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Der Fall „Kneek“

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Jetzt sind sie also hier im Odysseus, Phebe und Luna, wo sie sich neben ihrem Vater, dem alten von Kneek, an einem noch leeren Tisch niedersetzen. Ihr fragt mich, warum lässt sich der Herr Baron dazu herab, sein stolz auf der Höhe gelegenes Schloss zu verlassen, um sich mitten unter das Volk zu begeben - das gemeine Volk, wie man in seinen Kreisen zu sagen pflegt? Merkt er denn gar nicht, wie deplatziert er in einem Piergarten unter einfachen Bürgern wirkt? Ich meine, es ist doch genau so, wie wenn ein längst ausgestorbener Prachtvogel plötzlich wieder zum Leben erwacht und sich unter Schakale mischt, die für sein prachtvolles Gefieder, seine gewählten Manieren, sein vornehmes Auftreten gar keinen Blick besitzen, sondern ausschließlich darauf sinnen, wie sie sich auf ihn stürzen, um ihm die Federn auszureißen. Zum Beispiel entgeht mir keinesfalls, wie Saase, der vertrocknete Chemiker, der sein Pier gern selbst von der Theke holt, um es dann aus der Flasche zu trinken, seinem Nachbarn gerade etwas ins Ohr raunt. Natürlich ahnt er nicht, dass ich, obwohl ein Dutzend Schritte von ihm entfernt, die geflüsterte Bosheit sehr wohl verstehe.

Dass die Familie damals der Guillotine entkam, ist doch wirklich zu schade, sonst bliebe uns der Fall Kneek heute erspart!

„Der Fall Kneek“, ja, so nennen es die boshaften unter den Goldenbergern. Ich sollte den Fall in sämtlichen Einzelheiten mit der Zeit kennenlernen, denn er spaltet die ganze Stadt in zwei sich bitter befehdende Lager. Jeder wird den tief sitzenden Zwist auf Anhieb begreifen, wenn er, so wie ich, zweimal im Monat die Ehre genießt, oben im Schloss als Anstandsknabe zu dienen. Da lebt ein Herr aus früheren Zeiten mit seinen zwei apfelhäutigen Töchtern, die eigentlich - so jedenfalls sehe ich es - gar nicht aus Goldenberg stammen, dieser Stadt piersüchtiger Durchschnittsbürger, sondern von irgendeinem anderen, noch unbekannten Planeten. Wenn Ottokar von Kneek durch den Rittersaal schreitet, wo man zwar vergebens nach Rittern sucht, aber immer noch einen gewaltigen Eichentisch auf vier mächtigen Elefantenfüßen vorfindet, an dem die Familie sich mit ihren Freunden versammelt, dann ist das nicht anders, als wenn sich die Außerirdischen ein Stelldichein gäben, denn der Rittersaal strebt beinahe so in die Höhe wie das Schiff der Backsteinkirche, in der Frieda Torbrück ihre Verabredungen mit Gott und der Gemeinde hält. Die Frau Pastor lässt sich freilich von der Kanzel in die Höhe heben, erst dann blickt man zu ihr auf. Im Schloss ist das gar nicht nötig. Ich meine, ich spüre es ja an mir selbst, wenn ich den Saal betrete: Der Mensch wird von den aufstrebenden Wänden und der weit oben schwebenden Decke gleichsam in die Höhe gesogen, weit über sich selbst hinaus. Wer sonst klein ist, der wird dort groß, wer sich sonst duckt, der strafft unwillkürlich den Rücken, wer sonst unscheinbar ist, der ruft den Schein zur Hilfe, nur damit er vor den strengen Augen der von den Wänden argwöhnisch auf ihn herabblickenden Ahnen besteht. Die längst verblichenen von Kneeks auf all den schwarzen mit feinen Rissen wie von einem Spinnennetz überzogenen Gemälden haben den Gast unerbittlich im Blick, sie, die Toten, sind in Wahrheit die Erwählten, sie sind die Richter, in deren Zügen ich einen unbändigen Stolz und unbeugsame Macht erblicke, denn so ist es im Rittersaal: Noch im Tode dulden sie nichts Gewöhnliches in ihrer Nähe. Ich sage euch, dieser festlich geschmückte Raum duldet keine Alltagsmenschen, wie sie die Stadt bevölkern. Das Geschlecht der von Kneeks ist eine aussterbende Spezies, ein kostbares Andenken an verflossene Zeiten. Der Baron und seine Töchter sind ja die letzten ihrer Art.

Aber genau deswegen fragen sich ja alle: Warum in aller Welt begibt sich der Herr des Schlosses in Niederungen von der Art des Odysseus mit seiner pier- und zotengeschwängerten Luft? Im Grunde kommt er doch aus einer noch viel weiteren Ferne, als man das von mir sagen kann, dem schokoladenhäutigen Fremden. Mit seinen beiden rosenwangigen Töchtern ist er eine Fata Morgana, ein Trugbild, das sich dennoch bemüht, in diesen Niederungen Realität vorzutäuschen – ich finde das unverzeihlich.

Nicht nur, dass ihn hier unten das gewohnte Kleidungsstück nicht umkleidet, ich meine, der rote tunikaähnliche Mantel aus Samt, den er unter seinen Ahnen oben im Schloss zu tragen pflegt, ein prächtiger Mantel, der natürlich den Neid der kleinen Leute erweckt, selbst den des Herrn Bürgermeisters. Ein Schmierenkomödiant, hörte ich Bremme einmal bemerken, aber warum er das sagt, ist mir schon klar. Es ist dem Bürgermeister nur zu deutlich bewusst, dass der Baron einen so ungeschliffenen Menschen wie ihn niemals in den Rittersaal einladen würde.

Also, dass Herr von Kneek sich in eine Gesellschaft, wo man sich mit Pier, der flachsblonden Hure vergnügt, natürlich nicht in derselben Kleidung begibt, wie wenn er sich inmitten seiner erlauchten Vorfahren befindet, das kann ich durchaus verstehen. Schlimmer erscheint mir, dass er im Odysseus im offenen Hemd auftritt – niemals hätte er das im Angesicht seiner Ahnen gewagt –, diese Anbiederung an die Sitten des einfachen Volks ist in meinen Augen ein echter Faux Pas, lässt dieses nachlässige Auftreten den Herrn Baron doch zu einem gewöhnlichen Menschen schrumpfen - und das ist eine Herabwürdigung, an der auch der Umstand nichts zu ändern vermag, dass er über dem Hemd eine Anzugsjacke von sonnengelber Anmutung trägt. Die Farbe ist zweifellos originell, doch diese Besonderheit genügt nicht, um den Baron über die Durchschnittsmenschen des Odysseus hinauszuheben. Man braucht ja nur mitzuerleben, wie die Leute ihn angegafft haben, als er vor einer Woche zum ersten Mal in solcher Aufmachung in ihrer Mitte erschien! Im Schloss schlägt jeder die Augen nieder, sobald der Herr Baron sichtbar wird, hier im Odysseus wird er offen angestarrt, so wie man im Zoo ein seltenes Tier, sagen wir einen Panda oder einen Soldaten-Ara, bestaunt. Ein zufälliger Besucher hätte ihn aufgrund seiner grellen Jacke ja auch mit einem Kabarettclown verwechseln können oder mit einem nach Publikumsgunst gierenden Literaten!

Ach, beim Anblick der drei adligen Gäste überfällt mich noch stärkerer Schmerz. Mit innerem Beben muss ich mir eingestehen, dass die bloße Anwesenheit im Odysseus auch an Phebe und Luna nicht spurlos vorübergeht. Kaum haben sie sich auf einen der gusseisernen, grünen Stühle an einem der rohen Gartentische gesetzt, als sie sich sogar in meinen, sie so sehr verehrenden Augen verkleinern, ich meine, dass sie etwas von der Aura ihrer elfenhaften Unnahbarkeit, ihrer apfelhäutigen Unwirklichkeit, ihrem ätherischen Schmetterlingsdasein verlieren.

Wie hätte sich das auch vermeiden lassen, wenn sich so grobe Leute wie Bremme und der Chemiker Saase keine drei Meter entfernt von ihnen befinden, und Tautzig, der Mann mit der ewigen Zigarre im Maul, ganz in der Nähe blaue Ringel in die Runde bläst, der Zigarrenfabriksdirektor, der hier so gern und so oft den lauten Ton angibt? Jeder Mensch strahlt doch etwas von seinem Wesen auf die Umgebung und seine Mitmenschen aus, entweder sind es Farbe und Fröhlichkeit oder Tristesse, Anmaßung und mürrisches Wesen. Zwar ist beileibe nicht zu erkennen, dass der innen und außen völlig vertrocknete Saase zu einem helleren Menschen wird, wenn sich der Baron mit den zwei Himmelstöchtern am Nachbartisch niederlässt, aber auf dem Baron setzt sich sofort etwas von dem schmutzigen Grau und dem Schatten ab, von denen Tautzig und Saase ständig umgeben sind. Ich kann nicht leugnen, dass es dem Herrn von Kneek dabei ganz so ergeht wie einem Schauspieler, den man zuvor in seiner purpurnen Tunika auf der Bühne bewundern konnte, während man ihn anschließend mit nackter Brust und abgeschminktem Gesicht hinter den Kulissen gewahrt, erstaunt und enttäuscht zugleich, dass beide Gestalten zu ein und derselben Person gehören.

Also, es tut mir von Herzen weh, dem Herrn von Kneek im Odysseus begegnen zu müssen. Wie schlecht muss es um den Baron bestellt sein, so zuckt es mir durch den Kopf, wenn er es nötig hat, sich unter das Volk zu mischen, und noch dazu in einer derartigen Aufmachung!

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