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Rentier, Tur und Gazelle

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Natürlich jagten die Neandertaler nicht ausschließlich Mammuts und Nashörner. Tatsächlich traf die Ausrichtung auf das Mammut vielleicht nur auf Neandertalergruppen zu, die während der Eiszeit in den Ebenen von Nordwesteuropa lebten. An anderen Stätten war auf dem Weg an die Spitze der Nahrungskette eine vielseitigere Herangehensweise üblich.

Die Neandertaler in Salzgitter-Lebenstedt im heutigen Niedersachsen machten Jagd auf Rentiere, und nicht irgendwelche Rentiere: Sie konzentrierten sich auf ausgewachsene männliche Tiere. Auch sie verwendeten das Gelände, um ihre Beute in der Bewegung zu behindern. In diesem Fall manövrierten die Neandertaler eine Rentierherde oder den Teil einer Herde in ein steiles, enges Tal, so dass die Rentiere nicht fliehen konnten, und töteten sie mit Speeren. (Archäologen haben dort eine einzigartige Speerspitze gefunden, die aus Mammutknochen geschnitzt ist.) Die Stätte birgt die Überreste von mindestens 86 einzelnen Rentieren. Sie wurden jedoch unter Umständen nicht alle sofort getötet, es ist sogar wahrscheinlicher, dass die Neandertaler diesen Ort häufiger benutzten, immer im Frühherbst (wie man dem Alter der wenigen Jungtiere zum Zeitpunkt ihres Todes und dem Zustand der Geweihe entnehmen kann). Obwohl die Jäger auch einige Weibchen und Jungtiere erlegten, waren sie doch am meisten an den erwachsenen männlichen Tieren interessiert. Weibchen und Jungtiere wurden nicht sehr häufig geschlachtet, die Männchen schon. Dabei war das Verfahren, das die Neandertaler beim Schlachten anwendeten, immer dasselbe; z.B. hatten sie eine Technik, mit der sie ein Ende des Mittelfußknochens (einen der langen unteren hinteren Beinknochen) entfernten, den Knochen vorne öffneten und über die gesamte Länge des Knochens den Markraum freilegten. Knochenmark ist reich an Fett und sehr nahrhaft. Rentiere sind freilich nicht so groß und gefährlich wie Mammuts und Nashörner, aber die in Salzgitter-Lebenstedt gefundenen Überreste weisen auf einen ähnlichen Ansatz bei der Jagd hin: die natürlichen Gegebenheiten des Geländes zum eigenen Vorteil zu nutzen. Salzgitter-Lebenstedt ist mindestens 100.000 Jahre jünger als La Cotte, und das bedeutet, dass die Taktiken, die die Neandertaler im eiszeitlichen Europa verwendeten, über einen sehr langen Zeitraum gültig blieben.13

Der Kaukasus liegt von La Cotte und Salzgitter-Lebenstedt aus gesehen am anderen Ende Europas, und doch funktionierte die Jagd bei den dortigen Neandertalern ganz ähnlich. Die Fundstätte Ortvale Klde ist eine Halbhöhle in den südlichen Ausläufern des Kaukasus mit Blick auf ein Flusstal, etwa 530 m hoch gelegen. Hier konzentrierten die Neandertaler sich auf eine lokale Bergziegenart, den Tur, auch Kaukasischer Steinbock genannt. Erwachsene männliche Exemplare wiegen an die 100 kg, die Weibchen etwas mehr als die Hälfte. Die Neandertaler machten Jagd auf beide. Wir können hier wieder beobachten, dass die Neandertaler primär ausgewachsene Tiere jagten, aber diesmal Männchen und Weibchen. Die Ture haben einen jahreszeitlich bedingten Migrationszyklus, im Sommer zieht es sie in höhere Lagen, im Winter in niedrigere. Männchen und Weibchen versammeln sich in getrennten Herden, im Herbst schließen sich einzelne Männchen den weiblichen Herden an, wenn sie männliche Konkurrenten erfolgreich abwehren. Aber die Ture haben noch eine andere Gewohnheit, und diese machten sich die Neandertaler zunutze: Sie verwenden Jahr für Jahr dieselben Pfade. Als Ortvale Klde bewohnt war, vor etwa 50.000 Jahren, befand sich die Stätte in der Nähe des Aufenthaltsorts der Ture im Winter. Die Neandertaler mussten sich lediglich ein Versteck in der Nähe eines der Pfade suchen, die die Ture immer zur Migration benutzten, und sie aus dem Hinterhalt angreifen, wenn sie vorbeiliefen.14

Unser bisheriges Bild zeigt den Neandertaler als jemanden, der sich ausschließlich vom Fleisch der Tiere ernährt, die er gejagt hat, und das ist ziemlich sicher irreführend. Neandertaler, die in den kalten Gletscherregionen in Europa lebten, konsumierten viel, vielleicht sogar ausschließlich Fleisch, da es in ihrem Lebensraum nur wenige essbare Pflanzen gab. Aber nicht alle Neandertaler lebten unter solch extremen Bedingungen. Die Neandertaler von Ortvale Klde im Südkaukasus verfügten ziemlich sicher über eine ganze Reihe essbarer Pflanzen. Wir haben keine Überreste davon finden können, denn Pflanzen hinterlassen in solch alten archäologischen Stätten zumeist keine Spuren. Aber es gibt Ausnahmen. Eine von ihnen ist Kebara in Israel. Kebara ist eine Höhle auf dem Berg Karmel, nahe der Mittelmeerküste. Neandertaler lebten in dieser Höhle vor etwa 60.000 bis 48.000 Jahren, etwa zur selben Zeit wie in Ortvale Klde. Die Umgebung war indes ganz anders als die des Kaukasus oder Nordeuropas. Die Kebara-Neandertaler waren, wie alle Neandertaler, gute Jäger. Hier machten sie vor allem Jagd auf Gazellen, die für Paarhufer relativ klein sind, ganz ähnlich wie die Ture, und auf Damwild. Gazellen und Damwild machen etwa 80 % der tierischen Überreste aus, was auch auf eine Anpassung der Jagdstrategie hindeutet. Gelegentlich jagten die Kebara-Neandertaler auch Wildrinder und Wildschweine, potenziell gefährliche Gegner, was erneut auf die Bereitschaft der Neandertaler hinweist, sich wilden Tieren entgegenzustellen. Zudem sammelten sie Landschildkröten, die wahrscheinlich nicht ganz so wild waren. Auch wenn das Klima in Kebara ein wenig kühler und trockener war als heute, war es dennoch mediterran und sorgte für eine größere Vielfalt essbarer Pflanzen. Und die Kebara-Neandertaler verschmähten diese nicht. Hier hatten die Archäologen Glück. Viele pflanzliche Überreste waren in von den Neandertalern in der Höhle errichteten Feuerstellen verkohlt worden, und verkohlte Überreste haben eine viel bessere Chance, bewahrt zu werden. Archäologen bargen mehr als 4.000 verkohlte Samen, und 75 % davon waren Hülsenfrüchte (zumeist Erbsen). Daneben gab es in großer Zahl Pistazien und ein paar Eicheln. Hülsenfrüchte sind eine gute Proteinquelle, genau wie Nüsse, die gute Fettlieferanten sind. Es ist fast unmöglich zu bestimmen, wie wichtig diese für die Ernährung der dort lebenden Neandertaler waren, aber immerhin wissen wir so, dass Pflanzen durchaus auf dem Speiseplan der Neandertaler standen (wenn sie denn verfügbar waren). Die meiste Zeit nutzten die Neandertaler Kebara als Basislager im Winter und Frühjahr, als Wohnstätte, von der aus sie auf Nahrungssuche gingen und mit ihrer Beute heimkamen – ganz anders als die Situation in La Cotte, aber ebenso typisch für die Lebensweise der Neandertaler.15

Denken wie ein Neandertaler

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