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Alles piefig

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Arthur Binneweis konnte sich für seine Tochter nichts Besseres denken, als dass sie Fräulein vom Amt oder Stenotypistin würde. Hennis Mama Ruth Binneweis versuchte sie dagegen für die Häuslichkeit zu begeistern: für fachgerechtes Scheuern der Fußböden (Fettlauge und Bürsten nach Strich für die Bohlen, Milchwasser und Leinen für den Linoleumteppich, dazu täglich Bohnern mit einem Ärmel von Papas alter Jägerjoppe, die ihm lange vor Hennis Geburt ein aufgebrachter Terrier zerrissen hatte, als er auf Pirsch mit seiner schlagenden Verbindung gewesen war, sowie Salmiak und kaltes Wasser für den gelackten Flur), fürs Wäschewaschen mit Kleie, Borax und Essig, und zwar mit Hebelwaschmaschine und Dampfwaschhafen, fürs Entfernen von Flecken in der Wäsche mit Sauerkleesalz und Schwefeldampf, Panamarinde, Terpentin, Magnesia, Löschpapier und Soda, fürs Stärken, Walken, Flicken, Bügeln, fürs Heizen, Kochen, Einmachen und Backen mit Klingenberger Turff, englischer Anthrazit- oder belgischer Würfelkohle, Buche, Kiefer oder Petrol, fürs Lampen-, Herd- und Öfenputzen, fürs Bettenmachen und Teppichklopfen, Sticken, Stricken, Nähen, Häkeln, Knüpfen, Flechten, für ordentlich Ordnung im Wäscheschrank, für Einkauf und Buchführung mit Einschreiben und Abschluss, Menüplanung und Lagerung.

Doch Henni begeisterte sich nur für die Wartung des Erste-Hilfe-Schränkchens, weil sich dabei manch wunderbar Schauriges denken ließ, und fürs Pumpen an der Waschmaschine. Dabei malte sie sich aus, sie fahre auf der Eisenbahn-Draisine noch weit hinter die Hasenheide, und zwar ins wilde Kurdistan, von dem Kuddl ihr erzählt hatte (er las, seit er die Daimon-Taschenlampe hatte, jede Nacht bis in die Puppen unter der Bettdecke Karl May) und wo sie sicherlich Größeres werden konnte als neben ihrer Mama. Die war eine stille, duldsame Frau, verrichtete, seit Henni denken konnte, Tag für Tag im selben schwarzen Wollkleid mit Krinoline und Haarteil die Hausarbeit, und fragte Michel Pavellek oder Frau Professor Hein nach ihrem werten Befinden, sagte sie immer nur: »Och, das Jesulein am Kreuze hat doller gelitten, denk ick ma.«

Das sagte sie auch, wenn Henni sich wieder mal das Knie aufschlug: »Nu, nu, nu«, sagte sie, »das Jesulein am Kreuze …« Und selbst, als Kuddl im Hof von der Leiter fiel, weil er um eine Murmel gewettet hatte, dass er es schaffte, auf einer freistehenden Leiter bis ganz nach oben zu steigen, und einen offenen Bruch am Arm davontrug, der Knochen kiekste aus dem Fleisch, und Kuddl brüllte wie am Spieß, da meinte sie nur: »Weißt du, Kurt, das Jesulein am Kreuze …«. Dabei machte der Anblick sie ganz käsig im Gesicht, und dann übergab sie sich.

Als das passierte, war Henni acht und heulte danach den ganzen Abend, und Arthur Binneweis saß noch lange bei ihr am Bett, versuchte sie zu trösten und rief: »Das Kind hat einfach zu viel Gemüt!« Dabei heulte Henni, weil sie gemein fand, dass Kuddl den Arm gebrochen hatte und nicht sie und dass er in die Charité gefahren worden war und jetzt einen großartigen Gips hatte, und zum Abendbrot hatte Mama Binneweis sein Lieblingsessen gekocht, ausgerechnet, Eisbein mit Kartoffelsalat, das sie sonst nie kochte, weil Henni Eisbein nicht ausstehen konnte, und ganz allgemein war Kuddls Unfall das Größte, was den Binneweisens je passiert war. Und dabei war doch sie diejenige, die hoch hinauswollte, und nicht Kuddl, das war einfach nicht gerecht.

Eine zweite Ahnung von Größe erlebte Henni im Jahr darauf, als Mamsell Szàbo, eine Ungarin, die eigentlich als Zugängerin in Pankow arbeitete, an Schwindsucht darniederlag. Mama Binneweis brachte ihr manchmal doppelte Kraftbrühe, und Henni ging gern mit, weil der Anblick, wie die Mamsell so wächsern und fast schon tot in ihrer schmutzigen Spitzenbettwäsche in der engen Besenkammer lag und röchelte, großartig feierlich war, und wenn sie was sagte, roch es nach Gruft, und einmal kam plötzlich ein Schwall Blut aus ihrem Mund. Aber auch Mamsell Szàbo kam dann zum Sterben in die Charité, und das ganz plötzlich. Als Henni von der Schule kam, war schon alles geschehen, und Justus Karnerich, das Faktotum in der Mietskaserne, räucherte gerade die Besenkammer aus. Die stand danach eine Weile leer, und manchmal versteckte Henni sich darin und spielte schwindsüchtig, denn darin steckte wenigstens eine Ahnung von Größe. Aber richtig wahre Größe war es noch nicht.

Die heilige Henni der Hinterhöfe

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