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Hendrik

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Im dritten Hinterhaus über dem Leierkastenmann wohnte Hendrik zur Untermiete beim Schuster Klapp. Wie Kuddl im Kleinen, handelte Hendrik im Großen. Er war ein kantiger Schlaks mit schwarzem Wuschelhaar, den sie als Kinder immer abgepasst hatten, weil er selbst noch ein halbes Kind war und außerdem so schön erzählen konnte. Zum Beispiel behauptete er, sein »Alter« sei in China beim Boxeraufstand und »Muttchen« samt Hendriks kleinem Bruder Max anno 09 in der Petersburger Choleraepidemie umgekommen, und das habe ihm nicht nur ein nettes Erbe eingebracht, sondern dazu noch Vollwaisenrente. Ob das stimmte, war nicht zu sagen, aber tatsächlich hatte er 1910, mit siebzehn Jahren, Geld genug, um eine ganze Fuhre Gasmasken zu kaufen, fabrikneu, weil gerade der Halleysche Komet im Anflug war und alle damit rechnen mussten, an giftigen Gasen zu sterben. Auf der Straße verschacherte er sie zum vierfachen Preis, außerdem verkaufte er Flaschen mit »Höhenluft«, die hatte er über Nacht einfach geöffnet unters Dach gestellt. Kuddl, der damals acht war, durfte ihm für einen Fünfer helfen, die Etiketten aufzukleben. Als der Komet dann vorbeigerauscht war und kein Mensch vergiftet, kaufte Hendrik die Gasmasken um einen Pappenstiel zurück und lagerte sie seither unterm Dach. »Der nächste Komet kommt ooch noch«, sagte er, wenn der Leierkastenmann Paul Pauli schimpfte, es stinke an den heißen Tagen bis in seine Bude hinunter nach verbranntem Gummi.

Hendrik machte andauernd Geschäfte. Als der Krieg kam, konnten Frontsoldaten auf Urlaub, die nicht gleich wieder einrücken mochten, bei ihm »Jeschlechtskrankheiten koofen«. Eine Mark kostete eine erfolgreiche Ansteckung mit Tripper, damit landete man für vier Wochen in der Charité – das Honorar der beteiligten Dame wurde separat verrechnet. Für zwei Mark gab es weichen Schanker und sechs Wochen Charité, fünf Mark kostete die Syphilis, dafür war das »jeschlechtliche Vergnügen« gratis, weil die Dame angeblich froh über Besuch war, und mit dem lustigen Soldatenleben war’s ziemlich sicher für immer vorbei.

Als Hendrik selber einrücken sollte, waren die ungesunden Huren vom Reichsgesundheitsamt leider gerade aus dem Verkehr gezogen worden. Er versuchte sich erst mit Geschenken und »guten Kontakten« zu drücken, da war sein Geld aber schnell alle. Deshalb seifte er den linken Arm dick ein, wickelte ihn über Nacht in nasse Tücher und rannte am Morgen, als er einrücken sollte, mehrmals gegen den Türrahmen. Er hatte sich sagen lassen, dass man sich so sehr zuverlässig den Arm brechen konnte. Der brach und brach aber ums Verrecken nicht, also rückte er notgedrungen ein.

»Lass ich mich eben durchlöchern wie mein Alter«, rief er alle paar Meter, während er zur Kaserne marschierte.

Stattdessen war er jedoch schon im Sommer darauf wieder zu Hause, und der linke Arm nicht bloß gebrochen, sondern ganz weg, Handgranate. »So jehts ooch«, sagte er.

An der Front war er schon wieder reich geworden, er hatte mit Sexcoupons gehandelt. Das deutsche Heer hatte nämlich so ein System, damit die Soldaten »nicht den Feind schwängern«. Dazu gehörte neben Dienstbordellen und ärztlich kontrollierten Damen ein Büchlein mit Coupons, die jeder Frontsoldat bekam, das war seine Ration an Vergnügen. Die Dauer der Bordellbesuche, Tageszeit und Güteklasse der Huren errechnete sich aus Dienstgrad, Heereseinheit und Zahl geleisteter Kampfeinsätze. Wie gut sich mit diesen Coupons handeln ließ, begriff Hendrik, als er selbst im Lazarett war, da lagen Hunderte Rationen brach. Er organisierte sich ein Startkapital und einen, den er »Steher« nannte. Der stand im Heerescasino auf der Matte, denn dort verkehrten die, die ihre Ration Sex bereits verfrühstückt hatten, und verkaufte ihnen Extrarationen. Damit der »Steher« Hendrik nicht behumpste, besorgte der ihm Morphium vom Lazarettarzt.

Beim Lazarettarzt wiederum, der ebenfalls mit seinen Coupons nichts anfangen konnte, weil er auf »Knabenliebe« stand, legte Hendrik selber Hand an. »Eene hab ick ja noch.« Darüber kicherten Henni und Kuddl am meisten, und »Eene hab ick ja noch« wurde für eine ganze Weile ihr Spruch.

Hendriks Untergang war, dass er zu ungern ein lohnendes Geschäft ausließ. Er besaß ja noch die Fuhre Gasmasken, die in der Hitze unterm Dach litten, die mussten endlich weg. So schaltete er denn in der Kriegszeitung ein Inserat, wies die »werte Bevölkerung« darauf hin, dass die Franzosen mittlerweile »Giftgas gegen unsere Truppen schleudern«, und riet dazu, den Männern neben dem üblichen Taschenöfchen Marke Vaterland, Kaiser’s Brustcaramellen und Altenhofer Punsch aus der Tube auch eine »Vollgesichtsmaske mit Aktivkohlefilter aus dem Hause Hendrik M.« ins Feld zu schicken. Das Inserat wurde nie gebracht, dafür wurde Hendrik wegen »verleumderischer Volksverhetzung« und Hochverrat verhaftet und doch noch durchlöchert wie weiland im Boxeraufstand sein Alter.

Justus Karnerich fasste den Auftrag, die Gasmasken zu konfiszieren. Henni hätte zu gern eine zum Andenken behalten.

»Sind doch schon ganz morsch«, sagte sie und zog an einem Riemen, der auch gleich brach, dabei zwinkerte sie ihm zu.

Doch Justus nahm ihr noch die kaputte Maske ab, packte sie zu den anderen und sagte: »Nichts da, die kriegen unsere Jungens an der Front.«

Die heilige Henni der Hinterhöfe

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