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Die Geisterschachtel


Mai, 4 Monate vor Erbauung des Gump;

Seelentemperatur: jaulender Wildhund;

Geisterkontakt: keine Verbindung;

Witterung: zum ersten Mal einschmeichelnd warm.

Inzwischen weile ich schon zwei Monate in der Fremde, wo ich täglich den Mächtigen dieser Stadt aufwarte, die gerade wieder im Begriff sind, ihre vorbestellten Plätze zu besetzen, wobei ich - beinahe unsichtbar in meinem diskreten Schokoladenbraun und unbemerkt auch schon aufgrund meiner Stellung als dienendes Element - diesen Gesprächen mit feinem Ohr lausche; nein, es entgeht mir fast nichts, ich bin ja, um es ganz offen auszusprechen, eine Art von Spion mit dem Auftrag, ein Rätsel aufzuhellen, nämlich die wundersame, manchen völlig unbegreifliche Geistesverfassung der Menschen von Goldenberg.

Wie gesagt, befinde ich mich mittlerweile schon nahezu drei Monate unter den Einheimischen und kann euch versichern, dass mein Staunen seitdem nur gewachsen ist - nein, aus dem Staunen ist sogar eine sich ständig steigernde Verwirrung geworden, denn wie gefährlich ich hier in Wahrheit lebe, das weiß ich erst, seitdem ich das große, leere Haus mit der in der Sonne funkelnden Spitze aufsuchte, ich meine die Geisterschachtel. Meine Mission macht mir diese Kühnheit zur Pflicht, ich muss einfach wissen, was sie da an ihren Feier- und Sonntagen so treiben.

Was ich dort erlebte, ist wahrhaft seltsam genug! Die Leute verändern sich dabei so sehr, dass ihr sie kaum wiedererkennen würdet. Der Stadtobere und, wie ich glaube, mein Gönner, Bürgermeister Bremme zum Beispiel und der Chemiker Angus Saase haben, solange sie im Odysseus sitzen, der zweite eine unangenehm schnarrende Stimme, so wie wenn jemand mit einer Säge Pappe schneidet, der erste ein Fistelorgan, so wie wenn einem Anfänger der Bogen auf einer Geigensaite ausrutscht.

Wie gesagt, so kenne ich sie aus der Laube an den Gasttischen des Odysseus, aber in der Kirche waren sie völlig verwandelt, nicht wiederzuerkennen, einfach von Grund auf ausgewechselt! Beide hatten dort weit geöffnete Münder, es sah wirklich unheimlich aus, aber sie öffneten sie nicht, um zu schnarren bzw. um auf der Saite eines Streichinstruments ungeschickt auszurutschen, sondern um aus voller Brust ihre Verehrung für den Geist in den Raum zu schmettern – so etwas habe ich in meinem Leben noch nie gesehen und auch niemals gehört. Dabei schienen sie richtig glücklich zu sein wie kleine Kinder, denen man mit süßen Näschereien gerade eine besondere Freude macht; einigen unter den Singenden rannen sogar Tränen über die Wangen.

Ja, und das gewaltige Schiff der großen Backsteinschachtel erbebte von all dem Gesang, nur ich allein brachte es nicht fertig, inmitten der donnernden Hallelujas auch nur meinen Mund zu öffnen. Fremd und einsam kam ich mir in all dieser Fröhlichkeit vor, denn ich kannte ja weder das Lied noch den Text, und überhaupt bin ich derartige Sangesweisen ja gar nicht gewohnt. Dennoch habe ich ganz unten in der Tiefe meines Magens so etwas wie ein merkwürdiges Ziehen verspürt, sehnsuchtsvoll und beängstigend zugleich. Ich konnte mich einer gewissen Bewunderung gar nicht erwehren, denn ich dachte bei mir:

Aha, hier in diesem sonst ganz leerstehenden Haus treffen sie also einmal in der Woche zusammen, um zu vergessen, dass sie sich sonst jeden Tag aneinander reiben, streiten und ärgern. Hier versöhnen sie sich, indem sie die Münder ganz weit aufsperren und gemeinsam ihre Lieder zum Himmel schmettern. Hier, dachte ich, werden sie für eine Stunde zu edlen Menschen.

So dachte ich, bevor ich meinen Irrtum erkannte, bevor ich von solchen Illusionen geheilt worden bin. Nein, die Goldenberger führen, so kann ich euch jetzt aus eigener Erfahrung berichten, ganz gewiss keine harmlose Existenz, nicht einmal in der großen Gottesschachtel. Keineswegs sind sie so edelmütig, so lieb, so friedvoll, so gut, wie ich wähnte, nachdem ich meine Furcht vor der erstmaligen Begrüßung durch Bremme überwunden hatte und mich in ihrer Mitte beinahe sicher dünkte. Seit ich sie im Inneren ihres Geisterhauses beobachtet habe, dort wo die Frau Pastor herrscht und der angerufene Geist vielleicht ja das eine oder andere Mal auch zu Besuch erscheint – persönlich habe ich ihn freilich nicht sehen können -, trage ich ein furchtbares Geheimnis mit mir herum: Die Goldenberger, und zwar ausnahmslos alle, neigen einem furchtbaren Laster zu.

Diese Erkenntnis hat mir keine Ruhe gelassen, unbedingt wollte ich die Frau Pastor nach der Wahrheit fragen, an die ich mich aber vorsichtig herantasten musste, denn wir wissen ja, dass niemand sie geradeheraus bezeugt, wenn man sie mit Schraubzwingen aus ihm herauspressen will. Ich habe daher – natürlich einige Zeit nach diesem ersten Besuch – nach der Art der Wesen gefragt, die sie dort besingen und verehren, und dabei klärte mich die Pastorin auf, dass es sich insgesamt um nicht weniger als drei Geister handelt: Vater, Sohn und heiliger Geist. Der Sohn sei stets anwesend, denn jeder könne ihn an dem kreuzförmigen Gestell ganz vorn im Gotteshaus sehen, der Vater, so sagte sie, sei aber für die ganze Welt zuständig, der wohne deswegen in den Weiten des Universums. Näheres konnte mir die Torbrück trotz meines hartnäckigen Fragens nicht sagen. Aus Höflichkeit unterließ ich es, sie darauf hinzuweisen, dass der Vater für meine Heimat ganz gewiss nicht zuständig sei, denn da gebe es andere Geister, Loso zum Beispiel, meinen Schutzengel, von dem sie aber leider nichts weiß, denn die Goldenberger denken ja nicht über den Horizont der eigenen Stadt hinaus.

Das dritte Wesen, das sie hier verehren, sei der heilige Geist, fügte sie noch hinzu, der liebe es, sich in Gestalt einer weißen Taube zu manifestieren. Ihr könnt euch denken, liebe Ältesten, dass ich bei jeder Gelegenheit, wenn ich danach einen Blick auf die Geistschachtel warf, nach der weißen Taube Ausschau gehalten habe, allerdings ohne Erfolg, denn eine solche habe ich weder in der großen Schachtel selbst noch in ganz Goldenberg jemals entdecken können. Euch gegenüber kann ich bezeugen, dass die Stadt vom Heiligen Geist völlig verlassen ist.

So bleibt als einziger Bewohner, dessen Gegenwart ich aufgrund eigener Erfahrung beeiden kann, der leidende Mann, der vorn in der Kirche hängt. Allerdings ist er aus Holz geschnitzt und hat sich trotz der Beschwörungen, ich meine, trotz der kraftvollen Predigt der Frau Pastor und der darauf folgenden donnernden Gesänge der Gläubigen nicht ein einziges Mal geregt – ich kann das bezeugen, denn ich habe die Gestalt die ganze Zeit über unentwegt im Auge gehabt. Wenn ihr also meine bescheidene Meinung hören wollt, so muss es sich um einen recht schwachen Geist handeln, ohnmächtig würde ich ihn nennen, jedenfalls nicht zu vergleichen mit denen aus unserer Heimat, wo die Geister der Steine, Flüsse und Bäume sich vor unseren Augen zu regen beginnen, sobald ein tüchtiger Medizinmann mit seinen Beschwörungen beginnt. Mein lieber Loso zum Beispiel – leider ist er hier in der Fremde immer noch stumm – hat mir früher viele mächtige Wunder bezeigt, er ist ein kräftig wirkender Geist, auf den ich mich in der Not stets verlassen konnte.

Also, wie gesagt, der Mann da vorn am Kreuz regt sich nicht - trotz allen Zaubers, den die Frau Pastor Torbrück von der Kanzel mit mächtiger Stimme wirkt. Vielleicht ist dies der Grund – ich weiß es nicht, aber es kommt mir wahrscheinlich vor, weil der Mensch ja generell zu wüsten Handlungen neigt, wenn man ihn in seinen Erwartungen enttäuscht. Ich meine, vielleicht ist dies der Grund, warum sich die Gläubigen vor lauter Enttäuschung darüber, dass all ihre Beschwörungen nutzlos sind, am Ende an dem Geist rächen und dann etwas Furchtbares tun. Ich kann es vor aller Welt bezeugen, denn ich habe es nicht nur aus dem Mund der Frau Pastor selbst gehört, die sich dabei nicht einmal zu schämen schien, sondern ich habe es in dem großen Haus mit eigenen Augen gesehen: Sie verspeisen den Leib des Herrn. Sie sind Kannibalen!

Diese Erkenntnis hat mich erschüttert, ich fühle mich an ein Märchen erinnert, ein schreckliches Märchen aus meiner Jugendzeit, das ich damals von den Lippen meiner Mutter vernahm. Eines Nachts, als er sich schlafend stellte, hat der Liebhaber eines bezaubernden Mädchens dieses dabei ertappt, wie es sich in aller Stille von dem gemeinsamen Lager erhebt. Noch denkt er sich nichts dabei, glaubt nur, dass sie ein böser Traum aus dem Schlafe reiße. Doch dann sieht er, wie sie nach einem Besen greift, die glatte Haut abstreift und stattdessen das runzlige und warzenübersäte Äußere einer Hexe annimmt, die mit ausgebreiteten Fledermausflügeln zum Fenster in die Nacht hinaus fliegt. Der Liebhaber ist zu Tode erschrocken, nie wieder wird er das gemeinsame Haus aufsuchen.

So wie ihm ergeht es mir mit den Goldenbergern, seit ich von ihrer schrecklichen Sitte weiß, nur dass es für mich kein Entrinnen gibt: Ihr habt mich ja hierher geschickt. Auch wenn mein Leben noch so sehr in Gefahr ist, habe ich auf euer Geheiß meine Mission dennoch fortzuführen. Jetzt aber bin ich mir bewusst, wie sehr mich die Gefahr ständig umlauert. Wer sagt mir denn, dass diese Menschen, wenn sie es in dem großen Haus schon öffentlich tun, nicht auch in privatem Verkehr das Laster der Menschenfresserei betreiben? Die Pastorin gab sich zwar große Mühe, meine Furcht zu zerstreuen. Sie behauptete rundheraus, dass die Goldenberger sonst keine Leiber verspeisen, weder die von lebenden noch die von längst verstorbenen Menschen. In der Kirche handele es sich um einen symbolischen Akt, den ich erst noch verstehen müsste, so weit sei ich eben noch nicht.

Doch weiß ich nicht, ob ich ihr glauben soll, denn es ist ja eine bekannte Tatsache, dass jeder zwar gern über die eigenen Tugenden spricht, aber die Laster in der Regel sorgsam verschweigt. Das sind dann die sogenannten Tabus, über die neimals geredet wird. +++sache, dass jeder zwar gern über die eigenen Tugenden spricht, aber die Laster in der Regel soüber die in der Öffentlichkeit niemals geredet wird ...

Jedenfalls erfüllt mich ein Gefühl tiefreichender Unsicherheit, seit ich mich in die Geisterschachtel vorwagte, denn jedem Beobachter muss ja der Gegensatz ihrer Handlungen in die Augen springen: Ich meine, dass sie erst ihre zu Herzen gehenden Lieder singen, wobei der ganze Kirchenbau von diesem Gesang dröhnt und erbebt, während es über dem Eingang, den sie Empore nennen, nur so scheppert und donnert von all den aufjauchzenden Tönen, die da aus einem ganzen Wald von silbernen Pfeifen und Röhren dringen. Welch ein Spektakel, welche Freude, sagt sich der arglose Fremde, aber dann geben sie sich gleich danach mit dem gleichen Ausdruck der Freude und dem gleichen Leuchten in ihren Augen – Bremme und Saase habe ich ja ständig im Blick gehabt – diesem unseligen Laster hin, als wäre das die natürlichste Sache der Welt.

Wie soll ich mir und euch diesen Widerspruch erklären? Muss ich nicht jederzeit damit rechnen, dass sie hier im Odysseus, wenn die Hure Pier sie so richtig an ihren Busen drückt und sie dabei immer derber und fröhlicher werden, plötzlich ihre Arme zu mir ausstrecken und voller Gier nach mir greifen? Es ist wahr: Meinen bisherigen Beobachtungen zufolge scheinen sich die kannibalischen Neigungen der Einheimischen in erster Linie auf die eigenen Artgenossen zu richten - der Geist, den sie in ihrem Gotteshaus in aller Öffentlichkeit verspeisen, wird am Kreuz ja auch als Mensch von weißer Hautfarbe dargestellt -, aber kann man mir wirklich garantieren, dass sie nicht auch einen braunen Happen wie mich zu schätzen wüssten und gegebenenfalls sogar mit Gusto vertilgen? Vielleicht wäre das dann auch die natürlichste Sache der Welt!

Übrigens fühle ich mich hier noch von anderen Rätseln verfolgt. Was wollte die Frau Pastor denn eigentlich sagen, als sie gegenüber dem Bürgermeister von dem möglichen Versinken ihrer Kirche im Untergrund sprach? Ich kann mir keinen Vers daraus machen. Glauben die Einwohner von Goldenberg etwa, dass die Erde ein aufgeblasener Ballon oder eine Hohlkugel sei, in deren Innerem große Gebäude mitsamt ihren Bewohnern plötzlich verschwinden? Sind sie wirklich zu solchem Aberglauben imstande? Je näher mich meine Tätigkeit im Odysseus mit den Gedanken und Überzeugungen der Eingeborenen bekannt werden lässt, umso mehr plagen mich Unverständnis und Verwirrung.

Die Leiden des Schwarzen Peters

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