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Visionen von Einheit

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Gegen Ende des 6. Jahrhunderts hatte sich ein Begriff davon herausgeschält, dass es sich bei Arabern um eine ganz Arabien umspannende, „stammesübergreifende … ethnokulturelle Gruppe“80 mit relativ einheitlichen ethischen Vorstellungen handelte. Araber hatten es weit gebracht seit ihren Anfängen als Wandervögel und Guerillakämpfer der semitischen Welt, als Strandgut der Wüstenränder, als wandernde und plündernde Ismaels aus der Genesis, als Hinterwäldler und Frachtführer, die zwischen den Imperien lebten. Wie unterschiedlich ihre Herkunft auch war, sie hatten nun genügend gemeinsame Werte und Sprache – und schlichtweg genügend gemeinsame Geschichte angesammelt, um sich für eine vereinte ethnische Identität zu qualifizieren.

Vielleicht hätten sie sich mit dem begnügen können, was sie erreicht hatten. Sie hätten auf ihrer halbverbundenen „Insel“, dem Annex am großen Körper afroasiatischer Geschichte, bleiben und einander weiterhin zu Überfällen und Oden herausfordern können. Ihre Weiterreise von ethnischer und ethischer Solidarität zu politischer Einheit, von Kulturnation zur Staatsnation – ganz zu schweigen von der letzten Phase der Reise, zum Imperium –, war keineswegs unausweichlich. Tausend Jahre zuvor hatte Griechenland den Status einer Kulturnation und eine gemeinsame Hochsprache, ohne je umfassende politische Einheit durchzusetzen. Mehr als 1000 Jahre später wiederum, im 19. und 20. Jahrhundert, wurde die Welt Zeuge der Wiedergeburt arabischer kultureller Einheit und eines erneuten Sterbens der Idee arabischer politischer Einheit.

Nichtsdestotrotz hatte es Zeiten gegeben, in denen Völker und Stämme, hadar und badw, Ideale und Interessen ein Gleichgewicht gefunden hatten und in denen die Stämme selbst zögerlich zusammengeführt worden waren. Kindas Versuche, Einheit zu propagieren, wurden bereits erwähnt, genauso wie die Stammesblöcke, die unter den Ghassaniden und Lachmiden zusammenwuchsen. Doch alle diese Experimente hingen mehr oder weniger von der Existenz und dem Willen externer, südarabischer, byzantinischer und persischer Mächte ab. Um weitere Einheit zu erlangen, musste ein innerer Wille hinzukommen. Wie das vereinte Indien nach der Unabhängigkeit, das Salman Rushdie schildert, war ein vereinter arabischer Subkontinent „ein mythisches Land, ein Land, das es nie geben würde außer durch die Anstrengungen eines phänomenalen kollektiven Willens – außer in einem Traum, den zu träumen wir alle einwilligten“.81 Für Araber gab es bereits die Vision einer möglichen größeren Einheit: Das Gegensatzpaar ʿarab/ʿadscham, Araber/Nichtaraber, war bereits vorhanden, als das 6. Jahrhundert sich dem Ende näherte, ebenso wie das Gefühl des „mia san mia“, anders als die anderen. Was noch fehlte, war der kollektive Wille, innerhalb dieses Andersseins zusammenzufinden, und ohne diesen Willen erwiesen sich die Visionen unweigerlich als Trugbild.

Hin und wieder wuchsen sich diese Visionen auch zu Albträumen aus. Angefangen hatte das lange vorislamische Jahrhundert mit dem Krieg von al-Basūs, an seinem Ende standen noch mehr Umdrehungen des Feuerrads. „Als ihre Nachkommen wohlhabend und zahlreich wurden“, heißt es von einem Versuch mehrerer Stämme, eine landwirtschaftliche Siedlung zu errichten, „vergaßen alle ihr Glück und zerbrachen die Bande der Loyalität, und zwischen ihnen tobte der Krieg, bis sie einander ausgelöscht hatten.“82 Noch katastrophaler traf es den Stamm Udwān, der einst so prosperierte, dass er „70 000 noch nicht beschnittene Heranwachsende“ umfasste, aber ebenfalls internem Krieg und gegenseitiger Plünderung zum Opfer fiel, bis er die eigene Einheit zerstörte. Überliefert ist die Schilderung des Dichters dieses Stammes:

Autorität und Exzellenz und Weisheit waren ihre,

bis schließlich das Schicksal sich wandte:

Ihr Stamm wurde auseinandergerissen, seine Gliedmaßen abgetrennt,

und ihr Volk weit und breit in Banden verstreut.

Ödnis befiel das Land und die Schöße ihrer Frauen,

die Wechselfälle des Schicksals hatten sie auf immer vernichtet.83

Die Wechselfälle mündlicher Überlieferung mögen der Bevölkerungszahl der Banū Udwān eine oder zwei Nullen hinzugefügt haben. Ein persönlicheres und daher vielleicht aussagekräftigeres Dokument eines Arabiens, das von Überfällen auseinandergerissen wurde, ist die Klage eines Mannes namens Hāritha um einen individuellen Verlust – den seines jungen Sohnes Zaid, der bei einem Überfall entführt wurde:

Ich weinte um Zaid, nicht wissend, was aus ihm wurde:

lebt er und kann ich auf ihn hoffen? Oder hat ihn der Tod ereilt?

Die Sonne erinnert mich bei jedem Aufgehen an ihn,

die Erinnerung an ihn wird bei jeder Dämmerung dunkel,

ich denke an ihn bei jeder Brise, die weht –

wie lange meine Trauer um ihn und wie ängstlich.84

(Beim Untergehen der Sonne und am Morgen/werden wir ihrer gedenken.85) Wie sich herausstellte, war Zaid am Leben, doch der Vater konnte nicht auf ihn hoffen: Der Junge war zum Sklaven gemacht worden und unwiderruflich verloren. Das Motiv der Verse kommt nur selten vor, im Gegensatz zu den Totenklagen für ruhmreiche Krieger: Kinder wurden im Privaten betrauert, aber sie konnten noch keinen hasab ansammeln, kein Archiv von edlen Taten, die sie des öffentlichen Gedenkens würdig machte. Die Zeilen sind vermutlich nur erhalten, weil sie vom späteren Besitzer und Adoptivvater des Kindes stammen, einem noch unscheinbaren Einwohner Mekkas, der allerdings schon bald die Bühne der großen Araber betreten – und ihnen allen die Show stehlen sollte.

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