Читать книгу Die Leiden des Schwarzen Peters - Till Angersbrecht - Страница 4
März, 6 Monate vor Erbauung des Gump; Seelentemperatur: witternder Leopard; Geisterkontakt: stumm; Witterung: kalt in die Knochen ziehend.
ОглавлениеWäre in Goldenberg ein Meteorit vom Himmel gefallen, laut zischend und mit der Schleppe einer lodernden Feuersbrunst, hätten die Eingeborenen wohl kaum stärker in Erregung geraten können als durch mein plötzliches Erscheinen. So einen wie mich hatten sie in ihrer Stadt noch nie gesehen, ein Wesen zwar durchaus ähnlich gebaut wie sie selbst, mit zwei schlanken Armen, zwei kräftigen Beinen, einem Rumpf in den üblichen Proportionen und einem Kopf, der nun allerdings einen radikalen Unterschied demonstrierte und es ihnen verbot, mich mit einem echten Goldenberger zu verwechseln. Meine Haut ist schwarz, nicht pechschwarz - darauf möchte ich mit allem Nachdruck bestehen -, nein, schokoladenfarben, was doch eine viel distinguiertere Tönung ist und unter den Einheimischen, wie mir später zu Ohren kam, zunächst Zweifel erweckte, ob meine Farbe wirklich vollkommen waschecht sei oder nicht mit der Zeit verblassen würde, ich meine, unter dem Einfluss ihrer sehr ungnädigen, in meinen Augen sogar unanständigen Witterung, wo peitschender Regen und grimmiger Sturm keine Seltenheit sind. Dann würde ich, so ihre Vermutung, ihnen mit jedem Jahr etwas ähnlicher werden.
Hohes Komitee, ehrwürdiger Ältestenrat, ich möchte gleich zu Beginn meines Berichtes betonen, dass mich die Goldenberger mit vorzüglicher Freundlichkeit empfangen und bei sich aufgenommen haben. Gleich am zweiten Tag nach meiner Ankunft luden mich die führenden Vertreter der Stadt, Bürgermeister Bremme, die Frau Pastor Frieda Torbrück, der Apotheker Julius und wie sie alle heißen, ins Odysseus am Rande des Schlossparks ein – nein, nicht ins Schloss selbst, der Herr Baron von Kneek lässt sich nicht überrumpeln. Aber das Odysseus ist in Goldenberg ja auch eine hervorragende Adresse, dort kommen die Honoratioren, an Feiertagen auch die einfachen Bürger, nach der Arbeit zusammen; dort reden, spaßen, lachen, streiten und „philosophieren“ sie – so nennen sie es jedenfalls, wobei ich mir aber bis heute über den Sinn dieses seltsamen Wortes nicht recht im Klaren bin. Ich mutmaße, dass ihr Philosophieren mit diesem goldglänzenden Getränk zusammenhängt, das sie im Odysseus in großen Mengen genießen: Erst dann beginnen sie mit dem „Philosophieren“.
Von Natur aus sind die Goldenberger übrigens so neugierig wie alle anderen Menschen - sehr neugierig sogar, was ich aus eigener Erfahrung bezeugen kann. Ich will nicht sagen, dass sie den Meteoriten, der da ohne Vorwarnung in ihre Stadt und ihr wohl behütetes Leben platzte, mit offenen Mäulern und aufgerissenen Augen umringt, bestaunt und den Körper des Fremden, meinen Körper, betastet hätten. Nein, so weit gingen sie nicht, sie wissen sich zu benehmen. Als ich in Begleitung des Bürgermeisters – ich sagte schon Bremme, Gustav Bremme - durch das Stadttor und anschließend durch die Gasse ihrer zu beiden Seiten hochaufschießenden Häuser ging - wie unheimliche Riesenschachteln aus Stein erscheinen mir ihre Behausungen - kam mir der Ort im ersten Moment wie eine Geisterstadt vor, so tot und genauso verlassen. Da gab es nur diese Handvoll Leute, die zu meiner Begrüßung erschienen waren.
Wozu stehen sie hier, ging es mir durch den Kopf, all diese mächtigen, quaderförmigen Schachteln, wenn alles doch unbewohnt ist und den trostlosen Eindruck vollkommener Leere macht? Aber nein, hoher Rat, da habe ich mich geirrt. Während ich noch mit dieser ersten Ernüchterung kämpfte und meine Augen ziellos an den Häuserfassaden in die Höhe schweiften, bemerkte ich auf einmal, dass überall hinter den Fenstern oder auch zwischen den Gardinen die Köpfe von Frauen, Kindern, Greisen und Männern lugten, um einen Blick auf mich, den schwarzen Fremden, zu werfen; ich bemerkte sie allerdings nur einen kurzen flüchtigen Augenblick, denn sobald die Köpfe zwischen den Gardinen bemerkten, dass ich ihre neugierigen Blicke erspähte, zuckten sie augenblicklich zurück, als hätte ich sie bei einer unanständigen Tat ertappt.
Wie sensibel diese Menschen doch sind!, ging es mir durch den Kopf. Offenbar ist ihnen peinlich und gilt vielleicht nicht einmal als schicklich, der eigenen Neugier die Zügel schießen zu lassen, obwohl ich sie dafür doch gewiss nicht verdammen würde!
Aus Forschungszwecken durfte ich es natürlich nicht unterlassen, diese meine Vermutung sogleich experimentell zu überprüfen. Ich richtete meinen Blick also eine Zeitlang stur nach vorn auf das Straßenende, um ihn dann unerwartet und blitzschnell in die Höhe zu den Fenstern hochschnellen zu lassen – und, siehe da, es geschah genau, was ich erwartet hatte. Dutzende von Köpfen zuckten alle zur gleichen Zeit zwischen den Vorhängen in den Raum zurück, nur unter den Greisen – und von denen scheint es in Goldenberg nicht wenige zu geben – waren manche durch das Alter so verlangsamt in ihrer Beweglichkeit, dass sie wie verlorene Gespenster zwischen den Vorhängen sozusagen erstarrten, mich aber unmittelbar danach mit einem verlegenen Lächeln gleichsam um Verzeihung für ihr schlechtes Benehmen baten.
Während das kleine Begrüßungskommando mich, den frisch eingetroffenen neuen Bürger von Goldenberg, durch das Stadttor auf die Hauptstraße geleitet, redet der Bürgermeister mit nicht endendem Wortschwall auf mich ein: Welch große Freude es für die Menschen von Goldenberg und für ihn ganz persönlich sei, einen so außerordentlichen Gast wie mich in den Mauern der Stadt zu begrüßen, hier auf dem vertrauten Terrain seiner Heimat – dieses Glücksgefühl sei unbeschreiblich und eigentlich gar nicht in Worte zu fassen. Er, der Bürgermeister, dürfe sich aber zu diesem Gefühl im Namen aller Bürger in voller Offen- und Ehrlichkeit bekennen. Zum allerersten Mal biete sich der Stadt die Gelegenheit, einen so besonderen, im besten Sinne des Wortes exotischen Vertreter der menschlichen Gattung im eigenen Haus zu empfangen. In ihm als dem gewählten Repräsentanten dieser Stadt erwecke die Aussicht, künftig mit einem so außerordentlichen Exemplar des Homo sapiens über jedes Problem von Mensch zu Mensch reden zu können, schon jetzt die größten Erwartungen.
Auf diese bombastische Art, die mir gleichwohl zu Herzen ging, denn die gute Absicht war ja doch unverkennbar, begleitete mich der Mann in die Stadt.
Er steigerte seine Rede schließlich zu einer tönenden Tirade:
Sind wir uns nicht im Grunde völlig gleich, unabhängig von Rasse, Geschlecht, Religion und so weiter und so fort?, ruft er mir zu, obwohl ich doch nur zwei Schritte von ihm entfernt bin. Sind wir nicht im Hinblick auf unsere Gene zu beinahe hundert Prozent verwandt? Haben wir nicht sämtliche Vorurteile längst ausgeräumt und vergessen, die in grauer und trüber Vergangenheit sicher auch einmal bei uns in Goldenberg existierten?
Der Bürgermeister hat sich so sehr in Eifer geredet, dass auf seiner Stirn eine Vielzahl kleiner Schweißtröpfchen schimmern – ein Wunder, denn die Luft unter dem unwirtlich grauen Himmel ist doch geradezu kalt und richtig zugig. Während er mit lauter Stimme von den glücklich überwundenen Vorurteilen schwärmte, hielt er meinen Arm mit seiner rechten Pranke gepackt, was sicher gut gemeint, aber dennoch wenig angenehm war, denn die Arme des Mannes sind stark wie die Beine eines Stiers, und seine Hände scheinen Schraubstöcke zu sein. Beinahe hätte ich mein Gesicht vor Schmerz verzogen.
Glücklicherweise ließ er nach einiger Zeit wieder locker, sonst hätten die Bürger von Goldenberg möglicherweise bemerkt, dass auch ich von Vorurteilen keineswegs frei bin, denn, um ehrlich zu sein, schreckte mich der Anblick dieses Mannes doch einigermaßen ab, ja, erfüllte mich sogar mit Beklemmung. Als er mich vor dem Stadttor empfing und zur Begrüßung in seine tatzenstarken Arme schloss, zuckte ich im ersten Moment zusammen wie vor einem kannibalischen Überfall, denn der Schädel des Herrn Bürgermeisters – so muss ich es wahrheitsgemäß protokollieren - ist überaus seltsam geformt: Er gleicht nämlich einer in Goldenberg äußerst beliebten Frucht, die sie Kartoffel nennen, aber er gleicht ihr in einem Zustand unfertiger Bearbeitung, wenn sie also erst halb geschält ist, denn neben einigen käsebleichen, also vergleichsweise hellen Stellen, weist der Kopf des Stadtoberen auch dunkle bis schwarze Flecken auf, so die behaarte Schädeldecke und den ebenfalls grauschwarzen Bart, Stellen, welche sozusagen die noch unbearbeiteten Teile der Erdfrucht repräsentieren.
In dem Moment, als sich dieses Kartoffelgesicht mit seinen mächtigen Kiefern zu mir hinunterbeugte, erfasste mich panischer Schrecken, denn ich weiß ja: Die Lust am Verspeisen anderer Lebewesen, selbst wenn es die eigenen Mitmenschen sind, liegt uns allen bis heute im Blut, nicht jeder hat sie vollständig überwunden. Außerdem darf ich mit Fug und Recht von mir behaupten, nicht ganz unappetitlich zu sein. Im Gegensatz zu meinem Gegenüber strahlt mein Gesicht den Glanz einer leckeren, lockenden, die Esslust aufreizenden Schokolade aus – ohne mich übertriebener Selbstverliebtheit schuldig zu machen, darf ich behaupten, dass sich kein anderer Bewohner der Stadt einer solchen Anziehungskraft rühmen kann.
Zum Glück erwies sich meine Befürchtung als unbegründet. Es zeigte sich, dass der Bürgermeister – inzwischen kann ich das von den Eingeborenen dieser Stadt insgesamt behaupten - von solchen Gelüsten und Anwandlungen frei ist. So sehr es für mich im ersten Augenblick auch danach aussehen musste, wollte Bremme mich keinesfalls fressen, obzwar sein Mund meinen Wangen ganz nahe kam, ja sie sogar flüchtig berührte. Eine solche Annäherung entspringt bei ihnen nicht dem Appetit oder schlimmeren Gelüsten, sondern ist nur ein bei ihnen üblicher, wenn auch reichlich seltsamer Brauch. Einem verehrten Gast oder vortrefflichen Ankömmling drücken die Goldenberger mit ihrem Mund einen, wie sie es nennen, Willkommenskuss erst auf die linke, dann auf die rechte Wange. Ob dieser Brauch freilich nur das verfeinerte Überbleibsel einer früher bei ihnen üblichen, inzwischen aber überwundenen Art des Kannibalismus ist, vermag ich nicht zu sagen. Diesen Punkt werden spätere Forschungen klären müssen.
An dieser Stelle, gleich zu Beginn meines Berichts, möchte ich mich ausdrücklich zu meiner großen Bewunderung für die Eingeborenen dieser Stadt bekennen, die sich wirklich alle erdenkliche Mühe geben, um den Fremden in ihre Welt einzuführen und ihn seine Fremdheit vergessen zu lassen. Gewiss ist dieses Vorhaben nicht immer einfach für sie gewesen. Vorurteile gibt es schließlich auf beiden Seiten. Schon heute, also am zweiten Tag meines Aufenthalts in der Fremde, führen sie mich in das Odysseus, wo ich sofort ohne Prüfung und bürokratischen Aufwand – der Bürgermeister selbst erteilt eine entsprechende Weisung - als ordentlicher Kellner angestellt werde, und zwar aus keinem anderen Grund, als weil nach Meinung der Goldenberger kein Mensch vollständig, ehrenwert oder auch nur menschenwürdig zu nennen sei, wenn er seine Tage nicht mit Arbeit verbringt, denn erst dadurch verschaffe er der Sozietät einen für alle sichtbaren Nutzen. Erst wenn der Mensch, festgezurrt an eine Arbeitsstelle, seinen unveränderlichen Platz im großen Ganzen hat, ist die Obrigkeit beruhigt und der allmächtige Polizeipräsident Knarr ist dann gleichfalls zufrieden, weil er den Betreffenden unter ständiger Beobachtung hat. In diesem Punkt kennen die Goldenberger keinen Spaß, so freundlich sie sonst in jeder Hinsicht auch sind: Gegen ziellose, wie Hunde frei herumstreunende Existenzen hegen sie unüberwindbares Misstrauen.
Die erste Frage, die sie einander und natürlich auch jedem Fremden bei einer ersten Begegnung stellen, lautet grundsätzlich: Was ist dein Beruf? - und wehe, wenn du dann verlegen den Kopf schütteln musst und ihnen nichts anderes zu sagen weißt, als dass du leider nichts Besseres seist als ein Mensch, ungebunden und keinem anderen hörig. Dann messen sie dich von unten nach oben mit vernichtendem Blick. Ein Mensch ohne Arbeit ist für sie ein Unmensch, ein Barbar, ein minderwertiges Wesen, zu jeder Schandtat bereit und fähig.
Diese Reflexionen füge ich vorsichtshalber gleich zu Beginn meines Berichtes ein, damit ihr, hoher Rat, eine Vorstellung von der Ehre habt, die mir schon am Tag meiner Ankunft erwiesen wird, indem man mir den Posten eines regulären Kellners offeriert, und zwar, ich sagte es schon, im renommierten Odysseus, das sich im Zentrum der Stadt am Rande des Stadtparks unweit vom Schloss befindet. Ich meinerseits zögere nicht einen Augenblick, das Angebot voller Dankbarkeit anzunehmen, obwohl ich in aller Freimütigkeit zugeben muss, dass ich durchaus keinen natürlichen Drang zur Arbeit besitze, sondern diese vielmehr für ein großes Übel und eine Plage halte, da die Lilien auf dem Felde, wie doch jedermann weiß, nach unseres Schöpfers Willen ganz ohne Arbeit vollkommen glücklich sind. Euch, die ihr mich kennt, darf ich anvertrauen, dass ich die Lilien auf dem Felde von jeher beneide und es mir immer darum zu tun war, das Glück des seligen Nichtstuns mit ihnen zu teilen, denn nichts bereitet mir ein so großes Vergnügen, als einfach so in der Sonne zu liegen und nichts zu suchen – ja, das ist in solchen Momenten wirklich mein ganzer Sinn! Dann gelingt es mir sogar - köstliche Augenblicke! -, mein Denken vollständig abzuschalten, wobei ich einen wollüstigen Nirvanageschmack auf der Zunge verspüre, weil die süße und warme Leere, die vom Sonnengeflecht in meinen Bauch über die Region des Herzens hinauf bis in die oberen Sphären des Kopfes quillt, mir wie die Vorfreude auf die Erlösung von allen Übeln erscheint – Erlösung vor allem von dem großen Übel der Arbeit.
Überhaupt liege ich nicht nur gern in der Sonne, die ja unserer Heimat ganz besonders gewogen ist, denn dort scheint sie fast jeden Tag, ich rede auch gern mit anderen Menschen, auch wenn dabei überhaupt nichts gesagt wird und gar nichts dabei „herauskommt“, denn ich will nicht leugnen, dass ich von Natur aus gesellig, mitteilsam und vor allem neugierig bin – Letzteres sogar ganz besonders, denn ich bin ja nicht aus reinem Vergnügen nach Goldenberg gekommen, als weltreisender Privatmann sozusagen, sondern ihr habt mich mit einem sehr ernsten und jedenfalls bedeutsamen Auftrag hierher geschickt, einem Auftrag, über den ich allerdings, so habt ihr mir eingeschärft, zu niemandem reden solle.
Ihr wisst, was ich mit diesen Ausführungen über meine Natur andeuten möchte, nämlich dass ich an und für sich - rechnet man zusätzlich noch meine Neigung zu gedankenfreien Sonnenbädern hinzu – schon genug Beschäftigung habe. Da hätte man mich keinesfalls noch zusätzlich zu einem Kellner im Odysseus ernennen müssen. Gleichwohl bin ich natürlich mit allem einverstanden, denn die völlige Anpassung an die Sitten und Sonderbarkeiten der eingeborenen Stadtinsassen ist ja das erste Gebot meiner Mission. Eben deswegen überwinde ich meine Abneigung gegen die Arbeit und sage auf Anhieb „ja“ zu dem Angebot - nicht ohne allerdings in einem unbeobachteten Moment meinen persönlichen Schutzgeist Loso zu befragen, denn gegen seinen Willen möchte ich nichts unternehmen. Loso allerdings bleibt mir die Antwort schuldig, was mich sehr traurig stimmt: Seit ich in Goldenberg bin, hat er alle Zwiesprache verweigert.
Das Odysseus ist übrigens ein anziehender Ort, vermutlich sogar der beste, um die Sitten, Bräuche, Anschauungen und Schrullen der Eingeborenen an ihrer Quelle, nämlich dort zu studieren, wo das Gespräch ungehemmt sprudelt - und das ist bei ihnen nun einmal an diesem gastlichen Ort der Fall. Erwähnte ich schon, dass sich das ganz aus Holz errichtete Odysseus zwischen mächtigen Kastanien am Rande des Stadtparks befindet? Dort wird sich also von nun an mein tägliches Leben abspielen; dort werde ich gerade in diesem Moment in die höheren Weihen der Geselligkeit eingeführt - vom Bürgermeister höchst persönlich. Er schiebt mir nämlich jenen honiggelben, sonnenfunkelnden Saft vor die Nase, ohne dessen tägliche Einverleibung in einem gläsernen Humpen – er ist etwa so hoch, wenn auch nicht ganz so breit wie der Kartoffelkopf Bremmes - niemand in dieser Stadt jemals zu einem echten Bürger aufrücken kann. Die Einführung in den Ritus ist für sie offenbar ein heiliger Moment, denn dabei starren mich alle aus großen Augen an, natürlich in der Erwartung, dass ich die schäumende Flüssigkeit mit dem Ausdruck des Entzückens durch meinen Schlund in den Bauch weiterleite, wo das Getränk – das wissen sie schon! - möglicherweise unvorhergesehene Folgen bewirkt. Ich muss bekennen: In solchen Momenten wird das Leben zur Qual, wenn alle von dir erhoffen, dass du ihre Erwartungen nicht enttäuscht, sondern - selbst wenn dir zum Speien schlecht wird - den größten Eifer heuchelst zusammen mit der reinsten Begeisterung.
Das wäre – euer Auftrag verpflichtet! – vielleicht auch möglich gewesen, hätte Bremme nicht zur gleichen Zeit, als er mir das goldgelbe Zeug über den Tisch zuschiebt, dessen unseligen Namen ausgesprochen. Ich wage ihn ja kaum zu nennen, um eure Ohren nicht zu beleidigen: Pier heißt das Getränk - jawohl ganz genauso. Da begreift ihr auf Anhieb, wie sehr ich zusammenzucke und dass mir das Blut aus Gesicht und Gliedern weicht. Am liebsten wäre ich geflüchtet, aber das geht ja nicht, ihr habt mich hierher in die Höhle des Löwen mit dem ausdrücklichen Auftrag geschickt, mich anzugleichen, mich zu integrieren und zu assimilieren, nur so werde es mir gelingen, alle Geheimnisse ihres Denkens und täglichen Lebens eins nach dem anderen zu entschlüsseln. Hätte ich jetzt meinem Entsetzen Luft gemacht, dass sie mir Pier, die große Hure, servieren, wie wäre ich dann dagestanden? Ich hätte meine Mission gleich wieder aufgeben müssen.
Ihr habt mir ausdrücklich befohlen, nichts von unserer Weisheit und unseren gottgeheiligten Sitten den Fremden zu offenbaren. Wie hätte ich ihnen also sagen können, dass Pier, das flachsblonde Weib, meinen Stammesgenossen in der Heimat einen Horror einflößt, weil die Hure auf das frische Fleisch und die starke Manneskraft junger Männer versessen ist? Wie hätte ich ihnen verraten können, dass Pier sich auf die Kunst der Verkleidung versteht, manchmal erscheint sie als blutrünstiger Leopard, manchmal als stechwütige Mücke, die den Kopf auflodern lässt: natürlich im Wahnsinn. Und jetzt nimmt sie also die verführerische Gestalt eines goldgelben Getränkes an, das mir der Bürgermeister über den Tisch kredenzt und mich dabei mit einem Lächeln ermuntert, so als wäre es die natürlichste Sache der Welt, sich mit einem bösen Geist einzulassen.
Bitte, könnt ihr mir verraten, was ich in dieser gefährlichen Situation hätte machen sollen? Ich sitze doch eingeklemmt zwischen dem Polizeipräsidenten Knarr und Julius, dem Apotheker, während der Bürgermeister, jetzt, da er mein Zögern gewahr wird, mit lauerndem Blick auf mein Gesicht und den Humpen starrt, der wie eine Strafe Gottes goldblinkend vor mir steht und den ich jetzt mit äußerster Überwindung zum Munde aufhebe: Du begehst eine schwere Sünde, mahnt mich eine innere Stimme, niemand lässt sich ungestraft mit dem flachsblonden Weibe ein, aber es ist euer ausdrücklicher Befehl, mich den Eingeborenen anzupassen und selbst ihren ausgefallensten Bräuchen, also überwinde ich mich und gurgele einen Schluck nach dem anderen in mich hinein, wobei ich am Ende sogar mit der Zunge schnalze, um falsches Wohlgefallen zu simulieren.
Wie ich später erfahre, befindet sich der Apotheker nicht zufällig an meiner Seite. Julius ist ein großer Kenner sämtlicher Heil- und Wirksubstanzen aus dem Abend- ebenso wie aus den fernsten Morgenländern, also eine echte Kapazität in allen Fragen des leiblichen Wohlergehens. Die Obrigkeit, der Bürgermeister also, hat ihn zu meiner Begrüßung herbeigerufen, denn der Ritus des Humpenleerens ist nun einmal ein Muss; in Goldenberg hätte man niemals von Mensch zu Mensch zu mir reden können, ohne dass ein oder mehrere Maß den Bauch anfüllen und das Gehirn in den unter den Eingeborenen so beliebten Dämmerzustand versetzen. Andererseits ist die Obrigkeit zur gleichen Zeit auch um das Wohlergehen des Fremden besorgt. Man weiß ja nicht, ob ein Mann meiner Tönung sich mit dem hiesigen Klima abfinden wird; noch viel weniger lässt sich darauf zählen, dass mein Organismus der goldgelben Pier gewachsen sei. Da schien es denn eine gebotene Vorsichtsmaßnahme zu sein, den Apotheker mit den nötigen Essenzen zur Hand und zur Stelle sein zu lassen, falls ich in den wollüstigen Armen Piers etwa in Ohnmacht falle.
Nun, ich weiß, was ich euch und der Ehre meiner Heimat schuldig bin: Unter Todesverachtung – aber nicht ohne „Steh mir bei, lieber Loso!“ in mich hineinzuflüstern – schlürfe ich Schluck um Schluck in mich hinein, während die Augen der Männerrunde mich ständig beäugen, alle Anwesenden zu unverzüglichem Eingriff bereit, falls ich eine Konvulsion erleide, einen Krampf oder eine durch Pier hervorgerufene Wahnsinnshandlung.
Man hatte - aber das sollte ich erst später erfahren - noch weitere Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Es gab nämlich einen Erlass, der den Bewohnern der Stadt an dem Tag meiner Ankunft ausdrücklich verbot, sich im Park zu versammeln und mich durch zu zahlreichen Andrang zu verstören oder mich gar wie ein scheues Wild in Panik zu versetzen. Wie es allerdings mit amtlichen Erlässen so ist, gibt es stets Aufmüpfige und Querulanten, die mit dem eigenen Sturkopf durch die Wände rennen – in diesem Fall durch den Park. Ein allzu Neugieriger – er wurde später mit einer drastischen Verwaltungsstrafe belegt – hat sich nämlich über die Weisung hinweggesetzt. Mich aus weit geöffneten Augen unentwegt anstarrend, sitzt er wenige Schritte entfernt am Nebentisch und kann die Augen nicht von mir lassen. „Anstarren“ ist freilich ein unfreundliches und in diesem Fall auch unpassendes Wort, denn in Wahrheit scheint er so gebannt und entzückt von meiner Person, dass er seinen Blick einfach nicht von mir loszureißen vermag. Es sind große Kinderaugen, mit denen mich der Mann – ein wahrer Hüne - mit einer Art Unersättlichkeit beinahe verschlingt.
Dabei sollte es freilich nicht bleiben, denn es geschieht das Unvorhergesehene, wodurch im Nachhinein die Weisung an die Bevölkerung, an diesem Tag den Park bitte zu meiden, durchaus gerechtfertigt erscheint. Der mich hingerissen fixierende Mann – später werde ich ihn als Oscar kennen lernen und einen guten Freund in ihm gewinnen - ist nämlich mit seinem Haustier gekommen, einem schwanzwedelnden Dackel, der im Hinblick auf meine Person nicht weniger neugierig, ja, sogar noch um vieles wissbegieriger ist als die zweibeinigen Bewohner der Stadt. Ich vermute, dass sich der mir eigene Savannenduft vorteilhaft von dem der Einheimischen abhebt - diesem Umstand schreibe ich jedenfalls den Grund dafür zu, dass die Dackelseele in besondere Erregung gerät. Ist schon meine Haut durch ihre Schokoladenfarbe besonders erfreulich, so wird der Hund meinen faszinierenden Duft in die Nase bekommen haben. Jedenfalls ist als unumstößliche Tatsache zu vermelden, dass er plötzlich zu mir gelaufen kommt, um mich von Hund zu Mensch ganz unmittelbar zu beschnüffeln.
Ja und?, werdet ihr dieses Ereignis ganz unaufgeregt kommentieren. Was sei daran denn so besonders, wo doch darin die allgemeine Art der Hunde besteht, also auch die eines Dackels.
Sehr wohl, auch für mich liegt darin absolut nichts Auffälliges, an Hunde und ihre Eigenarten bin ich gewöhnt, und dass ich einen edlen, vielleicht sogar vornehmen Geruch ausströme, gehört einfach zu den Tatsachen dieser Welt. Doch etwas Unvorhergesehenes und Außerordentliches geschieht eben doch, und zwar nicht mit dem schnüffelnden Besucher, sondern mit seinem Herrn. Hatte der Mann mich nämlich eben noch liebevoll mit seinen großen, runden Augen gleichsam in sich hineingesogen, so schnellt er jetzt, kaum dass er seinen Hund bei mir sieht, wie von einer Schlange gebissen von seinem Sitze in die Höhe, stürzt sich auf seinen Liebling, rafft ihn zu sich empor und verschwindet mit kräftigen Sprüngen zwischen den Bäumen draußen im Park.
Um die Wahrheit zu sagen, blieb mir dieser Vorgang an jenem Tage und noch eine ganze Zeit später schlechterdings rätselhaft; erst heute weiß ich, was in diesem Augenblick Schreckliches im Kopfe des Flüchtigen vorging, denn es handelt sich, wie schon gesagt, um Oscar, meinen späteren Freund, der mir eines Tages alles reuig gebeichtet hat.
Wie vermutlich die Mehrzahl der Goldenberger glaubte er nämlich, dass es in meinem Herkunftsland üblich sei, das Wild mit bloßen Zähnen zu reißen, weil wir in unserer unglücklichen Heimat gewöhnlich unterernährt und aus diesem Grunde eben zu allem bereit und auch fähig seien. Der liebe Mann sah seinen Dackel mithin in höchster Lebensgefahr – das erklärt sein panisches Verhalten. Zweifellos war er mir wohl gesonnen, ja, wie mir sein Blick bewies, in meinen Anblick geradezu verliebt, doch aus Angst um seinen vierbeinigen Freund vergaß er momentan alle Umgangsformen, wie sie sich unter zivilisierten Menschen gehören. Sein Hund war ihm eben wichtiger als das gute Benehmen.
Verärgert über den ungehörigen Zwischenfall schüttelt Bremme seinen mächtigen Erdapfelkopf und, verlegen, bringt er eine Reihe von Entschuldigungen vor. Leider gebe es selbst in seiner sonst in jeder Hinsicht aufgeklärten und fremdenfreundlichen Stadt ein paar schwarze Schafe, denen man die Gebote der Gastfreundschaft vergeblich gepredigt habe. Der Polizeipräsident Knarr nimmt die Sache allerdings weniger gelassen: Er winkt einen bis dahin unscheinbar im Hintergrund verborgenen Mitarbeiter herbei und befiehlt ihm, den Flüchtigen und seinen Dackel erkennungsdienstlich zu erfassen.
Währenddessen hat sich ein weiterer Gast unserem Tisch genähert, denn natürlich war es einigen ausgesuchten Honoratioren der Stadt nicht verwehrt, den Fremden gleich am ersten Tag in persönlichen Augenschein zu nehmen. Die Frau Pastor Frieda Torbrück setzt sich mir gegenüber, sie tut es mit einem freundlichen, geradezu gerührten Lächeln. Sie hat eine liebe Art. Es sieht ganz so aus, als wäre ich für sie eine Erscheinung aus einem anderen, höheren Reich, der man sich mit behutsamer Ehrfurcht nähert.
So viel Freundlichkeit macht mich verlegen, dennoch habe ich die Torbrück im Laufe der Zeit sehr schätzen gelernt, denn von vornherein hat sie mich für fähig gehalten, die Wahrheiten ihrer Religion zu begreifen, wichtig sei nur, dass das unter ihrer kundigen Anleitung geschieht. Dann, so ihr Versprechen, würde ich irgendwann zu einem Menschen werden, dem sie dasselbe Anrecht auf den späteren Einzug ins Paradies verheißen könne wie jedem eingesessenen Goldenberger, ja, ihrer Ansicht nach sogar ein größeres Recht, weil ein verlorenes oder aus der Fremde glücklich in die Herde aufgenommenes Schaf ein höherer Gewinn für den Glauben sei als die Trägen und Gleichgültigen der eigenen Heimat, die sich zu Unrecht einbildeten, sie hätten die künftige Erlösung schon von Geburt an in der Tasche.
Nun, lieber Rat, damit eile ich wieder einmal den Ereignissen voraus, aber ich sehe mich genötigt, dieses Verfahren gleich noch ein zweites Mal zu befolgen, weil ich nur auf diese Art den vollen Umfang der mir hier entgegengebrachten Gastfreundschaft zu würdigen vermag. Denn ist es nicht eigentlich ein großes Wunder, dass mich Leute mit so viel Freude und Festlichkeit empfangen, die mich doch andererseits durchaus für fähig halten, ihre Haustiere zu reißen und zu verschlingen? Und muss ich nicht nachträglich die Tollkühnheit des Bürgermeisters besonders rühmen, der sich vor dem Tor zu mir herabbeugt hatte, um mir erst links und dann rechts einen Empfangskuss auf die Wange zu drücken, während er doch insgeheim befürchten musste, dass ich ihm, noch ungezähmt wie ich war, die Nase abbeißen könnte?
Daran erkennt ihr, hochwertes Komitee, wie sich die Menschen in aller Welt mit größten Vorurteilen begegnen, und trotzdem entwickelte sich alles Weitere dann doch recht harmlos und schön.
Übrigens sprechen nicht alle Vorstellungen, welche seit wer weiß wie vielen Jahrhunderten in den Köpfen der hiesigen Eingeborenen Wurzeln geschlagen haben, von vornherein gegen mich. Das möchte ich ausdrücklich betonen, um nicht in den Verdacht zu geraten, als würde ich den Menschen von Goldenberg nichts als schlechte Annahmen über einen Fremden wie mich zutrauen. Damit würde ich ihnen großes Unrecht tun, denn sie trauen mir ganz im Gegenteil gewisse Fertig- und Fähigkeiten zu, die mein tatsächliches Können weit überschreiten. Da kann ich euch zum Beispiel von folgendem Beispiel berichten.
Einige Tage nach meinem ersten Treffen im Odysseus wurde von einem der Gäste eine Handlung begangen, die man auf den ersten Blick für harmlos und zufällig halten konnte, zumindest wenn man als frisch Zugereister noch so naiv und gutgläubig ist wie ich. Die zu dieser Zeit um die Tische des Odysseus versammelten Gäste waren allerdings durchaus nicht naiv, sie waren sich im Gegenteil durchaus bewusst, dass der Mann, der da scheinbar im Spiel seinen Hut abgenommen und ihn – wie es schien, ebenfalls aus reinem Zufall - so hoch geworfen hatte, dass er an einem Ast des Kastanienbaums ganze acht Meter über dem Boden hängen blieb, sehr wohl eine Absicht damit verfolgte, denn alle Blicke waren plötzlich auf mich gerichtet, der ich nichtsahnend der mir hier aufgetragenen Arbeit oblag: Ich hatte gerade ein Tablett mit funkelnden Humpen auf dem Serviertisch abgestellt.
Ich stutzte über die mir zugewendete Aufmerksamkeit; sie machte mich verlegen.
Warum schauen die Leute jetzt abwechselnd auf den Hut in acht Metern Höhe und dann wieder auf meine Person?, fragte ich mich und spürte ein deutliches Unbehagen, weil die Leute ja offensichtlich etwas von meiner Person erwarteten. Und warum machte sich auf ihren Gesichtern Enttäuschung breit, als nichts geschah, jedenfalls nichts, was ihrer Erwartung entsprach?
Erst später verstand ich den Grund für die Enttäuschung: Der Mann hatte mir mit seinem schwungvollen Wurf die Gelegenheit geben wollen, meine angeborenen Talente – oder was er dafür hielt - vor aller Welt zu beweisen. Die Goldenberger sind nämlich in ihrer Mehrheit fest überzeugt, dass ein dunkelhäutiger Mensch meines Schlages unseren gemeinsamen Vorfahren, den Primaten, sehr viel näher sei als sie selbst. Sie glauben, dass ich nach einem Blick auf den Hut wie ein Affe und mit der diesen Wesen von Natur eigenen Geschicklichkeit den Baum erklimmen und mich von Ast zu Ast zum Hut hinaufschwingen würde, um ihn dann aus der Höhe dem glücklichen Besitzer zu apportieren. Sicher waren alle bereit und warteten nur darauf, mich nach vollbrachter Heldentat mit tosendem Applaus zu belohnen - davon bin ich durchaus überzeugt.
Natürlich rührte ich mich nicht, ich habe in meinem Leben überhaupt nie das Bedürfnis verspürt, Bäume zu erklimmen und Gegenstände zu apportieren. Die im Odysseus versammelten Eingeborenen waren um eine Erwartung ärmer: Sie wussten nun, dass ich genauso ungelenk bin wie sie selbst, genauso degeneriert, könnte man vielleicht sagen, wenn man unsere gemeinsamen, baumbewohnenden Ahnen als Vorbilder betrachtet. Doch muss ich der Gerechtigkeit halber diese Erfahrung mit einem Nachsatz versehen: Sie ließen mich ihre Enttäuschung keineswegs spüren, sondern brachten mir weiterhin eine ausgesuchte Freundlichkeit entgegen. Doch in ihren Augen habe ich zweifellos etwas von meinem Prestige eingebüßt, ich war sozusagen auf das ihnen vertraute Normalmaß geschrumpft.