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Die Beschaffenheit des Geländes

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Um erfolgreich zu sein, müssen Jäger und Sammler mobil sein, und die Entscheidungen darüber, wann sie wie oft wohin gehen, sind ein wichtiges Element ihrer Lebensweise. Natürlich ist dabei von großer Wichtigkeit, was sie jagen und sammeln. In der jüngeren Vergangenheit haben einige Jäger und Sammler z.B. Techniken entwickelt, die sich die jährlichen Laichzüge von Wanderfischen wie Lachsen zunutze machen. Binnen weniger Wochen konnten so einzelne Gruppen genug fangen, um Vorräte anzulegen, die für ein ganzes Jahr reichten. Sie brauchten nicht mehr weiterzuziehen und lebten in dauerhaften, ganzjährig bestehenden Siedlungen. Andere Jäger und Sammler jüngeren Datums im tropischen Afrika ernährten sich von einer Vielzahl kleiner Tiere und von Pflanzen und mussten sich öfter von einem Ort zum anderen bewegen, um den übermäßigen Abbau lokaler Ressourcen zu verhindern. Aber die Mobilität von Jägern und Sammlern hängt auch von sozialen Dingen ab – das können so einfache Faktoren wie zwischenmenschliche Konflikte sein oder auch das Bestreben, die Paarungsmöglichkeiten zwischen einzelnen Gruppen zu maximieren. Wir werden diese sozialen Aspekte in einem späteren Kapitel behandeln. Im Moment soll es darum gehen, wie sich die Neandertaler als Jäger in ihrer jeweiligen Landschaft bewegten.

Archäologisch erschlossene Neandertalerstätten bestehen aus Abfällen, die Individuen oder Gruppen zurückgelassen haben, die sich ein paar Stunden, Tage oder Wochen an einem bestimmten Ort aufgehalten haben. Können wir diese Orte irgendwie so miteinander verbinden, dass sich ein Muster ergibt? Die Antwort ist: ja – zumindest bis zu einem gewissen Grad und für Regionen wie Westeuropa, die man schon intensiv untersucht hat. Der Schlüssel dazu sind Rohstoffe, genauer: bestimmte Arten von Stein, die die Neandertaler bei der Herstellung von Steinwerkzeugen verwendeten (sehr viel mehr dazu in Kapitel 3). Verschiedene Arten von Stein – Feuerstein beispielsweise – besitzen unterschiedliche strukturelle, farbliche, ja sogar chemische Eigenschaften, und das bedeutet, dass man oftmals den geografischen Ursprungsort des zur Herstellung eines bestimmten Werkzeugs verwendeten Rohmaterials bestimmen kann. Und das wiederum liefert konkrete Hinweise darauf, wohin diejenigen, die diese Werkzeuge anfertigten, gingen – und wie oft.

Neandertaler gingen niemals sehr weit von den Orten weg, an denen sie ihre Rohstoffe fanden. In den meisten Fällen konnte der Ursprung von 80–99 % des verwendeten Gesteins innerhalb von 6 km Entfernung von der Stätte lokalisiert werden. Dieser Radius entspricht der Strecke, die man etwa binnen einer Stunde zu Fuß zurücklegt. Steine sind schwer, und sicherlich wollten die Neandertaler sie nicht weiter als nötig mit sich herumschleppen. Daraus können wir schließen, dass sie wussten, wo die besten Steine zu finden waren. Das fanden sie heraus, indem sie eigens an einen bestimmten Ort gingen, um die Steine zu holen, oder, was wahrscheinlicher ist, sie fanden sie unterwegs, als sie auf der Reise an einen anderen Ort waren, zu anderen Zwecken. Dadurch erfahren wir nicht viel Überraschendes; wir würden von jedem großen Säugetier erwarten, vor allem im eiszeitlichen Europa, dass es mit einem Territorium von über 100 km2 vertraut ist. In vielen Neandertalerstätten hat man einen kleinen Anteil von Rohstoffen gefunden, deren Ursprungsort über 20 km weit entfernt war, und gelegentlich gibt es kleinere Stücke, die von noch weiter weg stammen, mitunter sogar 250 km, aber das ist äußerst selten. Stets ist das verwendete Gestein von hoher Qualität (das heißt es ist gut geeignet für die Herstellung von Werkzeugen), und es ist auch stark bearbeitet und im Volumen reduziert, was bedeutet, dass daraus hergestellte Werkzeuge mehrfach überarbeitet wurden, bis sie zu klein waren, um weiter verwendet zu werden. Dies verrät uns, dass sich Neandertaler regelmäßig außerhalb des lokalen Radius ihrer Wohnstätten bewegten, aber wahrscheinlich nicht sehr oft. Für einen Marsch von 20 km war man den ganzen Tag unterwegs – unter Zeitdruck schaffte man es gegebenenfalls auch hin und zurück an einem Tag –, und es ist wenig wahrscheinlich, dass ein Neandertaler eine solche Reise auf sich genommen hätte, nur um ein paar schöner Steine willen. Aber wenn er auf dem Weg an einen anderen Ort solchen Steinen begegnete, dann war es sicherlich eine gute Idee, ein paar davon mitzunehmen.16

Am Muster der Beschaffung von Rohstoff lassen sich weitere Einblicke in die Mobilität der Neandertaler gewinnen. Sie überquerten fast nie große Hindernisse wie Berge oder breite Flüsse. Die meisten ihrer lokalen Reiserouten verliefen durch Flusstäler. Längere Reisen, also über 20 km, führten sie oft in benachbarte Flusstäler, in der Regel aber in Gebiete, die ihrem heimatlichen Tal in puncto Umweltbedingungen (und Jagdwild-Verteilung) ganz ähnlich waren. In Osteuropa sah das indes ein wenig anders aus. Die meisten der verwendeten Rohstoffe stammten auch hier aus lokalen Quellen, was die Vorliebe der Neandertaler für örtliche Ressourcen zunächst einmal bestätigt. Aber wenn sie unterwegs waren, legten sie längere Strecken zurück, einige Rohstoffe lassen sich über 100 km weit zurückverfolgen. Auch hier ist es eher unwahrscheinlich, dass sie diese Reisen eigens zur Beschaffung von Rohstoffen unternahmen. Höchstwahrscheinlich mussten die Jäger dieser kälteren Regionen ihre Beute über weitere Strecken verfolgen (die Beutetiere hatten ihrerseits größere Territorien), und gelegentlich fanden sie dabei Quellen hochwertigen Gesteins. Auch möglich, wenngleich weniger wahrscheinlich, ist, dass die Behausungen einzelner Neandertalergruppen weiter voneinander entfernt lagen, und wenn es gelegentlich zum Austausch von Sexualpartnern kam, mussten exogame Individuen (also junge Männer oder junge Frauen, die sich außerhalb einen Partner suchten, mehr dazu später) weiter reisen.17

Was die Neandertalerstätten betrifft, kennen wir drei Grundtypen: Orte, an denen Tiere geschlachtet wurden, kleine Lager und größere Wohnstätten. Einige dieser Orte, die zumeist in Halbhöhlen entdeckt wurden, wo ein natürlicher Überhang Schutz bot (der auch dazu beitrug, die Fundorte zu bewahren), sind so klein, dass sie nur ein paar Individuen Platz boten; ziemlich sicher wurden sie von Untergruppen einer regulären Wohngruppe frequentiert, vielleicht einer Gruppe, die sich auf Nahrungssuche befand und dabei abseits ihres Stammplatzes für eine Nacht eine Art Lager aufschlug. Die größeren Wohnstätten scheinen zentrale Standorte gewesen zu sein, die als Basis für diverse Operationen dienten. Kleinere Gruppen verließen sie für die Nahrungssuche und kehrten mit ihrer Beute zurück, die dann von der gesamten Gruppe konsumiert wurde. Solche Stätten beherbergen oft die Überreste von Teilen erlegter Tiere wie Pferde, Bisons oder Rentiere (bzw. Ture im Kaukasus, Gazellen in der Levante). Die kleineren Kadaver (z.B. Gazellen) konnte man im Ganzen transportieren, größere Kadaver in leichter transportierbaren Einzelteilen wie Hinterbeinen o. Ä. Dennoch finden sich nur selten Überreste von Mammuts oder Nashörnern an solchen Standorten. Stattdessen reisten die Neandertaler, wenn sie so große Tiere getötet hatten, mit der gesamten Gruppe dem Kadaver hinterher. Von einem Schlachtfest wie dem in La Cotte konnte eine Gruppe Neandertaler wochenlang leben, wenigstens so lange, bis die toten Tiere verdarben. Wir besitzen keine Hinweise auf Lagerung.

Denken wie ein Neandertaler

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