Читать книгу Denken wie ein Neandertaler - Thomas Wynn - Страница 14
Kognition
ОглавлениеWas enthüllt unser düsteres Porträt der Neandertaler über ihr Denken? Hat ihr hartes, gefährliches Leben sie die Welt auf eine ganz bestimmte Weise wahrnehmen lassen? Die folgenden Kapitel enthalten noch viel mehr Informationen über die Neandertaler, und im Zuge dessen werden sich einige ihrer Denkweisen herauskristallisieren. An dieser Stelle können wir nur ein paar Verallgemeinerungen über das Leben der Neandertaler bieten, die etwas darüber aussagen, was und wie sie dachten:
1. Neandertaler besaßen die Fähigkeit, Schmerzen, Beschwerden, Müdigkeit und Hunger auszuhalten – all das war Teil ihres Alltags.
2. Der Tod war für sie ein ewiger Begleiter; Neandertaler waren Tag für Tag mit ihrer eigenen Sterblichkeit konfrontiert. Später in diesem Buch werden wir zeigen, dass die Neandertaler ein Konzept vom Tod besaßen, und wir werden darlegen, dass sie über den Tod nachdachten.
3. Aufgrund der hohen Sterblichkeitsrate (wenige wurden älter als 40) bestanden Neandertalerfamilien nie aus mehr als drei Generationen.
4. Sie kannten zwischenmenschliche Gewalt.
5. Aber sie zeigten auch Mitgefühl und kümmerten sich um beeinträchtigte Individuen.
Diese fünf Verallgemeinerungen sind auf den ersten Blick nicht viel, aber sie sind immerhin ein Anfang. Wir können daraus auf ein paar kognitive und persönlichkeitsbildende Merkmale schließen:
1. Hartnäckigkeit: Neandertaler mussten in der Lage sein, ihre Aufgaben auch bei Schmerzen oder verminderter Leistungsfähigkeit zu vollbringen.
2. Vorsicht: Sie mussten von Natur aus vorsichtig sein und waren wahrscheinlich eher intolerant gegenüber Fremden. Das war die einzig sichere Art der Interaktion. Wir werden diesen Punkt in späteren Kapiteln weiter ausführen.
3. Liebe: Sie pflegten emotionale Bindungen zu Familienmitgliedern und anderen Individuen, die ihnen nahestanden. Irgendjemand muss Shanidar Nr. 1 gesundgepflegt haben, und irgendjemand bemühte sich mehrere Wochen lang, Shanidar Nr. 3 am Leben zu halten, wenn auch ohne Erfolg. Angesichts der harten Bedingungen des Lebens der Neandertaler ist dies ein Beweis für starke emotionale Bindungen.
Diese Eigenschaften sind nicht Neandertaler-spezifisch. Sie und ich besitzen sie auch. Es handelt sich dabei um grundlegende Denkprozesse, die wir alle miteinander teilen und die Zeugnis ablegen von unserer gemeinsamen Menschlichkeit. Nach Unterschieden müssen wir also woanders suchen.