Читать книгу Denken wie ein Neandertaler - Thomas Wynn - Страница 16
Ernährung
ОглавлениеEin durchschnittlicher Neandertaler benötigte etwa 3.000 bis 5.500 Kalorien pro Tag. Paläoanthropologen haben diese Zahl anhand des Körpergewichts und anhand von Schätzungen der körperlichen Aktivität auf Basis der Robustheit der Knochen und des ausgeprägten Muskelgewebes errechnet. Und wie wir in Kapitel 1 gesehen haben, brachte die Notwendigkeit, die eigene Körpertemperatur aufrechtzuerhalten, metabolische Anforderungen mit sich, die den täglichen Kalorienbedarf zusätzlich erhöhten. Die geschätzten 3.000 bis 5.500 Kalorien sind eine ganze Menge, etwa so viel wie ein Leistungssportler im Training verbraucht. Männliche wie weibliche Neandertaler benötigten gleich viele Kalorien; aber woher haben sie sie bekommen?
Einen Großteil ihrer Zeit im Nordwesten Eurasiens verbrachten die Neandertaler in einem Lebensraum, der in puncto pflanzliche Nahrung wenig zu bieten hatte. In den Tropen und Subtropen gab es reichlich Obst, Wurzeln, Nüsse, essbare Blätter usw. – in den nördlichen Breiten waren diese eher rar gesät. Selbst unter modernen Jägern und Sammlern gibt es eine starke Korrelation zwischen Breitengrad und Ernährungsweise. In den Tropen ernährt man sich hauptsächlich pflanzlich, in gemäßigten Breiten bevorzugt man eine Mischung aus pflanzlicher und tierischer Nahrung. Die Bewohner der Arktis, wie z.B. die Inuit, holen sich die meisten ihrer Kalorien aus tierischen Produkten (Meeres-/Landsäugern und Fischen). Angesichts der geografischen Verteilung der Neandertaler im Nordwesten Eurasiens würden wir auf eine Ernährung schließen, bei der tierische Produkte eine große Rolle spielten. Vor allem galt dies für die Eiszeiten. In Europa war es kälter, die gemäßigten Wälder wurden nach Süden gedrängt. Während dieser Kaltzeiten muss der Lebensraum Europa ganz anders ausgesehen haben als heute – und zwar so sehr anders, dass es heute kein Äquivalent dazu gibt. Es war kälter, aber anders als in der tatsächlichen Arktis war es im Winter nicht monatelang dunkel. Die Sonne schien damals genauso lange wie heute. Das Ergebnis: eine Landschaft, die über mehr Vegetation verfügte als die heutigen arktischen und subarktischen Regionen, vor allem in Form von Gräsern und Riedgrasgewächsen.2–7 Allerdings waren die meisten dieser Pflanzen für die Neandertaler gar nicht genießbar; nur ein paar konnten sie essen und taten das auch, z.B. die Wurzeln bestimmter Pflanzen und einige Grassamen, die sie kochten. Aber diese Ressourcen reichten für die Neandertaler Nordeuropas nicht aus. Allein deshalb würde man erwarten, dass tierische Erzeugnisse einen großen Teil ihrer Ernährung ausmachten. Was Paläoanthropologen allerdings überrascht hat, war, wie groß dieser Anteil tatsächlich war.8, 9
Schuld waren die Archäologen, die die Paläoanthropologen hinsichtlich der Ernährung der Neandertaler (ohne es zu ahnen) auf eine falsche Fährte geführt hatten. In den Wohnstätten von Neandertalern, die sich häufig im Eingangsbereich von Höhlen oder unter Felsüberhängen befanden, entdeckten Archäologen diverse Abfälle, vor allem Steinwerkzeuge und Tierknochen. Die Knochen waren zumeist ziemlich kaputt, aber Archäologen konnten viele der Spezies identifizieren – es waren vor allem Knochen mittelgroßer bis großer Säugetiere wie Pferde, Bisons, Wildrinder, Hirsche und Rentiere. Archäologen kamen zum nicht ganz von der Hand zu weisenden Schluss, dass dies Überreste von Tieren waren, die von den Neandertalern verspeist worden waren. Ende des 20. Jahrhunderts gab es ein paar Jahrzehnte lang eine Kontroverse, wie sich die Neandertaler dieser Tiere bemächtigt hatten, ob durch Einfangen oder Jagd; um 1990 herum hatte sich die Archäologie weitgehend auf eine opportunistische Jagdweise geeinigt. Doch dann trat die Chemie auf den Plan und sorgte für eine große Überraschung.
Viele Überreste der Neandertaler und die mit ihnen in Zusammenhang stehenden Tierknochen enthalten eine Menge organisches Material. Mit geeigneten Analyseverfahren ist es möglich, die chemische Zusammensetzung eines Knochens und dadurch die Komponenten zu identifizieren, aus denen die Nahrung des getesteten Individuums bestand. Insbesondere die Verhältnisse bestimmter Isotope von Kohlenstoff und Stickstoff sind gute Indikatoren für verschiedene Eiweißquellen. Die isotopische Signatur eines Pflanzenfressers unterscheidet sich stark von der eines Fleischfressers, und die isotopischen Signaturen von Fleischfressern unterscheiden sich je nach der Art der Tiere, die konsumiert werden (z.B. haben fleischfressende Meerestiere wie Seelöwen eine andere Signatur als terrestrische Aasfresser und Jäger). Als man die Knochen der Neandertaler analysierte, wurde schnell klar, dass diese Fleischfresser gewesen waren. Das war natürlich keine Überraschung. Aber als man die Ergebnisse mit denen von Hyänen verglich, den dort lebenden Aasfressern und opportunistischen Jägern, waren die Neandertaler viel höher auf der Fleischfresser-Skala angesiedelt. Sie scheinen nicht besonders viel Aas verzehrt zu haben, was man so nicht erwartet hatte. Wenn die Vergleichsdaten zu örtlichen Pflanzenfressern gut genug sind, kann man manchmal jedoch feststellen, welche Pflanzenfresser es waren, die die Neandertaler hauptsächlich gegessen haben. Und es zeigte sich: Die beiden wichtigsten Quellen tierischen Eiweißes für Neandertaler in Nordwesteuropa waren das Mammut und das Wollnashorn – genau die Tiere, die unterhalb der Klippe von La Cotte geschlachtet wurden.10, 11
Wie konnte es sein, dass den Archäologen das entgangen war? Schuld daran war der sogenannte Schlepp-Effekt: Archäologen hatten nur diejenigen Körperteile von Tieren identifiziert, die die Neandertaler in ihre Wohnstätte mitgebracht hatten. Mammut- und Nashornknochen waren in der Regel zu groß, um sie herumzutragen. Ziemlich sicher trugen die Neandertaler lediglich das Fleisch der Mammuts zu ihren Höhlen, aber in Form von Filets, die keine Spuren hinterließen.
Es war der Archäologie also gelungen, eine wichtige Nahrungsquelle der Neandertaler zu identifizieren, aber eben nur eine sekundäre. Zusammengenommen zeigen die archäologischen und chemischen Daten, dass die Neandertaler mehr waren als Fleischfresser: Sie waren erfolgreiche Jäger, die an der Spitze der Nahrungskette standen. Sie erlegten die größten und gefährlichsten Pflanzenfresser, die es in Europa gab. Wir wollen uns jetzt damit beschäftigen, wie sie das taten, denn das ist ein wichtiger Hinweis auf ihre Denkweise.