Читать книгу Die Leiden des Schwarzen Peters - Till Angersbrecht - Страница 6
Eine käsefarbene Runde
ОглавлениеIch habe es, so glaube ich, recht schnell begriffen, weil ich meine Mission, euren Auftrag, sehr ernst nehme und ihn in aller Gewissenhaftigkeit erfülle: Keine Gelegenheit lasse ich mir entgehen, um tiefer und tiefer in die Psyche der Eingeborenen vorzudringen. Deshalb musste ich mich natürlich auch in das Haus vorwagen, dessen glitzernde Spitze bis zu Tisch drei, Platz zwölf zwischen den Kronen zweier Kastanien wie ein erhobener Zeigefinger zum Odysseus herunterblinkt. Dieses Haus ist die meiste Zeit, ja eigentlich die ganze Woche mit Ausnahme des Sonntags und der Feiertage, nichts anderes als eine mächtige, von roten Backsteinwänden umschlossene Leere, die freilich von oben durch ein spitzes Dach vor Regen und Unwetter bewahrt wird. Merkwürdigerweise tritt diese Leere in Gestalt eines weit über das Land hinausschauenden Turms überaus selbstbewusst in Erscheinung, was zusätzlich noch dadurch bekräftigt wird, dass sie sich an besagten Sonn- und Feiertagen mit dröhnendem Glockengetöse bemerkbar macht. So weit mir inzwischen bekannt, wird der gewaltige Hohlraum gewöhnlich nur von Unsichtbaren bewohnt, die dort aber nur selten verweilen, ich meine, weil es ja viele derartige leerstehende Bauten in ihrem Lande gibt, wo die Unsichtbaren nach den Regeln der Logik doch keinesfalls zur gleichen Zeit präsent sein können! Deshalb wird das steinerne Gehäuse im Grunde nur einmal pro Woche von irdischen Wesen genutzt, nämlich den Goldenbergern, die dann der klagend-anklagenden Stimme der Frau Pastor lauschen.
Mir fällt es immer noch schwer zu begreifen, warum ein Haus, das allenfalls einmal in der Woche - und auch dann nur für wenige Stunden - bewohnt wird, eine so gewaltige Größe aufweisen muss, während die Wohnstätten der Stadtbewohner im Vergleich dazu geradezu winzig sind? Geht es vielleicht nur darum, der Frau Pastor einen Ort für ihre wundersame Verwandlung zu bieten? Diese selbst, ich meine, die Verwandlung, ist ganz unbestreitbar – ich war in dem Haus, ich habe es mit eigenen Sinnen erlebt. Sobald sie die Kanzel bestiegen hat und dann drei Meter über dem Boden und den Köpfen der Menge schwebt, wird der gewaltige Raum zu einem großen widerhallenden Körper, in den sie ihre metallisch gehärteten Worten wie die schweren, glänzenden Schläge eines Gongs hineindonnern lässt – mitten in die Seelen der Lauschenden.
Hier im Odysseus ist die Pastorin allerdings eine ganz gewöhnliche Frau, selbst der Anblick „ihrer“ Kirchturmspitze und wie diese so schön in der Nachmittagssonne glitzert, vermag sie nicht so zu verwandeln, dass sie Bremme gegenüber ihrer Forderung das nötige Gewicht zu geben vermöchte. Hier im Odysseus ist sie so unscheinbar wie jeder andere auch, ihre Stimme wird eben nicht durch einen Resonanzkörper aus roten Backsteinen verstärkt, hier blickt ihr der große Geist nicht über die Schulter, um ihr das richtige Wort ins Ohr zu flüstern. Bürgermeister Bremme neigt jedenfalls nur bedachtsam den großen Kopf. Mit dem durchtrainierten Gespür des erfahrenen Politikers für Ansinnen, die er ernst nehmen, und solche, die er getrost überhören darf, ist er sich sofort darüber im Klaren, dass ein beifälliges Nicken, das ihn zu nichts verpflichtet, in diesem Fall eine hinreichende Antwort sei.
Wir sind eine christliche Stadt!, sagt Bremme und unterstreicht diese Aussage mit einem kollegialen Lächeln, ich sage Ihnen, eine durch und durch christliche Stadt. Am Tag des Jüngsten Gerichts werde ich dort oben voller Stolz die Stadtbilanzen vorlegen. Sie können mir glauben, meine liebe Frau Torbrück, dass alle Posten vollkommen in Ordnung sind. Auch Sie sind bestimmt nicht zu kurz gekommen. Ich darf behaupten, meinem Herrgott mit gutem Gewissen gegenüber zu treten.
Liebes Komitee, ihr wisst, dass ich eine sensible Natur bin und es mich daher eine gewisse Anstrengung, ja Überwindung kostet, dem Herrn Bürgermeister ins Gesicht zu schauen, weil mich sein Kopf einfach zu sehr an eine hier beliebte Feldfrucht erinnert, ich sagte schon, dass einige dieser Früchte sich einer nahezu perfekten Kugelform erfreuen, andere sehen dagegen wie ausgefledderte Bälle voller Tumore und Buckel aus – und nach dieser Spielart ist leider der Schädel des Herrn Bürgermeisters geraten, der nur einmal einen liederlich geschälten Eindruck macht, weshalb die Augen eines empfindsamen Betrachters – ich meine in diesem Fall meine Augen – von vornherein unschlüssig sind, wohin sie sich wenden sollen: auf die käsebleichen Stellen seiner Nase und Wange oder den schwarzen Pelz von Bart und Haaren, der sozusagen die ungeschälten Partien repräsentiert. Ich kann euch versichern: Beides ist gleich unerfreulich.
Wenn ich Bremme sehe – und der Herr Bürgermeister erscheint ja recht oft im Odysseus -, bleibt mir überhaupt nichts anderes übrig, als immer an die verdammten Kartoffeln zu denken, wenn ich aber andererseits eine Kartoffel erblicke – und das ist leider täglich der Fall, weil ich in dieser Stadt ja sonst elend verhungern würde – dann sehe ich alsbald den Bürgermeister vor mir: Kein Wunder, dass mein Appetit dadurch empfindlich gestört wird, zwischendurch kommt es mir manchmal beinahe so vor, als würde ich einen Einheimischen verspeisen.
Ist das nun eine Überempfindlichkeit meinerseits, bin ich vielleicht zu feinnervig für diese Welt? Hättet ihr mich niemals nach Goldenberg schicken dürfen? Vielleicht. Mit den verschiedenen hier angebotenen Käsesorten ergeht es mir nämlich ganz ähnlich. Auch von dieser Seite wird mein Appetit attackiert, weil nämlich zwischen dem Käse und den Einwohnern dieser Stadt ebenfalls ein unbestreitbarer Zusammenhang besteht. Oberflächlich betrachtet, gehören die Goldenberger der weißen Rasse an - so jedenfalls pflegen sie selbst zu sagen -, doch kommt mir diese Selbstbeschreibung inzwischen ziemlich dürftig und ungenau vor; viel richtiger scheint es mir, sie als eine Kollektion wandelnder Käsesorten zu sehen. Ganz wie bei diesen Milchprodukten changiert die Haut der Einheimischen nämlich zwischen parmesanartigem Gelb bis hin zum bleichen Schlagsahneweiß; manchmal fühle ich mich bei ihrem Anblick auch an den mondkalten Schnee erinnert. Der Anblick tut mir, ehrlich gesagt, nicht sonderlich gut, obwohl ich mich mit der Zeit und notgedrungenerweise langsam an ihn gewöhne. Das Käsegelb mancher alter Gesichter verstört mich, das Schneeweiß dagegen wirkt sogar noch schlimmer auf meine Gefühle – ich meine, so anheimelnd wie ein Leichentuch.
Ob ihr es glaubt oder nicht, liebe Auftraggeber, liebes Komitee, liebe Stammesgenossen: Schon in den ersten Tagen nach meiner Ankunft habe ich mich abends nackt vor den Spiegel gestellt und mich ausgiebig von unten bis oben betrachtet. Voller Dankbarkeit gegen den Schöpfer habe ich ihn dafür gepriesen, dass er meiner Haut die edle Tönung einer aufgehellten Schokolade verlieh. Welch ein Genuss, welch eine Erholung, welch eine Wohltat für ein kunstsinniges, auf Harmonie bedachtes Auge!
Natürlich gebietet mir die Höflichkeit gegenüber den Eingeborenen Goldenbergs, dass ich aus meinem Herzen eine Mördergrube mache - mit anderen Worten, verrate ich ihnen nichts von meinen Empfindungen, aber in Wahrheit bedaure ich sie. Sie nennen sich, wie schon gesagt, die weiße Rasse, andere drücken sich mit einem Fremdwort aus und sprechen von weißer „Ethnie“, was, wie mir scheint, dasselbe heißt, aber Unrecht haben sie dennoch in jedem Fall, denn sie sollten sich eher als die Schnee-, Milch- oder Käserasse bezeichnen, und sollten und müssten dann eigentlich auch gestehen, dass hier eine Abweichung von der Norm vorliegt, eine Verirrung der Natur, möchte ich sagen, die - wie den Eingeweihten seit langem bekannt - nur in den unwirtlichen Teilen des Globus entstehen konnte, ich meine dort, wo Schnee, Eis und Kälte dem Menschen die Lust am Dasein derart vergällen, dass eine Frau wie Frieda Torbrück, die Pastorin, eben überhaupt nicht mehr lachen kann.
Nein, das sage ich ihnen nicht ins Gesicht – ich will mir ja keine Feinde machen -, aber es sollte ihnen doch eigentlich bekannt sein, dass der Mensch aus Afrika kommt, und dort hätte er auch bleiben sollen, weil ihn die Natur nur auf diesem glücklichen Kontinent so üppig mit Wärme versorgt, dass er das alte Affenfell von sich werfen und sich in seiner haarlosen Nacktheit trotzdem pudelwohl fühlen konnte, und zwar geschmückt mit einer prächtig glänzenden, samtigen, schokoladebraunen bis ebenholzschwarzen Haut. Was hat ihm, möchte ich euch fragen, nur den Spleen eingegeben, von welcher Gier wurde er damals getrieben, als er die heiteren Savannen verließ, um sich in Richtung Norden aufzumachen? Dort, in den frostigen Zonen, hatten sich doch längst andere Bewohner niedergelassen; das furchtbare Mammut zum Beispiel, die grässlichen Säbeltiger und ähnliche Ungeheuer. Um nicht von ihnen verspeist zu werden, griff der Einwanderer zur bewährten Taktik der Evolution. Er praktizierte Mimikry. Um in den schneebedeckten Weiten nicht aufzufallen, ich meine, um für seine Feinde möglichst unsichtbar zu sein, wurde seine schöne braune Haut zunächst blasser, dann wurde sie bleich bis käsefarben, bis sie am Ende so leichenweiß war wie der Schnee.
Nein, schöner ist der Afrikaner dabei gewiss nicht geworden! Wenn ihr euch durch eigenen Augenschein davon überzeugen wollt, dann blickt doch den Bremme an! Er wurde auch keineswegs glücklicher. Wenn ihr mir das nicht glaubt, dann schaut doch die Torbr ein leichter Wind aber verhindert, dass die Hitze drückend wurde, überhaupt war das in nsekten, ein leichter Wind aber verhin dück an! Ich für mein Teil wundere mich überhaupt nicht, dass bei manchen Völkern Weiß als Farbe des Todes gilt.
Aber zurück zu der hier versammelten Runde! Während Bremme und Torbrück ihren knappen Wortwechsel führen, haben sich schon andere Gäste um den eichenen Tisch versammelt. Meine Aufgabe besteht darin, jedem von ihnen eines der großen goldblinkenden Gläser vor die Nase zu stellen. Die Sonne bricht an diesem Märztag hin und wieder zwischen den Wolken durch, dann bringt ihr Strahl die Gläser zum Funkeln und küsst meine Haut mit einem Hauch von Wärme, aber zwischendurch fährt der Westwind durch die Laube und lässt mich erschauern. Es kommt mir vor, als würde der Wind mit seinen kalten Fingern mir bis ins Mark unter die Haut vordringen, obwohl ich doch über dem Hemd die rotkarierte Uniform des Odysseus trage. Ich sage euch, dieses Wetter ist wirklich ein Grund, um mein eigenes und das Los der Eingeborenen zu beklagen.