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Gene

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Tatsächlich kennen wir einige sehr spezifische Einzelheiten der Neandertaler-Gene, denn der Wissenschaft ist es gelungen, aus Knochen, die nicht vollständig versteinert waren, viele dieser Gene zu gewinnen. Die Fossilisation ist ein Prozess, bei dem Mineralien aus dem Erdreich die Chemikalien in den Knochen (oder, seltener, im Gewebe) ersetzen; so wird der Knochen buchstäblich zu Stein. Aber das ist ein Prozess, der Tausende Jahre dauern kann; bei vielen Neandertaler-Skeletten ist die Fossilisation noch nicht vollständig abgeschlossen, und in den Knochen befindet sich noch organisches Material. Mit der richtigen Technik können Paläoanthropologen aus diesem Material die DNA extrahieren, eigentlich sogar zwei verschiedene Arten der DNA.

Die häufigste Art der DNA und zugleich die, die am einfachsten zu extrahieren ist, ist nicht die DNA, die die Vererbung kontrolliert und die sich im Kern einer jeden Zelle findet, sondern die DNA in den Mitochondrien außerhalb des Kerns im Zytoplasma einer Zelle (daher mitochondriale DNA oder mtDNA). Mitochondrien sind organische Strukturen in der Zelle (Organellen), mit deren Hilfe die Zellen Energie erzeugen, und jedes Mitochondrium hat seine eigene DNA, die seine Funktion reguliert. Das Merkwürdige an den Mitochondrien ist, dass die Spermien keine haben. Alle unsere Mitochondrien kommen letztendlich von der Mutter, ihre von ihrer Mutter und so weiter. Natürlich haben auch Männer Mitochondrien; sie geben sie nur nicht an ihre Kinder weiter. Die sexuelle Reproduktion ändert nichts an der DNA der Mitochondrien (anders als die Kern-DNA, die während der Bildung von Eizellen oder Spermien neu gemischt wird), so dass Ihre mitochondriale DNA identisch ist mit der Ihrer Mutter, sofern es keine Mutation gibt.

Mutationen sind richtungsunabhängige, zufällige Veränderungen der DNA. Manchmal sorgt eine Mutation der mitochondrialen DNA dafür, dass die Mitochondrien nicht mehr effektiv Energie verarbeiten können, aber oft hat eine Mutation überhaupt keine physiologische Wirkung und wird zusammen mit den Mitochondrien einer Frau an die Söhne und Töchter weitergegeben und an deren Söhne und Töchter und so weiter. Wenn zwei Töchter ein und derselben Frau getrennte Wege gehen und sich jede von beiden erfolgreich fortpflanzt und ihre Töchter sich wieder erfolgreich fortpflanzen und so weiter, reichern sich im Laufe der Zeit in beiden verwandten Linien verschiedene Arten von Mutationen in der mtDNA an, und je länger sie voneinander entfernt sind, desto unterschiedlicher wird ihre mtDNA.

Wenn wir die mtDNA aus Neandertalerskeletten mit derjenigen des modernen Menschen vergleichen, finden wir etwa dreimal so viele Unterschiede (27 Mutationen im Vergleich zu acht), wie wir finden würden, wenn wir die zwei unterschiedlichsten modernen Menschen überhaupt miteinander vergleichen würden. Daraus können wir ein paar sehr interessante Schlüsse ziehen. Erstens: Die Neandertaler unterschieden sich von uns (im Hinblick auf die mtDNA) mindestens drei Mal so sehr, wie sich jeder von uns von jedem anderen modernen Menschen unterscheidet. Zweitens: Wenn wir eine Mutationsrate, das heißt die Häufigkeit, in der Mutationen auftreten, anwenden, dann können wir abschätzen, vor wie langer Zeit wir uns von den Neandertalern abgespalten haben. Sie können sich vorstellen: Das Berechnen einer Mutationsrate ist schwierig, und es gibt dabei viele verschiedene Meinungen. Aber die meisten Paläoanthropologen sind sich einig, dass wir eine Mutationsrate anwenden können, nach der diese Abspaltung vor etwa 500.000 Jahren geschehen ist.7

Im Jahr 2010 hat Svente Pääbo mit seinen 55 Kollegen vom Neandertal Genome Analysis Consortium den ersten Entwurf des Versuchs veröffentlicht, das komplette Neandertaler-Genom (die „genetische“ DNA im Zellkern) zu entschlüsseln. Sie stützten ihre Analyse auf archaische DNA aus den Knochen dreier weiblicher Neandertaler, die vor ungefähr 45.000 Jahren in Kroatien gestorben sind, und verglichen ihre DNA mit derjenigen moderner Menschen aus Europa, Asien und Afrika. Das Ergebnis war eine ziemliche Überraschung: Das primäre Ergebnis besagte, dass 1–4 % der Gene von modernen Asiaten und Europäern ihren Ursprung bei den Neandertalern hatten. 1–4 % mag als Zahl nicht nach sehr viel klingen, aber es bestätigt den Verdacht vieler Paläoanthropologen, dass Neandertaler und moderne Menschen zusammen Nachkommen gehabt haben könnten – und dass das in der Tat auch geschehen ist.

Zwei weitere Ergebnisse waren ähnlich interessant: Moderne Afrikaner haben gar keine Neandertaler-Gene in ihrem Genom, und das asiatische Genom besaß genauso viele Neandertaler-Gene wie das europäische Genom. Die wahrscheinlichste Erklärung hierfür ist, dass diese Kreuzung geschah, nachdem der moderne Mensch aus Afrika ausgewandert war, aber bevor er in Europa und Asien breiten Raum einnahm. Dies fand, laut Pääbo und seinen Kollegen, höchstwahrscheinlich vor 60.000 bis 80.000 Jahren statt. Eine solche Datierung stellt die Paläoanthropologie jedoch wiederum vor ein Rätsel. Es gibt Spuren der Neandertaler aus diesem Zeitraum im Nahen Osten, aber noch keine Spuren anatomisch moderner Menschen. Es gibt Spuren moderner Menschen, die älter als 80.000 Jahre sind, und dann wieder welche, die jünger sind als 60.000 Jahre. Angesichts der Ungenauigkeit der genetischen Datierung mittels angenommener Mutationsraten sollte uns diese Inkonsistenz nicht beunruhigen. Wichtig ist, dass es einen Genfluss zwischen den Neandertalern und unseren Vorfahren gab, und zwar vor unserer Expansion in Europa und Ostasien. Aber dieser Genfluss (ein Fachbegriff der Genetik für den Austausch genetischen Materials) ging nur in eine Richtung; im Neandertaler-Genom hat man keine spezifischen Gene des modernen Menschen identifizieren können.8 Dieser offenbar einseitige Genfluss wirft die Frage auf, wie er im tatsächlichen Leben der Neandertaler und der modernen Menschen zum Tragen kam. Wie haben sie interagiert? Gab es gemischte Gruppen? Oder ist eine gewalttätige Interaktion wahrscheinlicher? Wir werden im letzten Kapitel auf diese Fragen zurückkommen.

Pääbo konnte in seiner Analyse auch 78 Gene im modernen Genom identifizieren, die sich bei drei Neandertalerinnen nicht fanden. Es ist wichtig, dies im Hinterkopf zu behalten: Das Neandertaler-Genom und das moderne Genom waren zu 99,84 % identisch. Aber wir haben gesehen, dass die Neandertaler sich vom modernen Menschen anatomisch unterscheiden und dass einige dieser Unterschiede wahrscheinlich genetisch bedingt sind. Zwar hat man einige der 78 einzigartigen modernen Gene mit bekannten Funktionen in Verbindung gebracht, aber hier müssen wir vorsichtig sein. Wie wir gesehen haben, ist die Genexpression in der Anatomie ein komplexer Prozess, bei dem das Gen an sich ebenso eine Rolle spielt wie auch andere regulatorische Gene und die Umgebung, in der sich das Individuum entwickelt. Kurioserweise gibt es bei den 78 fraglichen Genen die größten DNA-Unterschiede bei den Genen, die etwas mit der Haut zu tun haben. Und einige der anderen genetischen Unterschiede betreffen den Energiestoffwechsel, u.a. solche, die in fehlerhafter Anzahl zu Diabetes mellitus führen. Aber für unsere Zwecke hier bestehen die interessantesten Unterschiede in Genen, die in der kognitiven Entwicklung wichtig sind. Der moderne Mensch besitzt mindestens ein paar Gene, die mit der kognitiven Entwicklung im Zusammenhang stehen und die der Neandertaler nicht besaß. Leider ist nicht ganz klar, was die genaue Funktion dieser Gene ist. Es gab auch ein paar kuriose Entdeckungen: Beispielsweise besaß einer der durch Pääbo getesteten Neandertaler das Gen für rotes Haar. Diese Entdeckung war eine Überraschung, aber vielleicht ist sie dennoch ganz einfach zu erklären: Das Gen für rotes Haar ist verlinkt mit den Genen, die die Hautpigmente steuern, und Anthropologen ist schon lange bekannt, dass die reduzierte UV-Strahlung in den höheren Breiten (z.B. in Europa) dafür sorgt, dass der Prozess der natürlichen Selektion dort einer reduzierten Pigmentierung der Haut den Vorrang gibt. Die Neandertaler haben mehrere Hunderttausend Jahre lang in solchen höheren Breiten gelebt, viel länger als der moderne Mensch in Europa; von daher sollten Hinweise auf eine geringere Pigmentierung eigentlich niemanden überraschen. Ein in diesem Zusammenhang interessanteres beim Neandertaler identifiziertes Gen heißt FOXP2. Man weiß, dass eine Variante des FOXP2-Gens einen Sprachfehler verursacht sowie Schwierigkeiten beim Lernen und bei der Verwendung bestimmter Arten von Grammatik. Der Neandertaler besaß jedoch die normale Variante. Bedeutet das, dass die Neandertaler genauso sprechen konnten wie Sie und ich? Vielleicht, aber nicht notwendigerweise. FOXP2 ist kein Gen für Sprache oder sprachliche Äußerungen; vielmehr ist es ein Gen, das an der modernen Sprache beteiligt ist. Zweifellos gibt es noch viele weitere Gene, die etwas mit der modernen gesprochenen Sprache zu tun haben und die noch nicht identifiziert worden sind. Vielleicht besaßen die Neandertaler sie, vielleicht auch nicht. Aber dass sie das Gen FOXP2 besaßen, regt sicherlich zur Diskussion an.

Letzten Endes hilft uns die Kenntnis einiger oder sogar vieler Neandertaler-Gene nicht wirklich weiter, wenn wir ihr Leben verstehen wollen – zumindest heute noch nicht. Archaische Neandertaler-DNA ist äußerst nützlich dafür, zu dokumentieren, wie eng wir mit den Neandertalern verwandt sind, und um einschätzen zu können, wie lange wir schon von ihnen getrennt sind. Es gibt keine einzelnen Gene für Überaugenwülste oder große Nasen oder eine breite Brust, zumindest nicht, soweit wir das heute einschätzen können. Solche Merkmale entstehen aus dem Zusammenspiel und dem Timing vieler verschiedener Gene im Laufe eines Lebens, vor allem, während wir jung sind. Also selbst wenn Paläoanthropologen einmal das gesamte Neandertaler-Genom entschlüsselt haben (und das ist nur eine Frage der Zeit), werden die meisten unserer Fragen über das Leben der Neandertaler immer noch unbeantwortet sein. Was können wir also sonst noch tun, um ihr ungewöhnliches Aussehen zu verstehen?

Denken wie ein Neandertaler

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