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Gottes ausgestreckter Zeigefinger

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Verehrte Auftraggeber, lieber Ältestenrat! Meine Mission verläuft in der von euch vorgesehenen Bahn, ihr könnt also durchaus beruhigt sein. Seitdem man mich mit einer anständigen Arbeit beehrte – arbeiten ist hier an und für sich schon anständig! -, rücke ich den Eingeborenen mit jedem Tag etwas näher. Ich bin, so nennen sie es hier: schon wesentlich „integriert“, ein Wort, das, wie sie mir erklären, von einer ausgestorbenen Sprache stammt, in der die Wurzel „integer“ so viel wie „unversehrt“, „unverdorben“, „vollständig“ heißt.

Diese Verwandlung schreibe ich in erster Linie dem goldenen Schimmer der von mir ausgetragenen Pierhumpen zu, der lässt mich unversehrt, unverdorben und keusch erscheinen. Denn die in ihren Augen bedauerliche Dunkelheit meiner Haut wird dadurch doch etwas aufgehellt, zumal wenn die Sonne den goldenen Widerschein aus den Humpen auf meinem Gesicht zum Glühen bringt. Dazu verleiht mir die Arbeit in ihren Augen so etwas wie Vollständigkeit, denn ich sagte es ja schon: Wer sich hier nicht Tag für Tag an irgendeinem Ding abrackert, der ist für sie kein ganzer und schon gar kein achtbarer Mensch. Es ist wirklich ein großes Glück, dass sie mich gleich am ersten Tag integrierten, vor meiner Ankunft hatte es nämlich – so viel habe ich schon erfahren - auch warnende Stimmen gegeben.

Wird er nicht wild und unbeherrschbar sein, wenn er zu uns so direkt aus der Wildnis kommt? Wie fangen wir ihn im Park oder in den Straßen der Stadt dann wieder ein?

Derartige Bedenken hatte der Polizeipräsident Knarr angemeldet, aber auch Fred Tautzig, der bekannte Zigarrenfabrikant, dessen Stimme in Goldenberg als gewichtig gilt und der mit dieser Warnung nicht wenigen Bürgern ziemliche Furcht einflößte.

Als sich die Eingeborenen durch den Augenschein davon überzeugten, dass ich mich mit der Verlässlichkeit eines emsig hin und her flitzenden Weberschiffchens zwischen Tresen und Tischen des Odysseus bewege, die goldgelbe Hure Pier dabei ganz unversehrt bleibt und ich auch niemandem den Schädel mit einem Humpen einschlage, wie man das doch von einem Wilden befürchten konnte, sind sie voll des Staunens, und ich habe genau gehört, wie einer von ihnen dem anderen ins Ohr tuschelte:

Siehst du, das haben wir glücklich geschafft. Er ist jetzt schon so gut wie gezähmt; ich sage ja immer, man muss den Leuten nur Arbeit geben, dann werden sie zu richtigen Menschen.

Dass die Goldenberger manchmal so heimlich tun und hinter meinem Rücken tuscheln, damit ich nichts von ihren Worten höre, stört mich übrigens nicht weiter. Sie meinen es ja nicht böse, so sind sie eben. Was können sie schließlich dafür, dass ich ein so hervorragendes Gehör besitze?

Ja, in dieser Hinsicht bin ich unseren wild lebenden Vorfahren wirklich um einiges näher. Mein Gehör ist so außerordentlich fein und erregbar, dass ich sogar das Rascheln einer Maus unter den Blättern einer zehn Meter von den Tischen entfernten Kastanie mit voller Deutlichkeit höre. In dieser Hinsicht bin ich ohne Zweifel integer, unversehrt und unverdorben. Doch das werde ich ihnen natürlich nicht verraten. Niemals werden sie von mir erfahren, dass ich alle ihre Gespräche am Tisch belausche und auf diese Weise euren Auftrag getreu erfülle. Selbst wenn sie an mehreren Tischen sitzen, wild durcheinander reden, sich streiten, laut brüllen oder auch ganz leise flüstern, damit die Nachbarn am Nebentisch nichts davon verstehen, entgeht mir kein einziges Wort.

Liebe Leute von Goldenberg, ich kann mich zwar nicht wie ein Affe hochschwingen, ich meine, bis zum Wipfel der Kastanien, diese Fähigkeit ging bei uns leider verloren – wir leben ja schon wer weiß wie lange in der Savanne -, aber ein Naturkind bin ich dennoch geblieben und schäme mich dessen durchaus nicht. Von euren dahingetuschelten Worten entgeht mir kein einziges; ich höre alles, manchmal glaube ich noch die Gedanken hinter euren weißen Stirnen zu lesen.

Darauf kommt es mir an – und natürlich auch euch, ehrwürdiges Komitee -, denn ich bin ja nicht zum Spaß in diese fremde und ferne Stadt gekommen, sondern habe hier einen sehr wichtigen Auftrag zu erfüllen. Das Odysseus ist dazu gewiss der richtige Ort; hier treffen sich die angesehensten Bürger der Stadt, zum Beispiel ist - ich glaube, ich sagte es gerade - an diesem Tag auch die Frau Pastor, Frieda Torbrück, zugegen. Jeder weiß, dass sie gern den Tisch Nummer drei, und zwar immer Platz zwölf besetzt. Ich weiß, dass einige Goldenberger diese Vorliebe für den dritten Tisch mit ihrer Verehrung für die Dreifaltigkeit erklären, während die zwölf sie deshalb anlocke, weil sie dabei stets an die gleiche Zahl von Aposteln denke, doch bin ich persönlich zu der Überzeugung gelangt, dass es für das Verhalten der Gottesfrau eine viel einfachere Erklärung gibt. Es ist mir nämlich aufgefallen, dass sie von ihrem Platz immer sinnend auf einen Punkt irgendwo zwischen den Wipfeln der Kastanien schaut - und das tut sie so still und mit einem so seligen Lächeln, als würde sie dort oben die Heerscharen der Engel oder andere himmlische Wesen erblicken.

Ihr versonnenes Lächeln hat mich derart entzückt, dass ich an einem frühen Nachmittag, als noch keine Gäste das Odysseus besuchten, probeweise selbst an Tisch drei den Platz Nummer zwölf einnahm. Und siehe da, ich begriff auf der Stelle, warum die Frau Pastor gerade an diesem Platz Momente des Glücks durchlebt: Durch die lichte Öffnung zwischen den Kronen zweier Kastanien ragt nämlich die im Sonnenschein silbern gleißende Spitze des Kirchturms hervor, gewissermaßen der erhobene Zeigefinger des Herrn. So gerät ihr selbst an diesem gottfernen Ort, wo die Hure Pier das lautstarke Sagen hat, nie die Präsenz des Höchsten aus dem Blick.

Um noch ein weiteres Wörtchen über die Frau Pastor hier einzuflechten: Ich gönne der lieben, aber leider etwas vergrämten Frau diese Momente des Glücks - und halte deswegen auch immer den besagten Platz für sie frei -, weil ihr schmales Gesicht, wenn sie nicht gerade auf die Erscheinung über den Bäumen blickt, sondern ihre Aufmerksamkeit den Nachbarn zuwendet, stets einen so tiefernsten Eindruck macht, meist in Falten gelegt ist und auf mich überhaupt sorgenvoll wirkt, ein Eindruck, den ich nun wirklich gar nicht verstehe, da doch die enge Verbindung zu ihrem unsichtbaren Herrn der Pastorin eine größere Selbstgewissheit und Unbeschwertheit verleihen müsste als allen anderen Menschen, zumindest als allen anderen Goldenbergern, die dem Himmel weit weniger nahe sind - von mir will ich erst gar nicht reden, da ich die Gegenwart meines Schutzgeistes Loso in der neuen Umgebung bis heute vermisse und daher die ganze Zeit über spirituell völlig vereinsamt bin.

Vielleicht ist es gerade meine Verlassenheit, die in mir ein besonderes Interesse an der Torbrück erweckt, denn diese ist ja sozusagen der verlängerte Arm der hier herrschenden Geister. Nun, da ich in Goldenberg ansässig bin, bietet sich mir die Gelegenheit, euch mit einem Gottesboten bekannt zu machen, noch dazu mit einer Frau, die ja für den Umgang mit den Geistern besonders empfänglich ist. Denn ihr wollt natürlich gleich von mir wissen, welche Spuren der intime Verkehr mit den himmlischen Mächten in einer Stadt wie Goldenberg in die Seele von Menschen gräbt, die ihnen besonders nahe stehen.

Also, wenn meine bisherigen Beobachtungen mich nicht trügen, dann glaube ich jetzt schon behaupten zu dürfen, dass die Frau Pastor Frieda Torbrück unter dem intimen Verkehr eher gelitten hat, denn während der hier schon verflossenen Zeit meines Aufenthalts in der Stadt habe ich sie kein einziges Mal lachen sehen, ja selbst das Lächeln scheint ihr schwerzufallen - jedenfalls solange sie nicht gerade die Erscheinung im Auge hat, ich meine die Kirchturmspitze, die von oben durch die Krone der beiden Kastanienbäume zu ihr herabblinkt.

Welche Gründe ihr tiefer Ernst auch haben mag, unbestreitbar ist meine Beobachtung, dass die Pastorin niemals von jener lauten Pierfröhlichkeit überwältigt wird, welche selbst die seriösesten Eingeborenen Goldenbergs hin und wieder ergreift, zumal an einem etwas weniger kalten und sogar sonnigen Märztag wie diesem, wo die Natur selbst ihren Ernst ablegt: Man braucht doch nur auf den Brunnen unter der Laube zu blicken, wo aus dem weit geöffneten Maul eines marmornen Fisches glitzernde Wasserfontänen in allen Farben des Regenbogens in die Höhe schießen. Der Himmel scheint zu einem schüchternen Lächeln aufgelegt, nur die Gottesfrau Torbrück bleibt so ernst, wie sie es immer ist.

Bremme, wendet sie sich gerade dem Bürgermeister zu, Sie wissen so gut wie ich, dass wir uns auf ganz dünnem Eis bewegen; wenn die Stadt nichts unternimmt, dann ist nicht nur der Friedhof betroffen, wo die Gräber am westlichen Saum schon in die Tiefe sinken, das können wir noch verkraften, aber irgendwann wird der Boden auch unsere Kirche verschlingen. Können Sie das vor den Bürgern verantworten? Ich frage Sie, wie werden sie am jüngsten Gericht vor unserem Herrn dastehen?

Ich habe ihre Worte ganz deutlich vernommen, obwohl die Torbrück sehr leise sprach, denn offenbar wollte sie nicht, dass man sie an den Nachbartischen versteht. Wie immer, wenn ich die Gottesfrau höre, spricht sie in einem anklagenden, leidendem Ton - so redet sie auch von der Kanzel. Doch habe ich einen Unterschied zweifelsfrei feststellen können: Wenn sie in der Kirche drei Meter über einer ihr ergriffen lauschenden Menge schwebt, dann mischt sich in den klagend-anklagenden Ton noch etwas Festes, Unerschütterliches, ein Strang aus schwingendem Metall möchte ich es nennen, der schwingt dann wie ein tiefer Gong in ihrer Stimme mit, als würde sich, sobald ihre Rede aus dieser Höhe kommt, eine innere Verwandlung, eine Art Verklärung in ihr vollziehen. Sie steht dann auf gleicher Höhe mit dem größten der Kirchengeister, ich meine mit der hölzernen Figur, die sie den Gekreuzigten nennen und der, für alle sichtbar, den weiten Raum des Kirchenschiffs gegenüber dem Eingang als Blickfang und Botschaft begrenzt. Ich habe es selbst gehört und mit eigenen Augen gesehen: In diesen Momenten der Verwandlung, wenn sie im Talar aus der Höhe zu den Gläubigen spricht, dann gleicht sie den Engeln auf den Bildern rechts und links an den hohen Wänden, nur dass sie nicht in die Posaune bläst, dann ist sie nicht länger die unscheinbare Privatfrau Frieda Torbrück, sondern der Geist scheint in sie zu fahren und durch ihren Mund zu reden. Dennoch muss ich der Wahrheit gemäß bemerken, dass sie selbst dann nicht aufheiternd wirkt, und ich glaube auch, jetzt schon zu wissen, warum selbst dann kein Lächeln auf ihrem Gesicht erscheint. Der Geist, den sie verehrt, hängt nämlich an einem Kreuz, festgenagelt an Händen und Füßen, das Gesicht vor Schmerzen verzerrt. Zu ihm schaut sie immer wieder hinüber; ich meine, es ist ihr ja schon von weitem anzusehen, wie sehr sie unter diesem Anblick fortdauernd leidet.

Wie ich die arme Torbrück bedaure! Wäre sie nicht in Goldenberg aufgewachsen, sondern in meiner Heimat, dann würde sie tanzen und lachen. Bei uns sind die Menschen selbst dann noch zum Tanzen aufgelegt, wenn sie traurig und unglücklich sind. Bei uns hätte die Torbrück einen fröhlichen, einen lustigen, schelmischen und zu Tollheiten aufgelegten Gott kennengelernt, und sie hätte gewiss ebenso zu tanzen begonnen, denn wie sagte Zaragomb, unser vor allen anderen berühmter Medizinmann: „Ich würde nur an einen Gott glauben, der zu tanzen verstünde. Und als ich meinen Teufel sah, da fand ich ihn ernst, gründlich, tief, feierlich: es war der Geist der Schwere.“

Die arme Frau Torbrück versteht nicht zu tanzen, sie wird vom Geist der Schwere verfolgt, der sie immer nur das Leid und die Qual sehen lässt. Nein, die Goldenberger haben es wahrhaftig nicht leicht - so viel habe ich schon begriffen.

Die Leiden des Schwarzen Peters

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