn und die allgemeine Robustheit der Knochen haben nichts mit der Kälte zu tun. Woher also stammen sie? Wie halfen sie dem Neandertaler, sich an seine Umgebung anzupassen? So langsam scheint sich herauszustellen, dass dies die falsche Fragestellung ist. Die eben erwähnten körperlichen Merkmale des Neandertalers ähneln nämlich denen mehrerer prähistorischer Hominiden, einschließlich des Homo heidelbergensis, seines unmittelbaren Vorfahren im Stammbaum. Sie sind bei vormodernen Hominiden ganz normal und finden sich bei diversen archaischen Erscheinungsformen des prähistorischen Menschen in Afrika, Asien und in Europa. Erst der moderne Mensch sah anders aus.

Bisher haben wir die Anatomie des Neandertalers mit unserer eigenen verglichen und versucht, die Besonderheiten des Neandertalers zu erklären. Aber die meisten dieser Besonderheiten sind gar nicht so ungewöhnlich, wenn wir sie mit anderen Hominiden derselben Zeit oder früher vergleichen. Unsere Perspektive geht stets von unserer eigenen Anatomie aus; dadurch sind wir blind geworden – nicht etwa für die Absonderlichkeiten der Neandertaler, sondern für die Absonderlichkeiten unserer eigenen Anatomie. Erik Trinkaus (dem wir in diesem Buch noch oft begegnen werden), eine echte Kapazität im Bereich der Neandertaler-Forschung, machte sich im Jahr 2006 daran, eine möglichst erschöpfende Liste der markanten Merkmale der Neandertaler anzufertigen. Er destillierte aus der schier unermesslichen Literatur über die Neandertaler und die moderne menschliche Anatomie 75 mögliche Merkmale heraus und machte sich dann einige ausgefeilte statistische Methoden zunutze, um diejenigen zu identifizieren, die den Neandertaler am meisten vom modernen Menschen abheben. Er fand heraus, dass nur 25 % davon für den Neandertaler charakteristisch waren. Doppelt so viele, nämlich 50 %, waren charakteristisch für den modernen Menschen. Die restlichen 25 % kamen bei beiden vor. Und so ist es selbstverständlich der Homo sapiens sapiens, der anatomisch sozusagen aus der Reihe tanzt.

Denken wie ein Neandertaler

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