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Die begrabenen Gedichte des Königs

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Nicht nur Alphabete, auch Könige können einen bemerkenswert einenden Effekt auf die Kultur haben. Das galt zweifellos für die Lachmiden-Dynastie, die von der vermutlichen Geburtsstätte der arabischen Schrift, al-Hīra, aus herrschte. Mit dem Ziel, eine mächtige und reiche arabische Person zu preisen, strömten Dichter nach al-Hīra, begegneten sich dort und wetteiferten in Versen gegeneinander. Dies mag vermutlich bereits seit dem ersten bekannten persischen Klientelherrscher, Amr ibn ʿAdī,58 dem Vater des mutmaßlichen Überläufers Imruʾ al-Qais, der Fall gewesen sein. Auch gab es einen Dominoeffekt auf die sich herausbildende „Hochsprache“, die sich, wie wir gesehen haben,59 zunächst in Zentralarabien entwickelt zu haben scheint, genauer im Gebiet von Qaryat Dhāt Kahl, der Hauptstadt der Kinda. Nun gelangte Hocharabisch im Nordosten in seiner Eigenschaft als „Königsarabisch“ zu noch höherem Ansehen.60

Mit wichtigen Königen an zwei verschiedenen Orten gab es im 6. Jahrhundert einen der Sache dienlichen Wettbewerb zwischen den Lachmiden und Ghassaniden, wenn es um das „Sammeln“ von Dichtern ging.61 Diese Rivalität ähnelte, sagen wir, der zwischen den Dynastien der Medici und Sforza in der Kunstpatronage der europäischen Renaissance. Sie wirkte sich auf den Markt für Dichtung positiv aus: Noch heute sind Liebhaber der traditionellen arabischen Poesie der Ansicht, das Ende des 6. Jahrhunderts stelle ihre Blütezeit dar.62 Eine Auswahl zu treffen fällt schwer; noch schwerer ist es, die Kraft der arabischen Laute in Übersetzung wiederzugeben. Ein klassisches Beispiel von Panegyrik ist al-Nābighas Beschreibung des letzten Lachmidenkönigs, al-Nuʿmān III., die mit folgenden Versen abschließt:

Gekrönt mit jeder Ehre, hoch deines Ruhmes Stirn und auf dem Kampfplatz ein sich aufrichtender Löwe – schön wie der Mond!

Als er diesen Trompetenschall von Silben hörte, „erstrahlte Nuʿmāns Gesicht vor Freude. Er befahl, dem Dichter den Mund mit Edelsteinen zu füllen und sagte: ‚Wenn Könige gepriesen werden sollen, dann lass es so geschehen‘“.63

Für moderne Ohren mag Panegyrik hohl klingen. Doch ihre Kraft und ihr Wahrheitsgehalt liegen – wie immer in der Hochsprache – mehr in den Lauten als in der Bedeutung. Und ihre Bedeutung ging über die Lobpreisung der Könige weit hinaus. Im 6. Jahrhundert verbreitete sich die Hofdichtung wie ein Lauffeuer: Könige und Höfe setzen ein Vorbild, dem nachgeeifert wird, und es kann kaum überraschen, dass das am häufigsten verwendete Medium in diesem mimetischen Prozess die Dichtung war. Außerhalb der nur spärlich vorhandenen semiurbanen Siedlungen gab es so gut wie keine Kunsthandwerker oder künstlerische Produkte. Kulturprodukte mussten transportierbar und aus dem einfachsten verfügbaren Material sein – das waren Wörter. Weil die Gesellschaft zum größten Teil noch schriftunkundig war, mussten die verbalen Kunstwerke darüber hinaus auch gut im Gedächtnis zu behalten sein. Dichtung hat gleich zwei Eigenschaften, die das gewährleisten, das Metrum und den Reim: Aus der Zeit vor der Schriftkultur ist daher recht viel bis heute erhalten geblieben, ebenso eine beträchtliche Menge von sadschʿ – der Sprache der Seher, die zwar nicht metrisch, aber gereimt und rhythmisch ist. Schlichte Worte in Prosa sind nur dann auf uns gekommen, wenn sie unauslöschlich in unbeweglichem Stein gemeißelt wurden. Die Schirmherrschaft der Lachmiden und Ghassaniden half also dabei, die arabische Sprache weiter zu vereinheitlichen, indem ein einzelner prestigeträchtiger Maßstab festgesetzt wurde, nicht nur an den Königshöfen, sondern auch in Suks, Gästezelten und an Lagerfeuern – überall dort, wo Menschen einander begegneten, miteinander sprachen und Gedichte vortrugen. Damit trugen sie auch mehr als jeder andere zur Vereinigung von Arabern bei.

Selbst wenn die Dichtung für die lachmidischen und ghassanidischen Mäzene zu einem Kulturprodukt, einem Kunstwerk geworden war, bewahrte sie mehr als nur einen Hauch des alten Übernatürlichen: Sie ist von Magie durchsetzt, die bald aufs Wirkmächtigste im Koran wieder zum Vorschein kommen sollte. Es wird erzählt, dass einer der Könige von al-Hīra so begeistert von einer Ode des al-Hārith ibn Hilliza war, dass er dem Dichter nur erlaubte, sie im wudūʾ vorzutragen64 – dem Zustand ritueller Reinheit, der später für das islamische Gebet als unerlässlich galt. Eine andere Geschichte des Lachmidenhofs ist weniger glaubwürdig, macht aber dennoch anschaulich, wie eng miteinander verwoben die Geschichte der Dichtung und die Geschichte der Schrift in al-Hīra waren. Al-Nuʿmān III. „befahl, dass die Dichtung der Araber für ihn in Bänden niedergeschrieben werde. Er ließ sie anschließend in seinem Weißen Palast begraben“. Etwa ein Jahrhundert später wurde einem frühen muslimischen Gouverneur des Gebiets gesagt,

dass unter dem Palast ein Schatz begraben lag, also ließ er den Ort ausgraben und förderte die Gedichte zu Tage. Das ist der Grund, weshalb die Einwohner von al-Kūfa mehr über Dichtung wissen als die von al-Basra.65

Es stimmt zwar, dass die aus Kufa stammende Quelle dieser Erzählung mehr als einmal dabei erwischt wurde, Fälschungen im Stil Chattertons66 zu produzieren, um die Einwohner von al-Basra zu verunglimpfen, die großen Rivalen der Einwohner von al-Kūfa. Dennoch zeigt die Erzählung, dass spätere Araber die Poesie als den größten Schatz ihrer vorislamischen Vorfahren betrachteten. Sie ist das Gold in der Abraumhalde der Sprache.

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