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Knirzbein: Wie ein Zugereister das Rathaus erbeben lässt

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Das Komplott des Bremme-Clans war tatsächlich schon abgesprochen - hinter verschlossenen Türen versteht sich -, es fehlte nur noch das offizielle Votum des Stadtrats, da brachte, wie ich schon sagte, ein Auftritt von Knirzbein das ganze wohlgefügte Gebäude dieser Verschwörung ins Wanken. Und das war auf spektakuläre und völlig unerwartete Art geschehen.

Rein äußerlich gibt sich Knirzbein, der zugereiste Schriftsteller, als schwärmerische Natur zu erkennen, wie sie in Goldenberg überaus selten ist - eigentlich habe ich Ähnliches nur bei Dönnewat erlebt. Viel zu groß und merkwürdig leuchtend stehen zwei Augen in einem Gesicht, das eher schmal und länglich ist, alles in allem, so würde ich sagen, eine fledermausartige Physiognomie. Dieser Eindruck wird noch durch eine gewisse Zappeligkeit unterstrichen, die Knirzbein daran hindert, allzu lange auf ein und demselben Platz auszuharren, zumindest gibt er regelmäßig einer inneren Unruhe nach, die ihn dazu zwingt, sich plötzlich von seinem Platz zu erheben oder von diesem sogar aufzuspringen und einige Schritte hin und her zu gehen, bevor er dann neuerlich auf einem Stuhl niedersinkt. So kommt Knirzbein schon aus rein physiologischen Gründen als Teilnehmer an den hier üblichen Kartenspielen nicht in Betracht; außerdem ist er durch seine überaus schlanke, je geradezu dürre Figur zu einem Außenseiter gestempelt, denn die Mehrzahl der Bürger in dieser Stadt ist ja wohlbeleibt bis hin zur Bauchlastigkeit – diese Disposition kommt dem Dauersitzen bei einem Kartenspiel natürlich grundsätzlich entgegen.

Ich glaube, dass Knirzbein allein durch seine auffallende äußere Erscheinung und sein unruhiges Naturell von Anfang an verstörend auf die Eingeborenen wirkte, doch echte Empörung rief er durch die Tollkühnheit hervor, sich mit aller Entschiedenheit dem Vorhaben der Verschwörer um Bremme entgegenzustellen. Wie sich jeder vorstellen kann, der die Bürger Goldenbergs aus eigener Erfahrung kennenlernte, reagierten die Betroffenen darauf mit äußerster Heftigkeit.

Welches Recht, sagten sie, hat denn ein Besucher von außen, sich in die inneren Angelegenheiten der Stadt einzumischen? Knirzbein ist ja – das lässt sich keinesfalls leugnen - weder gebürtig aus Goldenberg noch jemals in dieser Stadt tätig gewesen. Tatsächlich befindet sich der Schriftsteller in dieser Hinsicht in der gleichen Lage wie ich, nur dass er wie alle übrigen Bewohner eine milchfarbene Haut aufweist, und das bleibt natürlich nicht ohne Folgen: Seine Äußerungen lassen sich nicht von vornherein als artfremd und abwegig vom Tische fegen.

Wenn ihr es wissen wollt: An Knirzbein könnt ihr studieren, was sie in einer Stadt wie Goldenberg mit einem Fremden machen, wenn sich keine Fürsprecher seiner erbarmen. Als der Schriftsteller nach kurzem Aufenthalt in der Stadt zum ersten Mal seinen Mund in aller Öffentlichkeit auftat – seine zahlreichen Bücher waren den meisten Eingeborenen ja völlig unbekannt, denn das Lesen von Gedrucktem gehört nun einmal nicht zu ihren typischen Leidenschaften -, wurde er niedergeschrien und beinahe aus dem Rathaus hinausgeworfen. So empört waren die Goldenberger über die Meinungsäußerung eines „wildfremden Eindringlings“, dass sie ihn, zumindest in Gedanken, am liebsten gestäupt und gefedert hätten, so wie das – ich beziehe mich da auf eine zuverlässige Quelle! – in ihrer Stadt noch wenige Jahrhunderte zuvor zu den üblichen Racheakten gehörte. Knirzbein hatte es nämlich gewagt, einen Ehrenmann und Wohltäter der Stadt, Direktor Tautzig, aufs Heftigste zu kritisieren, und zwar nachdem dieser auf der Versammlung mit lautem Ton und dem bräsigen Selbstbewusstsein des steinreichen Fabrikanten all die zu erwartenden Segnungen gepriesen hatte, welche die Stadt sich mit der Beseitigung des Stadtparks und der dann folgenden Errichtung eines Kaufhauses unfehlbar, wie er sagte, verschaffen würde.

Knirzbein meldete sich zunächst auf durchaus bescheidene Weise zu Wort. Goldenberg, sagte er, sei für viele Menschen, so auch für ihn, eine mythische Stadt, wie man sie sonst in unserem Land leider kaum noch finde. Vergangenheit und Gegenwart hätten sich hier auf glücklichste Weise zu einem Bündnis von Harmonie und Schönheit verschwägert, das ihn bei jedem seiner Besuche immer heimatlich überrasche. Hier könne man noch viele altehrwürdige Gebäude bestaunen, die aber keineswegs schäbig und hinfällig wirkten wie in anderen Städten, wo sie als vereinsamte Zeugen aus der Vergangenheit in einem grellen und lauten Heute gestrandet sind, heillos in ihrer Würde beschädigt, weil die neue Zeit ja in dummer und dreister Unwissenheit davon überzeugt sei, ohne Geschichte und Gedächtnis existieren zu können - nein, hier in Goldenberg bewahre man alles Vergangene sorgfältig auf, um der Zukunft Tiefe und Sinn zu geben.

Ich liebe diese Stadt!, so schloss Knirzbein den ersten Teil seiner Rede.

Man hatte diesen Ausführungen schweigend, verwundert und ungläubig gelauscht, überrascht von den schwärmerischen Gedanken eines Besuchers, der ihnen und ihrer Stadt offensichtlich das größte Wohlwollen entgegenbrachte. Auch Bremme nickte beifällig zu den Worten, und für Tautzig waren sie, obwohl er kaum etwas von ihnen verstand, doch eine Musik, die er gerne hörte, denn alles, was nach Werbung für sein geliebtes Goldenberg klang, war ihm selbstverständlich willkommen. Er hatte schon seinen Notizblock gezückt, um den Namen des Redners aufzuzeichnen.

Was das anwesende Publikum betraf, so war die Reaktion dem Redner nicht weniger günstig: Von allen Seiten wurde heftig geklatscht. In diesem Augenblick kam es allen Anwesenden noch wirklich so vor, als hätten sie es bei Knirzbein mit der Verkörperung des idealen Touristen zu tun, dessen Worte man druckreif in die Werbebroschüre der Stadt Goldenberg übernehmen könnte. Dass keiner der Anwesenden so recht begriff, was Knirzbein mit der Verschwägerung von Harmonie und Schönheit eigentlich sagen wollte, spielte dabei durchaus keine Rolle. Es waren die gute Absicht und das unzweideutige Bekenntnis zu ihrer Stadt, die einen tiefen Eindruck auf alle Anwesenden machten.

Zweifellos wäre der hergereiste Schriftsteller allen in bester Erinnerung geblieben, wenn er sich nach dem Beifall brav hingesetzt und die allgemeine Zustimmung in Ruhe genossen hätte; doch ein so bescheidener Rückzug schien der Absicht des zappeligen Schriftstellers gerade nicht zu entsprechen. Man konnte es schon an den fahrigen Bewegungen ablesen, die er beständig mit seinen Armen ausführte, und zwar nicht nur dann, wenn er redete, sondern auch in den Pausen zwischen den Worten.

Knirzbein setzte also zu einer weiteren Äußerung an:

Das Schloss, fuhr er fort, bilde neben der Kirche den historischen und, wie er deutlich zu sehen glaube, auch den geographischen Mittelpunkt dieser altehrwürdigen Stadt. Zwischen den beiden mit Bedeutung aufgeladenen Polen von Schloss und Kirche erstrecke sich ein prachtvoller Park von uralten Kastanienbäumen, geschmückt mit Rosenhecken und Glyzinienlauben, punktiert von verschwiegenen Winkeln, wohin sich der von der Unrast unserer Zeit getriebene Mensch wie in eine rettende Oase zurückziehen könne. Es sei dies aber glücklicherweise kein pedantisch gepflegter, kein von Planern und Designern künstlich gestylter Park, sondern ein von der Natur selbst aus Bäumen, Rosen und einem Teich wunderbar gefügter Fluchtpunkt, den die Geschichte in verträumter Planlosigkeit über Jahrhunderte heranwachsen ließ. Wenn er, Knirzbein, den Park betrete und sein Blick auf die Kirche falle, das Schloss oder die hochgiebeligen Bürgerhäuser, die den Park zu beiden Seiten umsäumen, dann höre er die Dichter der Vergangenheit reden, die Heiligen, die Irren, die Landsknechte, die Narren. Ja, genauso sei es: Sie würden sich aus ihren Gräbern erheben und mit der längst vergangenen Poesie ihrer Zeit zu ihm sprechen.

Was Knirzbein da den im Rathaus versammelten Goldenbergern erzählte, war natürlich sehr phantasievoll und, wie ich glaube, überwiegend metaphorisch gemeint, so wie es sich eben für einen Schriftsteller gehört, der gerne nach historischen Stoffen greift und dabei ins Träumen und Schwärmen gerät. Für die versammelten Bürger war die Kost aber doch gar zu ungewohnt, eigentlich unverdaulich. Schauten einige unter ihnen zunächst noch mit leerem Blick an die Decke, so begannen andere bereits damit, unruhig auf ihren Sitzen herumzurutschen und mit den Füßen zu scharren. Ich gehe davon aus, dass keiner der im Rathaus Versammelten jemals mit Heiligen oder mit Irren kommunizierte, wenn er oder sie den Stadtpark betraten - Bremme schon gar nicht, und auch dem Chemiker Saase sind derartige Gespräche mit Sicherheit fremd. Der Letztere stieß seinem Nachbarn sogar in die Rippen, schüttelte mit bösem Grinsen den Kopf und in offensichtlich beleidigender Absicht hob er den Zeigefinger dann an die Stirn – wie ich inzwischen weiß, ist das eine Geste, womit sie untereinander zum Ausdruck bringen, dass das Gehirn des Getadelten dringend der Reparatur bedürfe, denn dort seien „die Schrauben locker“ oder „nicht alle Tassen im Schrank“ - so pflegen sie es hier auszudrücken.

Dennoch wäre es auch jetzt noch zu keinem Eklat gekommen, hätte Knirzbein seine aufklärende, aber leider weitgehend unverstandene Rede an diesem Punkt abgebrochen. Man hätte dann eben von einem wunderlichen Schriftsteller gesprochen – was sollte man von einem solchen auch anderes erwarten? Die sind doch alle irgendwie komisch, wenn nicht verrückt – das ist die übliche Art, wie sie hier über Dichter und Schriftsteller reden! Aber Knirzbein brach an diesem Punkt keineswegs ab, nein, er „setzte noch einen drauf“ - und das war den im Rathaus Versammelten leider zu viel.

Der Park, sagte er, und seine Stimme schoss bei diesen Worten um fast eine Oktave in die Höhe – offenbar drang die Tollkühnheit seines Einspruchs auf einmal in sein Bewusstsein vor -, der Park darf auf keinen Fall abgeschafft werden. Wer ihn plattwalzt, ist ein Barbar!

Das hatten nun allerdings alle, und zwar augenblicklich, verstanden! Saase sprang von seinem Sitz so heftig empor, dass er ihn mit einem Krach nach hinten zu Boden warf. Bremme schlug vor Erregung mit der Faust auf den Tisch, oder was er für einen solchen hielt, denn vor ihm gab es gar keinen Tisch, sondern nur die sorgsam aufgetakelte Frisur der in der Reihe vor ihm sitzenden Dame, die einen schrillen Schrei ausstieß, als Bremmes Pranke ihr in die Haare fuhr. Tautzig war überhaupt außer sich, so dass ihm – was sonst niemals geschah – vor Empörung die Zigarre zwischen den Lippen zu Boden glitt.

Dieser Mann hat mich persönlich beleidigt, schrie er und machte Anstalten, sich auf den kleinen Knirzbein zu stürzen, der allerdings - in diesem Augenblick zu Recht von jähem Schreck erfasst - mit erstaunlicher Leichtfüßigkeit zum Ausgang sprang und den Tumult im Inneren des Saals danach gar nicht mehr mitbekam. Er war einfach verschwunden und blieb es übrigens auch während der drei folgenden Tage.

Die Flucht des Übeltäters brachte den allgemeinen Aufruhr freilich keineswegs zum Erliegen - zu ihrem Grimm und Erstaunen mussten Bremme und Co. erfahren, dass der fremde Schriftsteller eine Mine gezündet hatte, deren drohende Gegenwart bis dahin nur niemand wahrnehmen, geschweige denn öffentlich darauf hinweisen wollte. Gewiss hatten der Apotheker Julius, der Lehrer Dönnewat und natürlich viele andere Bewohner der Stadt schon vorher missbilligend den Kopf geschüttelt, wenn von der Zerstörung des Parks und dem künftigen Kaufhaus die Rede war. Sie wagten es aber nicht, ihren Unmut über den kleinen Kreis der Gleichgesinnten hinaus zu verbreiten, so groß und übermächtig schien das Lager der Fortschrittsfanatiker zu sein. Doch jetzt, als Knirzbein in wenigen Sprüngen dem Saal entflohen war und Tautzig sein „Nun gerade!“ in die Versammlung brüllte, erlebten die Freunde des Apothekers zu ihrer freudigen Überraschung, wie das Blatt sich zu wenden begann, denn Frieda Torbrück, die Frau Pastor, trat vor die Versammlung und mahnte mit ausladender Geste, wie man sie sonst nur auf der Kanzel von ihr kannte, zur Ruhe. Was die Bürger dann von ihr zu hören bekamen, war überaus seltsam und ist es bis heute geblieben:

Ihr wisst, liebe Mitbürger, Gott ist allgegenwärtig, zu jeder Zeit ist er unter uns, Gott ist zugleich Gegenwart und Vergangenheit. Der Fremde hat recht: Wenn wir in Goldenberg das Alte nicht bewahren, werden wir auch das Heute verlieren.

Da fassten sich der Apotheker Julius und der Lehrer Dönnewat plötzlich ein Herz – sie waren so kühn, zu den Worten der Frau Pastor kräftig zu klatschen, obwohl das ein Akt von Hochverrat war, denn es ließ sich ja durchaus nicht leugnen: Damit hatten sie und die Torbrück sich eindeutig gegen Bremme und Tautzig gestellt. Aber es gab sogleich noch eine weitere Überraschung: Auch von der Mehrheit der übrigen Anwesenden wurden sie und die Gottesfrau keinesfalls ausgepfiffen, wie sie befürchtet hatten, sondern es geschah, was niemand erwartet hatte: Neben, hinter und vor ihnen bekundeten auch andere ihren Beifall; nach einigen Sekunden des ungläubigen Erstaunens war es allen klar, dass es eine Mehrheit war, die da klatschte und offensichtlich auf ihrer Seite stand. Gleich danach kam es sogar zu einer Art von Zusammenrottung: Die beifällig Klatschenden scharten sich um die Torbrück, den Apotheker Julius sowie die beiden Lehrer.

Der Park muss gerettet werden, er muss gerettet werden, flüsterten sie.

In den Annalen der Stadt Goldenberg verdient dieses durch Knirzbein losgetretene Ereignis mit einem roten Eintrag vermerkt zu werden, denn seitdem zerfiel, wie ich schon sagte, die Bürgerschaft in zwei einander bekämpfende Lager, die sich bis zum heutigen Tag unversöhnt gegenüber stehen. Diese Vorgeschichte müsst ihr kennen, wenn ihr verstehen wollt, warum der so plötzlich auf die Gäste im Odysseus niederdonnernde Regen, der sie alle aus dem Garten vertrieb, den tiefen Riss zwischen ihnen gleich wieder sichtbar macht. In der eben noch leeren Halle scharen sich die Feinde des Parks – die Barbaren, wie Knirzbein sie damals taufte - um Bremme und die Zigarre, ich meine Tautzig, der auch heute und überhaupt in jeder Lebenslage den glühenden Stängel nicht aus dem Maul bekommt. Die anderen scharen sich um den Baron und seine zwei Töchter. Nur durch eine Tischplatte voneinander getrennt, sitzen sie sich jetzt gegenüber wie zwei Heere, die nur auf das Fanal warten, um die Salven gegeneinander abzuschießen. Knirzbein ist auch dabei oder, besser gesagt, ist er nun wieder dabei. Nachdem er nämlich nach seiner Rede im Rathaus voller Schrecken über die eigene Courage aus der Halle geflohen war, hatten Dönnewat und Julius ihn im Stadthotel zum „Lächelnden Löwen“ aufgesucht, wo er sich die ersten drei Tage nach seinem Auftritt verborgen hielt.

Sie schätzten sich glücklich, so sagten sie, einen so bedeutenden Mann der Dichtung in ihrer Mitte zu wissen.

Das war nun freilich gelogen, denn in Wirklichkeit hatte nur Dönnewat einen flüchtigen Blick in seinen viel gerühmten Roman „Der Zero-Mensch“ geworfen, als Lehrer hatte er die Lektüre als seine Pflicht erachtet, Julius aber befasste sich fast nur mit heilkundlichen Texten, wozu sich manchmal eine magere Prise Poesie gesellte, aber nur wenn ihm nach einer solchen Zutat zumute war. Beide sprachen aber die Wahrheit, als sie Knirzbein dafür rühmten, durch sein entschiedenes Auftreten im Rathaus ihnen und vielen anderen Goldenbergern die Zunge gelöst zu haben. Nun sei die Zeit endgültig vorbei, da sie sich von Leuten wie Bremme und Tautzig herumkujonieren und zum Schweigen verurteilen ließen. Dank Knirzbeins mutigen Auftritts sei eine neue Zeit in Goldenberg angebrochen; von nun an würden sich die Bürger wieder auf die ererbten Heimatwerte besinnen.

Die Leiden des Schwarzen Peters

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