Читать книгу Die Leiden des Schwarzen Peters - Till Angersbrecht - Страница 9

Mai, 4 Monate und 25 Tage vor Erbauung des Gump; Seelentemperatur: jaulender Wildhund; Geisterkontakt: keine Verbindung; Witterung: Lichtblicke.

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Lasst euch vom Mai beglücken, den sie hier ihren Wonnemonat nennen, weil die Bäume frische, grüne Kleider tragen, es in ihren Gärten zu blühen beginnt - auch hier im Park rings um das Odysseus leuchten die Rosen -, und weil die Sonne endlich weniger mit ihrem Licht und ihrer Wärme geizt. Der Apotheker Julius und der Lehrer Dönnewat haben schon wieder die gewohnten Plätze bezogen und stecken die Köpfe zusammen. Meist tuscheln sie mit gepresster Stimme und sitzen da wie zwei jugendliche Verschwörer, obwohl sie beide doch schon reiferen Alters sind. Selbst wenn sich alle übrigen Mitglieder der Runde schon mit angespannten bis ehrfürchtigen Blicken der Austeilung der Skatkarten widmen, tauschen sie immer noch irgendwelche Geheimnisse aus, oft sehr leise, aber natürlich entgeht meinen Ohren trotzdem kein Wort.

Wenige Wochen nach Beginn meines Forschungsaufenthalts gelang es mir einmal, den vollen Text ihrer tuschelnden Zweisamkeit zu erfassen. Sie spielten dabei im Duett wie zwei Jungen, die einander gegenseitig den Ball zuwerfen. Auch damals war der Tag sonnig, aber immer noch bitter kalt. Zum ersten Mal hatte es die Herrenrunde gewagt, sich aus dem beheizten Inneren der großen Halle in die Laube zu wagen, wo eine müde Sonne es schwer hatte, die restlichen Schneeflecken auf dem Rasen und den Dächern der Stadt abzuschmelzen. Der Apotheker Julius begann:

Vom Eise befreit sind Strom und Bäche

Durch des Frühlings holden, belebenden Blick,

Im Tale grünet Hoffnungsglück;

Der alte Winter, in seiner Schwäche,

Zog sich in raue Berge zurück.

Und Lehrer Dönnewat hob den Finger, blickte ihn an und setzte dann fort:

Von dort her sendet er, fliehend, nur

Ohnmächtige Schauer körnigen Eises

In Streifen über die grünende Flur.

Aber die Sonne duldet kein Weißes,

Überall regt sich Bildung und Streben,

Alles will sie mit Farben beleben;

Doch an Blumen fehlts im Revier,

Sie nimmt geputzte Menschen dafür.

So ging es einige Verse weiter, während ich voller Staunen auf das sonst so unscheinbare Gesicht des Apothekers blickte, eine verwaschene Physiognomie, aus der sich weder Freude noch Leid ablesen lässt, doch während er diese Zeilen sprach, wurden seine Züge von einem stillen Leuchten erhellt, das zu der üblichen Verdrossenheit in einem staunenswerten Gegensatz stand. Und auch Dönnewat, der Lehrer, sprach mit Begeisterung, als würde ihm eine Vision erscheinen, dabei sprach er doch nur über die Schmelze des Schnees, die hier in Goldenberg gewöhnlich mit Räumfahrzeugen bewältigt wird, deren mächtiges Brummen und Schaben mich gerade an jenem Tag unsanft aus dem Schlaf gerissen hatte. So war ich mir sicher, dass die beiden Redner keines dieser schrecklich brummenden Ungeheuer vor Augen hatten, als sie ihre Verse rezitierten. Es musste ein unsichtbarer Geist sein, der da von oben auf sie herabgestiegen war und sich ihrer Köpfe bemächtigt hatte. Wie ich inzwischen erfahren habe, ist es der Geist eines längst verstorbenen Mannes, ihres größten Dichters, der sich in ihrem Hirn unversehens eingenistet und sie verzaubert hatte.

Dieser Geist war allerdings nicht mächtig genug, um die gleiche Wirkung auch an Bremme oder dem innen wie außen ganz vertrockneten Saase hervorzurufen. Ich bemerkte, wie der Erstere sich schon bei den Worten: „Im Tale grünet Hoffnungsglück“ ungeduldig an seinem unförmigen Schädel zu kratzen begann und ihn dann mit aller Entschiedenheit schüttelte. Vielleicht musste Bremme gerade daran denken, dass in der flachen Ebene, aus der die Stadt Goldenberg ragt, außer einigen aufgelassenen Kiesgruben keine Täler zu finden sind. Der Bürgermeister ist nämlich, wie sie hier sagen, ein Tatsachenmensch, geschult an Tabellen und Listen, wo jeder Eintrag unbedingt stimmen muss. Als Jürgen Julius, der Apotheker, schließlich den Blick ganz ins Weite verlor und mit verklärtem Gesicht die Zeilen sprach:

Sieh nur, sieh! wie behänd sich die Menge

Durch die Gärten und Felder zerschlägt,

Wie der Fluss in Breit und Länge

So manchen lustigen Nachen bewegt,

da vermochte der Bürgermeister seinen Unmut nicht länger zu mäßigen.

Dönnewat, wo ist hier der Fluss?, unterbrach er den Lehrer mit ungehaltener Stimme, noch dazu einer Fistelstimme, die geradezu schneidend wurde, weil sie für einen Mann seiner Statur ungewöhnlich hohe Töne erklomm. Immer wenn Bremme auf diese Art seinen Unwillen bekundet, verstummt ringsum alles Gespräch, die Köpfe ducken sich, die Gestalten in seiner Umgebung schrumpfen merklich zusammen.

So war es auch bei dieser Gelegenheit. Dönnewats Gesichtsmuskeln zuckten, er brachte keine Zeile mehr über die Lippen. Der Apotheker verhauchte nur noch ein „Ach“, dem ich nicht anzuhören vermochte, ob es der tiefsten Verachtung gegenüber einem Rohling entsprang oder fassungslosem Erstaunen. Seit dieser Zeit kam es seltener vor, dass die beiden sich, wie sie es bei der Verlesung solcher Verse bis dahin taten, feierlich erhoben, damit sich die gesamte Tischrunde an den Kostbarkeiten längst verstorbener Dichter erfreute.

Die Zeiten haben sich geändert!, klagten sie, und ich hörte ihrer Stimme an, dass die Achtung, die sie ihren Mitmenschen entgegenbrachten, in raschem Sinkflug begriffen war.

Wissen Sie, raunte Dönnewat, als er vor Eintreffen der anderen Herren mit dem Apotheker alleine am Tisch saß; er flüsterte eigentlich immer, wenn er nicht gerade seine Verse zum Besten gab; ebenso wie seinem Freund war ihm das zu einer Gewohnheit geworden.

Wissen Sie, am Ende wird man das laute Aufsagen von Versen in der Öffentlichkeit zu einem Akt des Aufruhrs erklären, und Bremme wird uns wegen Verbreitung falscher Tatsachen anklagen, weil wir von Flüssen reden, die nicht vorhanden sind, und von Tälern, die hier noch niemand gesehen hat.

Nun stellen Sie sich vor, mein lieber Julius, welche Pein mir erst all die jungen Hohl- und Hitzköpfe in der Schule bereiten, wenn wir hier schon gegen einen erwachsenen Mann wie Bremme ankämpfen müssen! Die muss ich täglich mit der Peitsche traktieren, wie ein Löwenbändiger sozusagen, damit sie die glitzernden Quatsch- und SMS-Apparate wenigstens für ein paar Minuten beiseite legen; diese Hohlköpfe wissen nicht einmal, wie unsere Dichter heißen, und wenn sie es wissen, bedeutet ihnen das überhaupt nichts. Können Sie sich vorstellen, mein lieber Julius, welch unerträgliche Seelenqual ein poetisch sensibler Mensch meiner Art in dieser Folteranstalt Tag für Tag durchstehen muss? Ich frage Sie, wie wird es in unserer Stadt in zwanzig Jahren aussehen, wenn die jungen Barbaren volljährig sind, die Schule verlassen und dann auf freier Wildbahn ihren banausischen Ton angeben? Ich sage Ihnen, dann werden wir Goldenberg nicht mehr wiedererkennen.

Dönnewat ist ein schüchterner Mensch mit einem stillen, aber immer noch jugendlichen Gesicht. Nur wenn er die Verse der Dichter spricht, geht eine Verwandlung mit ihm vor, so als würden die Geister der längst verstorbenen Poeten sich dann seines Kopfes bemächtigen, ihnen gleichsam als Sprachrohr dienen – wie das ja die Geister unserer Ahnen mit Vorliebe tun. Jedenfalls scheint es mir nur so erklärlich, dass er trotz seiner Schüchternheit die Verse mit so viel Feuer zum Besten gibt.

Noch geheimnisvoller kommt mir allerdings Julius vor, der Apotheker, in dessen Haus ich oben im zweiten Stock eine kleine Mansarde bewohne. Begegnet man ihm auf der Straße, so übersieht man seine unscheinbare Gestalt mit dem nichtssagenden Gesicht, aus dem sich keine besonderen Charaktermerkmale ableiten lassen, obwohl man ihn doch als den Inhaber der größten Apotheke der Stadt zu deren führenden Persönlichkeiten rechnen muss. Dass der Mann mit der verwaschenen Physiognomie in seinem Kopf eine Fülle von Geheimnissen trägt, wurde mir bald bewusst. Wie schon gesagt, fiel mir der seltsame Mann schon in den ersten Wochen meines hiesigen Aufenthalts auf, als er die obigen Verse sprach und sein Gesicht sich zu einem wunderbaren Leuchten verklärte. Inzwischen glaube ich zu ahnen, dass dieses leuchtende Gesicht sein eigentliches, sein in der Tiefe verborgenes, sein nur durch die Umstände nach und nach verdrängtes Gesicht ist. Ich ahnte es von dem Augenblick an, als ich es zum ersten Mal wagte – ja, wagte, denn für mich gehörte ein gewisser Mut dazu, so einschüchternd vornehm wirkt die mit Schnörkeln reichlich verzierte Apothekenfassade schon rein äußerlich auf den Besucher – als ich also die Kühnheit aufbrachte, meine Zurückhaltung zu überwinden und, das schwere Eingangsportal zu den Schätzen ihres Inneren öffnend, das Foyer der Pharmazie betrat, weil mich damals ein heftiger Schnupfen plagte, verbunden mit stechendem Kopfweh.

Außer mir gab es in dem halbdunklen Raum noch eine Anzahl weiterer Kunden und zudem noch ein Kommen und Gehen, wobei den gerade abgefertigten Besucher auf der Stelle ein kurz danach eingetroffener ersetzte. Mir sank das Herz in die Hose, denn es war doch damit zu rechnen, dass mein dunkles Gesicht mich in dem nur schwach erhellten Foyer der Apotheke schlechterdings unsichtbar machte. Natürlich brachte ich nicht den Mut auf, mich soweit nach vorn zu drängen, wie es der Reihenfolge meines Eintreffens entsprach. Zu meiner größten Überraschung - ehrlicherweise sollte ich sogar von einem Schrecken sprechen – hatte mich der Apotheker Julius aber aus der finsteren Tiefe seines weitläufigen Geschäftes schon erspäht und trat, wenige Sekunden nachdem ich sein Reich betreten hatte, mit eiligem Schritt hinter die Theke, um sich höchstpersönlich um meinen Fall zu kümmern.

Da ich meine Nase in ein Taschentuch drückte, konnte ihm das Übel, welches mich zu ihm getrieben hatte, nicht verborgen bleiben.

Auch Kopfschmerzen?, fragte er auf knappe Weise, wie es viele Goldenberger im Umgang mit Fremden tun, wenn sie ihnen gegenüber nur Stichworte verwenden, weil sie der Meinung sind, dass der Angeredete die Subtilitäten der Goldenberger Grammatik ohnehin nicht zu würdigen wisse.

Stechend!, gab ich ebenso kurz und bündig zurück, eine Antwort, die ihm sichtlich Befriedigung verschaffte, denn mit lauter Stimme, damit es seine beiden Angestellten ebenso wie die drei im Geschäft befindlichen Kunden hörten, erteilte er mir sogleich eine väterliche Belehrung.

Für Sie rühre ich etwas ganz Besonderes an, Sie kommen immerhin aus sehr großer Ferne. Sie sind ein Naturkind, da würden die üblichen Medikamente unserer überzüchteten Zivilisation kaum etwas nützen!

Als er sich von mir abwandte, um auf der Suche nach der richtigen Medizin neuerlich im Dunkeln seines weitläufigen Reichs zu verschwinden, hatte ich Gelegenheit, den Eingangsraum dieser Heilstätte zu bewundern. Auf breiten Regalen, welche die Wände rechts und links des Portals vom Boden aus bis zur Decke bedecken, befinden sich unzählige gläserne Behälter, in denen die Kunst verflossener Jahrhunderte sämtliche Essenzen versammelt hatte, mit denen der Mensch in Goldenberg seinen vielen Leiden zu Leibe rückt. Von diesen muss es hier unzählige geben, denn, wie ich recht bald bemerkte, hat fast jeder Goldenberger gegen irgendein körperliches Gebrechen zu kämpfen. Die einen halten sich für zu dick, die anderen für zu dünn, die einen quält eine zu trockene Haut, bei den anderen ist sie zu fettig, den einen schmerzen die Augen, weil sie zu weit, den anderen, weil sie nur in der Nähe sehen. Die größten Übel aber scheinen bei ihnen geistiger Art zu sein und sich deshalb vorwiegend in ihren Köpfen abzuspielen. Bei den einen rattern die Gedanken so andauernd und so heftig, dass sie nicht mehr abgestellt werden können; bei den anderen leidet der Kopf hingegen an unsäglicher Leere.

Liebe Leute, hatte der Apotheker einmal der Runde im Odysseus eine Einsicht offenbart, die er besonders zu schätzen schien, denn er trug sie im Ton der Vertraulichkeit wie ein Geheimnis vor. Ihr müsst wissen, dass es für jeden von uns nur eine einzige Art gibt, gesund zu sein; heute treffen wir diesen Zustand vermutlich nur noch im Dschungel bei den Wilden an, aber als die Kultur erfunden wurde, stieg die Zahl der Krankheiten auf unendlich an - und jeden Tag erfindet unsere Zivilisation noch Dutzende von neuen dazu.

Wem sagen Sie das?, lieber Kollege, platzte Dönnewat daraufhin mit einem Beispiel heraus, das ihn als Lehrer noch viel stärker beunruhigte. Es gibt nur eine einzige Art, ein Diktat richtig zu schreiben, aber Sie würden staunen, ja, Sie würden so richtig das Gruseln lernen, wenn Sie erlebten, wie viele mit roter Tinte geahndete Fehler meine kleinen Schulbarbaren in einem einzigen Satz - was sage ich? - in einer einzigen Zeile unterbringen.

Der Apotheker verzog das Gesicht, der Vergleich schien ihm unangemessen und irgendwie herabwürdigend für sein eigenes Gewerbe. Denn die Gesundheit, körperlich wie geistig, schien ihm doch unendlich viel wichtiger als ein richtig geschriebenes Diktat. Doch er enthielt sich der Widerrede, denn Dönnewat war sein einziger wirklicher Freund.

Damals also suchte ich mit meiner Erkältung das Reich des Apothekers Julius auf. Voller Ehrfurcht schweifte mein Blick über die grün lackierten Regale der Apotheke, wo die in bauchigen Gläsern verwahrten Pulver dicht an dicht nebeneinander stehen, eine wahre Farbsymphonie von Pulvern, die meisten in zurückhaltenden Tönungen zwischen Schiefergrau und Petersiliengrün, doch einige wenige überraschten mich durch blutiges Rot bis hin zu schwefligem Sonnengelb. Ich stellte mir vor, dass die leichteren Übel mit Pulvern von diskreter Tönung behandelt werden, während man schon als Moribundus erscheinen muss, um mit dem aggressiven Schwefelgelb oder dem blutigen Rot traktiert zu werden.

Doch da irrte ich mich in meinen Mutmaßungen, denn in Wahrheit war, was ich da auf den Regalen voller Ehrfurcht bestaunte, nichts als Geschichte. Apotheker Julius war längst kein General mehr, stets bereit, neue Kämpfer aus Sud und Pulver an die Front der Gebrechen zu schicken, indem er, wie noch sein längst verstorbener Vater, in einem fort neue Essenzen zermahlte, zerstampfte, mischte und gegen den vielköpfigen Feind antreten ließ. In Wahrheit war der Apotheker Jürgen Julius nur noch Statist, ein Befehlsempfänger in seinem eigenen Reich.

Wissen Sie, Dönnewat, wozu mich diese Halunken, diese Pharmafirmen, herabstuft haben, wozu sie mich degradierten? Ich darf nichts Besseres mehr sein als ein bloßer Handlanger der Industrie, die mir ihre Waren, fertig verpackt und zubereitet, ins Haus schickt, damit ich sie dann wie ein willenloser Roboter nur noch über die Theke schiebe. Früher einmal waren wir Apotheker alles zugleich: Erfinder, Alchimisten, Medizinmänner und Naturforscher auf eigene Faust und Rechnung; all die vielen Pulver in den Gläsern und Flaschen, die Sie bei mir auf den alten Regalen links und rechts vom Eingang meines Hauses bewundern, zeugen von unserer Jahrhunderte währenden Regsamkeit im Kampf gegen Verfall, Krankheit und Tod. Doch heute ist all diese Pracht nur noch Dekoration – ganz wie ich selbst. Ich bin ein trauriges Überbleibsel aus einem vergangenen Jahrhundert.

Als ich damals seine Worte hörte, begriff ich plötzlich, warum es im Gesicht des Apothekers diesen Zug von Wehleidigkeit gibt; ich begriff, dass der arme Mann in einem Museum lebt, dessen einstige Größe sich nur noch aus den grün lackierten Regalen erahnen lässt mit all ihren längst unbrauchbaren Schätzen. Und ich begriff auch, wie sehr ihn deswegen gerade mein Erscheinen begeistern musste, die Ankunft eines Naturkinds, denn einem solchen konnte er doch unmöglich eines der vorgefertigten Medikamente verkaufen, die nur für den überzüchteten Zivilisationsmenschen taugen! Zum ersten Mal bot sich ihm wieder die Möglichkeit, ein Spezialrezept aus eigener Kunst anzubieten.

Na ja, ich habe es überlebt.

Die Leiden des Schwarzen Peters

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