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Wie der Fortschritt der Tradition an den Kragen fährt

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Meine trüben Gedanken – im Nachhinein möchte ich sogar von einer Vorahnung sprechen - werden noch dadurch verstärkt, dass gerade in diesem Augenblick ein düsterer Schatten auf Bäume, Gäste und Laube fällt. Die Gläser auf den Tischen, einschließlich des großen Humpens, den der adlige Gast geordert hat, saugen Dunkel in sich hinein, verlieren ihr goldenes Funkeln ganz ebenso wie die beiden schlanken Apfelsaftgläser, die ich kurz zuvor vor Luna und Phebe abgestellt hatte. Eine dicke, schwarz umrandete Wolke hat sich dreist vor die ohnehin schon dem Untergang zugeneigte Julisonne geschoben. Die ganze den Eingang zur nahezu leeren Pierhalle überwölbende Rosenlaube mit ihrem eben noch rot glühenden Blütenglanz versinkt in einem freudlosen Grau, viel schlimmer aber kündigt sich der weitere Verlauf der plötzlichen Verdüsterung an, weil der dunkle Bauch einer gerade über den Kastanien hängenden Wolke, schwanger mit unzeitigem Regen, große platschende Tropfen mit erstaunlicher Schnelligkeit auf uns herabprasseln lässt. So überraschend erfolgt die Attacke, dass den Skat spielenden Herren am größeren Tisch kaum die nötige Zeit übrig bleibt, um die Karten zusammenzuraffen, nach den Humpen zu greifen und in wilder Hast durch den auf einmal unheimlich düsteren Laubengang ins Innere der Pierhalle zu entfliehen. Ich selbst weiß natürlich, was in solchen Momenten zu tun ist: Zuerst greife ich nach dem Humpen, den ich kurz zuvor dem Baron serviert hatte, dann sammle ich die beiden Apfelsaftgläser vor Phebe und Luna ein und bahne den drei von Kneeks wie ein dienstfertiger Herold den Weg in die schHalle. ﷽﷽en Gläser mit Apfelsaft zur Hand und bahnte den drei von Kneeks wie ein dienstfertiger Herold den Weg in die schch nahützende Halle, während in unserem Rücken der schwere Juniregen schon laut trommelnd auf die Steinplatten des Bodens schlägt und der Wind die Kronen der Kastanien peitscht – mit so großem Ungestüm, dass er sich dabei in plötzlicher Wut zu einem unfreundlichen Heulen versteigt. In der Halle lässt meine Chefin Hilda freudloses Neonlicht aufflammen; die großen Piergläser glimmen im Widerschein, aber er ist nicht golden wie in der Sonne, sondern nur kalt, matt und kraftlos.

Der unerwartete Sturm bläst nicht nur die friedliche Ordnung der Natur durcheinander, er bläst auch durch die Seelen, rührt die Gedanken auf, die sich nur scheinbar gesetzt und beruhigt haben, denn - ich sagte es ja schon - in Wahrheit spaltet ein mächtiger Streit die Goldenberger, ein Streit zwischen Schloss und Rathaus, möchte ich sagen, dessen Protagonisten, vom Sturm in die Halle getrieben, sich hier auf einmal von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Draußen unter der heißen, die Gedanken einschläfernden Junisonne hatte man die Form noch gewahrt, vermutlich wäre gar nichts geschehen, die einen hätten ihre üblichen Intrigen gesponnen, die anderen ihre Pläne so leise ausgesprochen, dass der Abend ohne äußere Aufgeregtheit mit Kartenspiel, Scherz und Zoten genauso verlaufen wäre wie andere Abende zuvor. Der Sturm aber hat die falsche Gemütlichkeit fortgeblasen. Es trifft sich so, dass alle sich auf einmal an ein und demselben Tisch zusammenfinden – und dieser Umstand allein reicht natürlich schon aus, um das in den Köpfen schwelende Feuer anzufachen.

So habe ich denn auch gleich an einen Film denken müssen, den ich einige Tage zuvor auf dem Fernsehschirm miterlebte. Auf eine mit gelbem Sand bestreute Arena in einer fernen Stadt, deren Namen mir leider entfallen ist, wurde ein Stier getrieben. Zunächst war er ganz allein, sprang mit gesenkten Hörnern über die Bahn, stieß hier und dort gegen die hölzerne Reling. Tausende von Augen waren von den Zuschauertribünen auf ihn gerichtet, aber er blieb allein - zwischen ihm und der umgebenden Welt gab es keine Gemeinsamkeit, obwohl alle Augen einzig auf ihn geheftet waren. Doch dann traten seine Gegner in die Arena, sie kamen durch eine Seitenpforte. Der eine schwenkte ein rotes Tuch, das würde sein Todfeind sein, die anderen eilten mit messerbewehrten Stöcken herbei, um den Bullen zu reizen.

Ich wusste, dass der Baron im Rathaus keine Freunde hat, in ganz Goldenberg stehen überhaupt nur wenige Bürger auf seiner Seite. Er sei ja doch ein Auslaufmodell, die neue Zeit kenne keinen Adel und keine Privilegien, das seien die Dinosaurier unserer Zeit, die in Goldenberg nichts mehr zu suchen hätten – so ist hier allseits zu hören. Bremme, der Bürgermeister, ist jedenfalls der Mann mit dem Degen, den es jederzeit in den Fingern juckt, dem Stier den tödlichen Stich zu versetzen; Saase ist der Mann, der den Bullen mit seinem messerbewehrten Stock reizen soll. Und die ewig qualmende Zigarre mit dem runden Kopf, ich meine Tautzig? Der versäumt überhaupt keine Gelegenheit, böswillig gegen den „verknöcherten Aristokraten“ zu löcken.

Der Schlosspark gehört plattgemacht, niedergewalzt, pflegt Tautzig jedem zu sagen, der es hören will, ebenso wie jedem anderen, der davon nichts wissen will, denn Tautzig nimmt niemals ein Blatt vor den Mund. Meistens setzt er dann noch hinzu:

Goldenberg braucht keinen Baron und schon gar keinen Schlosspark. Da werden wir ein schönes, modernes Kaufhaus hinsetzen, damit unsere Stadt und unsere Bürger endlich was richtig Fortschrittliches aus sich machen.

Dazu pafft Tautzig dann einen blauen Kringel aus dem Zigarrenstängel und ist sichtlich mit sich zufrieden. Man könnte meinen, er wäre schon als Säugling mit diesem Lutscher auf die Welt gekommen oder hätte sich für den Rest seines Lebens einen Ersatz für die Mutterbrust gesucht.

Noch viel rühriger ist Bremme, der eigentliche Feind des Barons: Er lässt keine politische Veranstaltung aus und kein Bürgerforum, ohne gegen den Schlossherrn zu eifern und die ganze, wie er es nennt, verzopfte Vergangenheit. Er und der alte Tautzig haben sich in der Gasthalle bereits niedergesetzt, wobei es niemandem entgehen kann, dass der bleiche Chemiker Saase ebenso zu ihrem Clan gehört wie Torsten Spinnebeck, Eigentümer des „Goldenberger Stadtboten“, des wichtigsten und einzigen täglich erscheinenden Blattes, das Spinnebeck selbst ebenso wie seine Freunde gern als „Sprachrohr des Fortschritts“ bezeichnen. Die vier Herren haben sich bereits an die eine Seite des Tisches gesetzt.

Auf der anderen Seite, wo sich der Herr Baron und seine Töchter Phebe und Luna niederlassen, finden sich diejenigen zusammen, die den Stier bewundern, ihn wie eine kostbare, vom Aussterben bedrohte Art auf jeden Fall der Nachwelt erhalten wollen, weil er, wie sie meinen, zu Goldenberg doch ganz genauso gehöre wie die Kirche, das Schloss und der Park mit dem Teich, den Rosen und den schönen alten Kastanienbäumen. Zu diesen Freunden des Herrn von Kneek zählen der Apotheker Julius, der Lehrer Dönnewat und sogar sein Kollege, der grimmige Trimmelsbaum, der Schriftsteller Knirzbein, aber auch die Frau Pastor, obwohl Letztere sich stets bemüht, jeder eindeutigen Stellungnahme auszuweichen, da sie - wie sie stets zu betonen pflegt - für alle Schäfchen Goldenbergs zuständig sei – auch für die schwarzen, so habe ich sie einmal murmeln gehört.

Etwas später - der Regen ist da schon nahezu abgeklungen und jenes furchtbare Ereignis steht nahe bevor, welches ganz Goldenberg aufwühlen wird -, stößt auch Goldenbergs Polizeihauptmann, Fritzi Knarr, zu der Gruppe, aber darin liegt nicht mehr als ein Zufall, denn auch der Hauptmann hält sich grundsätzlich aus allen Streitigkeiten heraus.

Die Leiden des Schwarzen Peters

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