Читать книгу Denken wie ein Neandertaler - Thomas Wynn - Страница 7
Vorwort
ОглавлениеDies ist kein Buch mit Verhaltensregeln für heranwachsende Jungen und Mädchen (ganz gleich, welches Alters), und es ist kein Handbuch für Überlebenskünstler, die sich auf die Apokalypse vorbereiten. Es ist auch keine Satire über eine bestimmte politische Partei, Person oder Ideologie, wie sehr diese es auch immer verdient hätte. Vielmehr ist es ein ernsthafter Versuch, das Denken eines verschwundenen und oft geschmähten prähistorischen Volks zu beschreiben: der Neandertaler.
Die Neandertaler zeichnen sich dadurch aus, dass sie die einzigen fossilen Menschen sind, deren Name es bis in unsere Umgangssprache geschafft hat. Jeder, der den modernen Medien ausgesetzt ist, hat ihren Namen schon einmal gehört oder gelesen, und die meisten Menschen haben eine gewisse Vorstellung davon, wer die Neandertaler waren, auch wenn diese Vorstellung meist durch Kino oder Fernsehen verzerrt ist: Rückkehr aus einer anderen Welt, Steinzeit Junior, Caveman – Der aus der Höhle kam oder Am Anfang war das Feuer (unser persönlicher Favorit). Es gibt eine Menge guter wissenschaftlicher Abhandlungen zum Thema Neandertaler, von denen einige durchaus für ein breiteres Publikum verfasst sind. Sie sind zwar sorgfältig recherchiert, aber oft auch ein wenig langweilig. Wenn man nicht gerade ein Spezialist in diesem Bereich ist, verlieren alte Knochen und Steinwerkzeuge schnell ihren Reiz. Was ernsthaften Darstellungen der Neandertaler indes oft fehlt, ist eine Beschäftigung mit den Themen, die viele Menschen eigentlich am interessantesten finden: Wie war es, ein Neandertaler zu sein? Wie unterschied sich sein Leben von unserem? Wo gab es Ähnlichkeiten?
Dies ist die Aufgabe, die wir uns gestellt haben: eine Darstellung des geistigen Lebens der Neandertaler, soweit wir es heute anhand von Fossilien und archäologischen Funden rekonstruieren können. Wir, das sind ein Archäologe (TW) und ein Psychologe (FLC), arbeiten seit zehn Jahren im Bereich der Kognitionsevolution zusammen. Unser Ansatz macht sich etablierte Konzepte der Kognitionswissenschaft zunutze, um paläoanthropologische Überreste zu deuten. Dazu beschreiben wir spezifische archäologische Funde, verwenden explizite Beschreibungen kognitiver Fähigkeiten und bitten den Leser hin und wieder, uns bei Gedankenexperimenten zu begleiten. Wie wir zu zeigen hoffen, ist es tatsächlich in gewissem Umfang möglich zu beschreiben, wie die Neandertaler gedacht haben und wie sie ihre Welt wahrgenommen haben. Im Laufe dieses Prozesses werden wir einige interessante, aber bislang wenig gewürdigte allgemeine Einblicke in den Bereich der Kognition präsentieren. Schließlich soll unsere Darstellung, wie die Neandertaler dachten, zu einem neuen Blick auf uns selbst führen – und auf unser Denken, das viel mit dem der Neandertaler gemein hat, das aber durchaus auch Unterschiede aufweist.