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Und sie zweifelte auch nicht daran, dass jetzt ihr eigenes kleines, popeliges Leben eine Wende nahm. Denn das war ihr geweissagt worden. An ihrem vierten Geburtstag, dem 29. November 1906, hatte sie sich in den Kopf gesetzt, mit ihrem Papa, dem Postbeamten Arthur Binneweis, auf den Spielplatz zu gehen. Nicht den normalen am Wörtherplatz, sondern raus auf die Hasenheide, zum sogenannten »großen« Platz, zu dem ein Wunderkreis gehörte, ein Rundlauf, eine Schlängelbahn, Turngeräte und vor allem ein haushohes Klettergerüst aus Stangen und Seilen. Das nämlich wollte Henni besteigen, und da war es ihr piepegal, dass über Nacht an den Fenstern Eisblumen gewachsen waren und es nasse, schwere Flocken schneite.

Während also Mama Honigkuchen buk und Kuddl in der Schule saß, fuhr Arthur Binneweis, der extra freigenommen hatte, mit Henni in der Elektrischen nach Neukölln und ritt sie huckepack zur Hasenheide. Das Wasser rann ihm von der Hutkrempe und Henni unters Mäntelchen, und auf dem Spielplatz standen dicke Pfützen. Doch der Kletterturm war dort, wo er hingehörte, und anderes zählte nicht.

Die nassen Taue machten klamme Finger, und das Holz war glitschig, aber Henni zögerte nur kurz. Als Papa fragte: »Wollen wir die Kletterei nicht bis zum Frühjahr schieben und dafür im Josty heiße Schokolade trinken?«, kletterte sie schon vom ersten Balken und zog sich Sprosse um Sprosse hoch. Anfangs stützte er sie noch, dann stieg sie einfach weiter, immer weiter, und im Nu war sie oben.

»Ich bin oben!«, rief sie. »Siehst du mich?«

Arthur Binneweis applaudierte und rief: »Und nun steig mal wieder ab, bevor mein Hut sich auflöst, dann trinken wir zur Feier im Josty Schokolade.«

»Ich weiß aber nicht, wie runter.«

»Na, einfach runter«, rief Papa wenig hilfreich, »so, wie du hochgekommen bist.«

»Geht nicht, du musst mich holen.«

»Schritt für Schritt, es ist ganz einfach.« Arthur Binneweis sah seine Tochter im Schneegestöber nur noch wie schraffiert.

Sie tapste mit einem Fuß im Leeren, dann rief sie wieder: »Geht nicht, komm mich holen.«

»Also gut, ich hole dich!« Er hängte Hut und Mantel an ein Pauschenpferd und stieg aufs Gerüst. Aber kaum war er ein paar Meter hoch, rutschte er in seinen Halbschuhen ab, fiel halb, sprang halb vom Gerüst und stauchte sich den Knöchel.

Henni hörte ihn wohl schreien, sie fragte aber nur: »Holst du mich jetzt? Ich fühle meine Fingerchen gar nicht mehr.«

Arthur Binneweis versuchte sie nochmals zum Klettern zu bewegen. Er sah sie jetzt auch besser, weil es nicht mehr schneite, sondern regnete, und wollte ihr beschreiben, wo die Sprossen waren.

Doch Henni schrie nur immer: »Komm mich holen, komm mich holen!«

»Ich hole Hilfe«, erklärte er schließlich und humpelte zum nächsten Haus. Dort öffnete ihm ein Mädchen, das etwas älter war als Henni, vielleicht sieben.

»Den Kletterturm kenne ich gut«, sagte sie und versprach, Henni herunterzuhelfen.

»Das ist Elfriede«, rief Arthur Binneweis, als sie wieder auf dem Spielplatz waren, »sie hilft dir runter.«

Elfriede kletterte hoch und machte direkt unter Henni halt. »Ich nehme jetzt deinen Fuß und setze ihn auf die untere Sprosse. Dann stehst du drauf, und ich nehme den anderen Fuß.«

Henni klammerte sich aber nur am Gerüst fest, und als Elfriede ihren Fuß vom Seil ziehen wollte, trat sie zu.

Elfriede heulte gleich los. »Sie hat mich ins Gesicht getreten, der helfe ich bestimmt nicht runter.«

Vergeblich versprach Arthur Binneweis ihr einen Groschen. Elfriede blutete aus der Nase, daher bekam sie den Groschen dann auch so und einen zweiten dafür, dass sie Arthur Binneweis zur Feuerwehr brachte.

»Henni, hältst du durch?«, fragte er davor. »Ich hole die Feuerwehr.«

»Ich will bei Josty dafür aber Wiener Schokolade mit viel, viel Sahne«, erklärte Henni.

Arthur Binneweis humpelte los, schrie und ächzte bei jedem Schritt und war bald schweißgebadet.

Danach ging alles ganz schnell: Zwei Mann rückten mit dem Leiterwagen aus, und bis Arthur Binneweis sich zurück zur Hasenheide gekämpft hatte, war der eine schon bei Henni, hob sie vom Gerüst, setzte ihr seinen Helm auf und trug sie runter.

Während Arthur Binneweis sich ans Pauschenpferd klammerte und nach Luft rang, machte Henni es sich auf dem Arm des Feuerwehrmanns gemütlich.

»Entschuldige dich bei den Herren für die Mühe, Henni«, sagte Arthur Binneweis.

Doch ehe Henni etwas sagen konnte, lachte der eine Feuerwehrmann. »I wo, Ihr Frollein Tochter is nu mal eene, die will hoch hinaus, find ick prima. Fußvolk ham wir ja mehr als jenuch in Preußen. Ihre Henni dagegen, dit sarick Ihn, is zu Höherem jeborn, aus der wird wat. Da wernse noch staunen.«

Und danach setzte er Henni sogar auf den Leiterwagen und kutschierte sie zur Straßenbahn, Arthur Binneweis humpelte hinterher. Zum Café Josty schaffte er es nicht mehr. Als sie nach Hause kamen, war sein Knöchel geschwollen wie eine Melone, Fieber hatte er auch, und statt heißer Schokolade gab es nun Essigwickel oben und unten.

Dafür hatte er eine Geschichte, die er von da weg an jedem Geburtstag erzählte. Henni sagte meist nicht viel, sie erinnerte sich auch bald nur noch daran, wie sie der Feuerwehrmann vom Gerüst gehoben und gesagt hatte: »Die Henni is zu Höherem jeborn.«

Und wenn in ihrer Mietskaserne am Prenzlberg wieder Katzenjammer herrschte, weil es mit Deutschland einfach nicht aufwärtsgehen wollte, und erst Krieg mit den Hottentotten war und dann oder darum oder trotzdem Hunger herrschte, in Moabit Kohlearbeiter und Kutscher erschossen wurden, weil sie nicht mehr hungern wollten, die deutsche Fußballelf gegen England nur unentschieden spielte und dann auch noch die Titanic unterging, die doch laut Papa nicht nur das größte Schiff der Welt gewesen war, sondern vor allem ein Beweis für den Sieg des modernen Menschen und darum als Sonderdruck des Berliner Anzeigers über der Essbank gehangen hatte, und Mama heulte: »Was soll in soner Welt nur aus den Kindern werden?«, dann wusste Henni immer genau, dass aus ihr schon etwas werden würde, wenn auch noch nicht abzusehen war, was.

Die heilige Henni der Hinterhöfe

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