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Erwerbsleben

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Im Sommer 1919 trieben es die Berliner den Stadtvätern dann zu bunt, und das Organisieren von Tanzveranstaltungen wurde ebenso verboten wie das Fischen mit Handgranaten, womit die Kriegsveteranen sich den Hunger und die Zeit vertrieben. Die Jungens, auch Kuddl, spielten fortan wie besessen Fußball, das war neuerdings sogar Schulsport, und dort konnte man noch richtig gewinnen. Die Mädels tanzten im Privaten mit »geladenen Gästen«, und statt Frischfisch aus den Berliner Seen gab es »Proteine aus der Tube«, wie Anna Köchel scherzte, die es von allen Mieterinnen in der Kaserne am dollsten trieb. Sie wohnte im Vorderhaus unterm Dach und veranstaltete dort sogenannte Schönheitsabende.

Was Anna Köchels Scherz bedeutete und dass Berlins »Sexualisierung« nun eben in den Hinterhöfen blühte (oder in Anna Köchels Dachwohnung), begriff Henni erst, als sie entschied, berufstätig zu werden. Was man in der Schule lernte, war ja ein paar Wochen später ohnehin nichts mehr wert, das wussten auch die Lehrer, und entsprechend freudlos schleppte sich der Unterricht. »Unsere Gesellschaft geht vor die Hunde«, sagte Rektor Hinrichs gar in seiner letzten Quartalsansprache, »in solchen Zeiten lernen Sie am besten zu schnüffeln.« Er wollte damit wohl nur Lacher ernten, aber die national gesinnten Burschen führten sich tatsächlich auf wie bissige Hunde, trugen Schlagringe und Gummiknüppel mit sich, steckten ihre Nase in alles, und wenn sie fanden, einer komme ihnen zu kommunistisch, lauerten sie ihm auf und hauten ihn weg. Auch Rektor Hinrichs wurde ein paar Wochen nach seiner Ansprache halb totgeschlagen und kehrte nicht in den Dienst zurück.

Seit ihrem sechzehnten Geburtstag war Henni aus der Schulpflicht. Den Winter über hatte sie noch durchgehalten, dann aber schmiss sie die Schule von einem Tag auf den anderen, ging stattdessen zum Frisör und wollte andere Haare.

»Wie denn?«, fragte Herr Pavellek, der ganz unbeschadet aus dem Krieg zurückgekehrt war (nur sein verkürztes Bein hatte er natürlich noch).

»Was weiß ich« sagte Henni. »Am liebsten hätte ich sie kurz wie meine Jungens.«

»Da hab ich was«, sagte Pavellek und zeigte ihr das Bild einer englischen Tänzerin, die Irene Castle hieß. »Nennt sich Bob, soll Mode werden.«

Den Bob fand Henni toll, und sie beschloss auch gleich, wie Irene Castle Tänzerin zu werden.

»Ach Kind, muss das sein?«, fragte Mama.

Papa sagte erst gar nichts, dann sagte er: »Was soll man in dieser Zeit auch werden.«

Und als Henni erzählte, dass Fräulein Stresemann fand, sie hätte genau die Beine dafür, und sie ganz ohne Geld anlernen wollte, waren sie doch froh.

Fräulein Stresemann war ihre Nachbarin gewesen, ehe die Binneweisens sich hatten verkleinern müssen. Sie war adrett und freundlich, und als Mama fragte: »Die tanzt doch klassisches Ballett, nicht wahr?«, konnte Henni mit fast reinem Gewissen nicken. Das Ballett war nämlich pleitegegangen, und Fräulein Stresemann tanzte jetzt modern. Und nackt. Bei Anna Köchel. Aber alle Welt tanzte jetzt nackt.

Die Sache mit dem Verkleinern war die gewesen: Nach Kriegsende hatte die Post Arthur Binneweis in eine niedrigere Lohnstufe versetzt – vorübergehend, hieß es –, und sie waren ins vierte Hinterhaus gezogen. Statt einer Wohnung hatten sie nur noch ein Zimmer mit Ofen, Henni hatte ihr Bett unter der Treppe beim Etagenklo. Kreti und Pleti kamen da durch, aber es waren alles gute Leute, außerdem schlief Kuddl einen Stock höher, auch unter der Treppe, und »bewachte« sie. Inzwischen war Kuddl allerdings politisch geworden, besuchte Abendkurse am Schlossplatz und blieb meist die halbe Nacht weg. Das bedeutete, Henni konnte schalten und walten, wie sie wollte.

Ohne das wäre aus ihren Zukunftsplänen auch nichts geworden. Denn Fräulein Stresemann – die sich nun »Mitzi« nannte – unterrichtete sie nachts von zehn bis drei viertel zwölf. »Das heizt mich gleich prima auf«, erklärte sie. Danach, Schlag zwölf Uhr, ging, nein, glitt und hüpfte sie zu Anna Köchel ins Vorderhaus und tanzte sich die Hitze wieder aus dem Leib.

Bereits am ersten Abend lernte Henni eine gute Stunde lang, um Fräulein Stresemann herumzugleiten und -zuhüpfen und »sich der Musik zu öffnen«. Nach Mitternacht lernte sie dann alles andere.

Die heilige Henni der Hinterhöfe

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