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Gedächtnis

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Mit dem Gedächtnis und der Erinnerung ist es so eine Sache. Im Englischen hat sich schon vor Jahrzehnten die Informatik des Begriffs memory bedient, um die Speicherung und den Abruf von Daten zu bezeichnen, und dann wurde er mit Bits, Bytes und RAM aufgepeppt. Wenn Wissenschaftler heute von memory sprechen, auch im Sinne des menschlichen Gedächtnisses, denkt jeder sofort an eines: den Abruf von Daten. Die Metapher ist zur Bedeutung geworden. Der menschliche Datenspeicher funktioniert aber ganz anders als der des Computers. Zunächst einmal ist er alles andere als akkurat. Immer wenn wir eine Erinnerung abrufen, ist sie ein klein wenig anders als beim vorigen Mal. Deshalb sind Zeugenaussagen so unzuverlässig. Beim Gedächtnis kann man außerdem nicht vorhersagen, wie schnell es funktionieren wird; einige Erinnerungen sind sofort verfügbar, andere bekommt man einfach nicht richtig zu fassen (z.B. wenn einem etwas „auf der Zunge liegt“), und hin und wieder wissen wir, dass wir etwas wissen müssten, kommen aber einfach nicht darauf. Es gibt außerdem verschiedene Arten des Gedächtnisses, und aus kognitiver und neurologischer Sicht unterscheiden sie sich sehr stark voneinander.

Ein wichtiger Unterschied ist der zwischen Kurzzeitgedächtnis (oder Arbeitsgedächtnis) und Langzeitgedächtnis. Hierbei bedeutet kurz wirklich kurz, nämlich nur wenige Sekunden – ein klassisches Beispiel für das Kurzzeitgedächtnis ist das Nachschlagen einer Telefonnummer, an die man sich nur bis zur Eingabe ins Telefon erinnert. Wenn man diese Nummer nicht mehrmals im Geiste wiederholt, vergisst man sie. In gewisser Weise ist dies gar keine Erinnerung, sondern nur eine Information, der kurzzeitig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Dieses Phänomen werden wir noch gesondert behandeln, wenn es um das Planen geht. Für Informationen, die nach einem längeren Intervall abgerufen werden (nach Minuten, Tagen oder sogar Jahren), ist das Langzeitgedächtnis zuständig. Hier unterscheidet man wiederum nach semantischem und prozeduralem Gedächtnis. Das semantische Gedächtnis speichert Fakten, die man theoretisch auch mit Worten ausdrücken kann, z.B.: „Abraham Lincoln und Charles Darwin wurden am selben Tag geboren, am 12. Februar 1809.“ Die Erinnerungsspur existiert unter Umständen gar nicht in dieser Form, aber die Information selbst kann verbal ausgedrückt werden. Das prozedurale Gedächtnis speichert Erinnerungen darüber, wie man etwas tut: wie man eine Schraube anzieht, wie man auf dem Fagott eine F-Dur-Tonleiter spielt, wie man Auto fährt. Solche Erinnerungen kann man nicht einfach mit Worten ausdrücken, sie sind aber für die alltäglichen Abläufe unseres Lebens genauso wichtig, vielleicht noch wichtiger. Die Neandertaler nutzten zweifellos beides, wie alle Primaten, aber die Beschaffenheit und das Gleichgewicht beider sahen vielleicht ein bisschen anders aus als bei uns. Es gibt noch eine dritte Art Langzeitgedächtnis, die man manchmal zum semantischen Gedächtnis dazuzählt: das episodische Gedächtnis. Es speichert nicht nur Erinnerungen an bloße Tatsachen, sondern an bestimmte Ereignisse der eigenen Vergangenheit. Man bezeichnet es manchmal auch als autobiografisches Gedächtnis. Die Erinnerungen, die im episodischen Gedächtnis gespeichert werden, bestehen aus Tatsachen und bestimmten Bildern, aber auch aus dem Bewusstsein für die eigene Position im Kontext der Zeit (Autonoese) und der Wiederherstellung der mit dem Ereignis verbundenen Emotionen.25 Das episodische Gedächtnis kann man im Labor des Psychologen nur schwerlich untersuchen, aber es ist für den Menschen sehr wichtig, und es kann durchaus sein, dass seine Entwicklung bedeutende Konsequenzen für die menschliche Evolution hatte.

Wir wissen, dass die Neandertaler ein semantisches Gedächtnis besaßen. Wir werden im Moment noch darauf verzichten, in die Diskussion einzusteigen, ob die Neandertaler auch über Wörter verfügten (wir sind der Meinung: ja), und uns auf das eigentliche Gedächtnis konzentrieren. Die Neandertaler verfügten ganz offensichtlich über Erinnerungen wie „Nashörner = Beute“ und „Kaninchen = Beute, aber kaum der Mühe wert“ und „Es gibt in La Cotte eine Klippe“. Tatsächlich vermuten wir, dass die Neandertaler über eine große Menge solcher Informationen verfügten, die ihre direkte Umwelt betrafen – Informationen, die allen Neandertalern vermittelt wurden, während sie heranwuchsen und mit den Eltern und der Gruppe umherzogen. Es ist gut möglich, dass sie das meiste davon aus erster Hand lernten, durch Beobachtung und Erfahrung, anstatt durch verbale Vermittlung. Dass die Kinder der Neandertaler ein ebenso anstrengendes Leben führten wie ihre Eltern, lässt vermuten, dass sie mit ihnen mitzogen, sobald sie laufen konnten. Es gab bei den Neandertalern keine Spielgruppen und auch keine Schulen. Aber das bedeutet nicht, dass die Neuronen der Neandertaler vor der Verarbeitung dieser Informationen ein unbeschriebenes Blatt waren.

Der Mensch, und somit (weitergedacht) vermutlich auch der Neandertaler, weist von Natur aus bestimmte Tendenzen in der Art und Weise auf, wie er wahrnehmungsspezifische Informationen organisiert. Eine Tendenz, die wahrscheinlich auf frühe Primaten zurückgeht, ist die Fähigkeit, Gesichter zu erkennen und voneinander zu unterscheiden. Wir sehen Gesichter in so ziemlich allem, was vage einem Gesicht ähnelt (z.B. die Jungfrau Maria in einem verbrannten Toast), und wir tun dies schon sehr bald nach der Geburt. Unser Gehirn ist so beschaffen, dass wir dies können (mit den unteren Temporallappen am sogenannten Gyrus fusiformis). Aber Gesichter sind nicht alles. Unser Gehirn ist außerdem so beschaffen, dass es lebende von unbelebten Objekten unterscheiden kann. Wir nehmen Tiere ganz selbstverständlich als eine ganz bestimmte Kategorie von Objekten wahr, das brauchen wir nicht erst zu lernen. Und, was ein wenig kontroverser diskutiert wird, es scheint, als teilten wir Tiere (und Pflanzen) ganz selbstverständlich in taxonomische Gruppen ein. Die Taxonomie ist ein Klassifikationsschema, bei dem ein Objekt als Teil einer übergeordneten Gruppe von Objekten angesehen wird, z.B. {[(Löwe) – Fleischfresser] – Tier}. Die Menschen verwenden nicht alle dieselbe Taxonomie, aber sie verwenden alle irgendeine Form der Taxonomie. Offenbar sorgt unser Gehirn für die grundlegende Struktur, wenn wir über Tiere nachdenken, und durch Lernen füllen wir das Gerüst auf. Wir vermuten, dass sich dieses kognitive Element schon vor langer Zeit entwickelt hat, und vieles spricht dafür, dass es bei den Neandertalern besonders stark ausgeprägt war. Fast überall, wo wir gute Belege für Neandertaler bei der Jagd haben, hatten es Neandertalergruppen auf ein oder zwei Arten von Huftieren abgesehen, zumindest dort, wo dies möglich war. Dabei ging es ihnen nicht nur um die Größe der Tiere, sie konzentrierten sich generell auf eine kleine Auswahl von Spezies. Sie klassifizierten Huftiere ganz klar in einer bestimmten Art und Weise, die uns nicht unbekannt ist: {[(Tur) – essbares Huftier] – Tier} oder {[(Gazelle) – essbares Huftier] – Tier}. Eine der bemerkenswertesten Tatsachen bei den Neandertalern ist, wie wichtig ihnen diese Kategorien waren, viel mehr, als wir es vielleicht von modernen Jägern erwarten würden.26

Wir haben zahlreiche Belege für das prozedurale Gedächtnis der Neandertaler. Unsere besten Beispiele entstammen der Technologie, und wir werden diese ausführlicher in Kapitel 3 behandeln. Aber auch viele Aspekte des Jagens und Sammelns verweisen auf das prozedurale Gedächtnis der Neandertaler: wie man mit einem Speer zustößt und einen Kadaver zerlegt; wie man Tierkörper in einzelnen Teilen transportiert; wie man einer bestimmten Route folgt. Die genaue Kenntnis ihrer Umgebung speicherten die Neandertaler in ihrem semantischen Gedächtnis ab, aber das Wissen darüber, wie sie sich das Gelände zunutze machen und seine Ressourcen ausbeuten konnten, besaß eine stark prozedurale Komponente.

Episodische Erinnerungen nachzuvollziehen, ist um einiges schwieriger. Schließlich sind dies Erinnerungen an bestimmte Ereignisse, oft mit autobiografischem Charakter. Wir sind der Meinung, dass die Neandertaler, die in La Cotte die Mammuts über die Klippe trieben, sich daran wahrscheinlich ihr ganzes Leben lang erinnerten. Es war zweifellos ein dramatisches Erlebnis, voll Aufregung und sogar Angst – eben ein Erlebnis, wie man es schnell im episodischen Gedächtnis ablegt. Aber das können wir natürlich nicht beweisen. Später hat der Homo sapiens, wie wir durch archäologische Funde wissen, Dinge in Malereien festgehalten, die aussehen, als könnten es solche Erlebnisse gewesen sein. Die Neandertaler haben nichts produziert, was dem gleichkäme.

Denken wie ein Neandertaler

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