Читать книгу Die heilige Henni der Hinterhöfe - Tim Krohn - Страница 10
Berlin macht sich frei
ОглавлениеNachdem der Krieg vorbei war, floss in Berlin erst richtig Blut. Nun ging es nicht mehr gegen die Franzosen, Engländer oder Russen, sondern gegen die Nachbarn. Zu Hause borgte man sich immer noch Wasser für die Toilette, aber auf der Straße war man einander spinnefeind. Justus Karnerich hielt es mit den Roten, Kalle Grafenhuber, der über ihm wohnte, mit den Freischärlern. Professor Hein regierte eine kurze Zeit als Sozialdemokrat mit (dann wollte seine Leber nicht mehr).
Auch in der Schule gab es welche, die trugen das Abzeichen vom Deutschnationalen Jugendverein oder vom Bismarckbund. Kuddl und seine Bande Gott sei Dank nicht, die wollten nur Spaß, und Kuddl konnte sich herrlich aufregen. Aber er hatte auch recht: Wenn Freikorpskämpfer, das waren die Rechten, sich als Truppen der Regierung verkleideten, die wiederum sozialdemokratisch war (»das Ganze is ja nun ne Republik«), und so am Montag die Kommunisten niederschossen und am Dienstag ein rivalisierendes Freikorps, am Mittwoch wiederum von der Regierung in Dienst genommen wurden, um hochoffiziell einen Streik aufzulösen, weil Polizei und Truppen das nicht »jebacken« kriegten, dann konnte man nur noch für die Kommunisten sein. Andererseits hieß es, die wollten, schlimmer noch als die Siegermächte, alle deutschen Werte zerstören und russische Verhältnisse einführen, und doch, kaum waren Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg glücklich erschossen und der Spartakusbund aufgelöst, ging halb Berlin auf die Straße und trauerte um die Leute, und die Regierung erschoss gleich noch mal tausend von ihnen. Das sollte jemand verstehen!
Dazu fiel, seit Frieden war, andauernd etwas aus, mal die Straßenbahn, mal der Strom, das Wasser oder die Post. Das bedeutete meist, dass irgendwo wieder eine Regierung gestürzt und die nächste an der Macht war, aber trotzdem ging alles gleich weiter.
Und weil ja nun kein Krieg mehr war und kein Endsieg mehr winkte, wurde es schwer, sich im Alltag zu amüsieren. Kuddls Bande gab dennoch ihr Bestes, und Henni trug weiter seine Klamotten auf, nannte sich Henri und war mit von der Partie.
Im Frühjahr 19 spitzte sich das »Tohuwabohu«, wie Frau Professor Hein es nannte, zu: Schulen wurden besetzt, Direktoren erschossen, auf den Pausenplätzen wurde gekämpft, und die Bande machte sich einen Sport daraus, durch Hinterhöfe und über Dächer in die abgesperrten Straßen zu kommen und im Rücken der Kampfverbände wieder raus.
Trotzdem war irgendwie Frieden, Frieden mit Aprilwetter sozusagen.
Zum Beispiel spazierten Binneweisens mit zehntausend anderen Unter den Linden entlang (am Sonntagmorgen ging sogar Mama an die frische Luft), als plötzlich Panzer auffuhren, alles rannte und sich versteckte, ein bisschen geschossen wurde, mal von vorn, mal von hinten. Doch schon nach ein paar Minuten war alles vorbei, die Leute kamen wieder aus den Torbögen hervor. Wer sich hingeschmissen hatte, dem klopfte man den Staub ab, dann flanierten alle weiter.
»Wir lassen uns den Frieden nicht vermiesen«, sagte Mama bei der Gelegenheit und steckte seelenruhig das Hütchen neu, und Henni musste lachen, weil Mama so verdreht dachte, denn in Wahrheit hatte doch der Frieden den Krieg vermiest.
Das fand jedenfalls – mal abgesehen von den Eltern Binneweis – ganz Berlin, und damit es nicht zu langweilig wurde, war jetzt jeden Abend Vergnügen angesagt. Alle rannten dauernd zum Tanzen, und zwar zu amerikanischer Musik.
»Die enthemmt so herrlich«, sagte sogar Hennis Lehrerin Frau Kannegießer, die ging auch.
Und mit der Musik kamen Kleider, die das Knie frei ließen, Seidenstrümpfe waren der letzte Schrei, und bei so einem Seidenstrumpf will man ja immer auch wissen, wo er denn aufhört. So war für Aufregung gesorgt, und wenigstens nachts war das Endziel wieder klar: Der Feind war erlegt, wenn er Stielaugen machte. Im Nu war Berlin »sexualisiert«, wie Kuddl es nannte, wobei er das Wort lutschte wie einen Bonbon.
Auch Henni wurde »sexualisiert«, allerdings nicht beim Tanzen. Sie waren als Bande unterwegs gewesen und hatten ein Sperrgebiet hinterm Alex »erobert«, dabei waren sie in ein Gefecht geraten und wurden versprengt. Henni rettete sich in einen Kohlenkeller, zusammen mit Herbert, einem Hageren mit Bürstenschnitt aus Kuddls Jahr, der immer schnell rote Flecken ins Gesicht bekam. Dort saßen sie erst mal fest, denn oben wurde immer wieder geschossen. Eine Weile lehnte jeder an seiner Wand und hörte nach draußen, dann sagte Herbert ganz aus dem Nichts: »Glotz mich nich so an.«
Henni erschrak, weil seine Stimme sonderbar kollerte, außerdem hatte sie gar nicht ihn angeglotzt, sondern ihren Fingernagel, den sie sich auf der Kohlerutsche eingerissen hatte. »Ich glotz dich doch gar nicht an«, sagte sie und sah hoch, »du bist der, der glotzt.«
»Siehste«, sagte Herbert und grinste, »jetzt glotzte mich doch an.« Dann räusperte er sich.
»Ich seh nur deine roten Flecken an«, antwortete Henni und lutschte Blut.
»Die hab ich wegen dir.«
»Blödsinn, die hast du vom Rennen. Du kriegst immer so rote Flecken.«
»Ja, aber von dir«, beharrte Herbert und wurde immer heiserer, da half alles Räuspern nichts.
Henni sagte dann nichts mehr, und wäre draußen nicht mehr geschossen worden, wären sie wohl aufgestanden und wieder raus.
Aber es wurde noch, und Herbert holte tief Luft, hustete und verriet: »Ich kriege von dir nicht bloß rote Flecken.«
Henni tat, als interessierte sie nur ihr Nagel, obwohl sie schon neugierig war, was jetzt kam.
»Willste nich wissen, was ich noch krieg?«
»Nee«, sagte Henni, »von mir kriegste jedenfalls nüscht.« Gleichzeitig hörte sie draußen wieder eine Salve und freute sich, denn sie wollte hier so schnell nicht wieder weg.
»Weißt du, wasn Harter is?« Diesmal überschlug Herberts Stimme sich sogar.
»Nee, weiß ich nicht«, antwortete Henni, obwohl sie das sehr wohl wusste, seit sie im Winter 17 zu viert in einem Bett geschlafen hatten und Kuddl sich hatte an sie quetschen müssen, um nicht rauszufallen. »Aber ich wette, du wirst es mir zeigen.«
»Was wettest du?«, fragte Herbert. Offenbar bekam er Angst vor der eigenen Courage.
Aber Henni lachte nur. »Hast du Heftpflaster?«, fragte sie und leckte an ihrem Finger, der wieder blutete, weil sie zu sehr daran herumgefingert hatte.
Herbert schüttelte den Kopf. Danach wusste er nicht weiter und sah stumm zu, wie sie am Nagel lutschte.
»Nu, dann zeig mal deinen Harten«, sagte sie irgendwann, »solange sie noch schießen.«
Ein paar Sekunden lang war er stumm, dann sagte er: »Vielleicht ist er nicht mehr so hart.«
»Hm«, sagte Henni und schob die Mütze aus der Stirn, sodass er ihre Augen gut sehen konnte und die nackte Stirn, dazu blickte sie ihm fadengerade ins Gesicht. Das reichte. Als sie fragte: »Nu, isser hart?«, nickte Herbert. Die Flecken auf den Wangen und am Hals wurden noch dunkler, ansonsten war er wahrscheinlich bleich wie Schneewittchen, jedenfalls schimmerte er ganz wunderbar im Halbdunkel, und endlich knöpfte er die Hose auf und zeigte seinen Harten.
»Darf ich anfassen?«, fragte Henni, und als Herbert nickte, fasste sie seinen Harten mit zwei Fingern, so, wie man eine Blindschleiche fasst. »Und nu?«, fragte sie.
»Wenn du«, sagte Herbert und musste schlucken, »wenn du vielleicht die Mütze ausziehen und deine Matte …«
Mehr brachte er nicht heraus, und so nahm Henni die Mütze ganz ab und beugte sich vor und schüttelte das Haar aus. Dabei streifte es seinen Harten, und gleich spritzte er. »Jetzt hast du gespritzt«, stellte sie fest.
»Weiß ich selber.« Er klang plötzlich sauer und wollte wieder einpacken.
Aber Henni sagte: »Lass mal noch, sie schießen ja noch.« Danach fasste sie mit beiden Händen zu und untersuchte seinen Johannes, der jetzt aussah wie die Spritztüte beim Bäcker. »So was sieht man ja nicht alle Tage.« Sie schnupperte und tippte einmal mit der spitzen Zunge. »Wird er jetzt nicht mehr hart?«
»Weiß nicht.« Herbert flüsterte inzwischen nur noch. »Vielleicht, wenn du ihn richtig in den Mund nimmst.«
Henni überlegte kurz, dann richtete sie sich aber wieder auf. »Nee, Herbert.« Sie wickelte ihr Haar wieder auf und suchte nach der Mütze. »Pack mal wieder ein. So weit geht unsere Freundschaft noch nicht.«