Читать книгу Arab - Tim Mackintosh-Smith - Страница 50
Der wandernde König
ОглавлениеWie der „Vaterstamm“ Wāʾil sich in die gegnerischen „Bruderstämme“ Taghlib und Bakr aufspaltete, entzweiten sich auch andere Gruppen, deren Ursprung zumindest der Vorstellung nach eine Einheit war. Dieses Phänomen gilt nicht nur für Beduinenstämme: Bei dem Historiker und Geografen al-Hamdānī ist eine lange Liste von Ortschaften nachzuschlagen, die in zwei gegnerische Faktionen zerfallen sind.35 Die Tendenz zur Spaltung bringt ein weiteres, sich im Laufe der Jahrhunderte wiederholendes Szenario hervor: Stämme oder andere Parteien mit einem zumindest imaginierten gemeinsamen Ursprung zerstreiten sich; sie holen einen Anführer von außerhalb ihres eigenen Kreises – oder bekommen diesen zugewiesen; dieser neue Anführer führt eine neue Einheit herbei. Man wird des harmonischen Zusammenlebens schnell müde, feuert den neuen Anführer und zieht sich wieder in die jeweiligen Ursprungslager zurück. Noch unglücklicher endet es, wenn die Nachfolger des neuen Anführers anfangen, sich untereinander zu bekämpfen.
Das bekannteste Beispiel dafür im langen 6. Jahrhundert ist das der Kinda und deren Beziehungen mit den Stämmen des Zentrums und Nordens der Halbinsel. Der Ursprung der Kinda liegt wahrscheinlich in Zentralarabien, wo der Stamm, wie wir gesehen haben, von der alten Handelsstadt Qaryat Dhāt Kahl heraus Beziehungen mit dem sesshaften Süden pflegte. Gegen Ende des 5. Jahrhunderts unterstützten die Herrscher von Himyar-Saba den Anführer der Kinda, Hudschr, als Klientelkönig über die zersplitternden Stämme des Nordens. Die Einheit, die Hudschr herbeiführte, endete mit seinem Tod, doch ab etwa dem Jahr 500 stellte sein Enkel, al-Hārith, die Herrschaft der Kinda über die Stämme wieder her und vertrieb sogar kurzzeitig den von den Persern unterstützten lachmidischen Klientelkönig von al-Hīra. Die Lachmiden erlangten jedoch ihr Königtum wieder und al-Hārith wurde ermordet. Ab diesem Zeitpunkt lief für al-Hāriths Familie alles schief: Vor seinem Tod hatte er seine fünf Söhne zu Herrschern über die fünf wichtigsten Stämme im Gebiet ernannt. Zwei dieser Söhne zogen nun mit der Unterstützung ihrer jeweiligen Stammesgenossen gegeneinander in den Krieg, während ein dritter Stamm sich auflehnte und den dritten Bruder tötete.36 Unnötig zu erwähnen, dass die Einheit der nördlichen Stämme damit wieder dahin war.
Vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs gewinnt eine bemerkenswerte Figur Kontur. Die Nachricht von der Ermordung des dritten Bruders erreichte dessen verstoßenen, verlorenen Sohn, einen Schürzenjäger, der seine amourösen Abenteuer in Versen festhielt, in volltrunkenem Zustand, wie es vor dem islamischen Alkoholverbot besser nicht ging. „Heute kann ich nicht nüchtern sein“, soll er gelallt haben, „doch morgen höre ich mit dem Trinken auf. Heute wird getrunken, morgen folgen Taten.“ Zu den Taten kam es dann nicht, doch der Versuch, seinen ermordeten Vater zu rächen, bescherte der arabischen Geschichte ihren ersten buchstäblich tragischen Helden – den Dichterprinzen Imruʾ al-Qais. Einerseits ist sein Leben in solch dichten Nebel gehüllt, dass er seiner Legende nie entkommen wird. Anderseits steht er, wie Mohammed al-Jabri sagt, heute noch auf der Bühne, ein monologisierender Hamlet im Chaos des 6. Jahrhunderts.
Damit klingt er fast nach einem modernen Mann, und das ist er gewissermaßen auch. Teils war er ein altmodischer schāʿir-saiyid, ein tribaler Dichter-Lord mit altmodischem Namen (Imruʾ al-Qais bedeutet wahrscheinlich „Diener des [Himmelgottes] Qais“).37 Teils aber auch schon ein Dichter nach eigener Fasson, der Frauen liebte und besang, wie jene Dame mit einem „Brustbein, das wie ein Spiegel poliert ist“ …
Und Haar, das nach hinten fallend den Rücken schmückt, tiefschwarz und schwer und verknotet wie die Fruchtbüschel der Palme hängt es herunter,
die Zöpfe um ihren Scheitel hochgeflochten –
ein Labyrinth von geraden und gewundenen Wegen, wo Haarnadeln herumirren …38
Kalif Umar nennt Imruʾ al-Qais einen „Vorreiter der Dichter“. „Er grub sich zur Quelle der Dichtung hervor und ließ sie strömen.“39 Der Kalif bezieht sich damit nicht auf die verfluchenden, kämpferischen Barden des Altertums, sondern auf Dichter in unserem heutigen Verständnis.
Doch Imruʾ al-Qaisʼ Dichterruhm lenkt auch von der Tatsache ab, dass er wohl „der letzte Herrscher des Staates war, der den letzten Versuch vor dem Islam unternahm, die arabischen Stämme der Halbinsel zu vereinen“.40 Mit dieser Aussage wird ihm vielleicht ein größerer Plan zugeschrieben, als er ihn je bewusst gefasst haben dürfte. Außer Frage steht jedoch, dass er in dem Versuch, die Macht wiederzuerlangen, um byzantinische Unterstützung warb. Das genaue Datum ist unbekannt, aber es war wenige Jahre, bevor der himyarische Aristokrat Saif ibn Dhī Yazan gegen die mit den Byzantinern verbündete äthiopische Besatzung seines Hoheitsgebiets persische Hilfe suchte und fand. Saif entdeckte zu seinem Leidwesen – in Form eines äthiopischen Dolches zwischen seinen Rippen und der anschließenden persischen Übernahme des Südens –, dass das „Große Spiel“ ein Spiel mit dem Feuer war. Imruʾ al-Qais erhielt die byzantinische Unterstützung nie und starb enttäuscht – angeblich an den Folgen eines vergifteten Gewands: Das war die Quittung dafür, dass er nicht nur um politische Hilfe aus Byzanz, sondern auch um eine byzantinische Prinzessin geworben hatte.
Es ist nicht einfach, Erfundenes von Nichterfundenem zu unterscheiden (mangels konkreter Beweise kann man ja kaum von Fakten sprechen). Saif ibn Dhī Yazan, Möchtegernerneuerer der Blüte von Himyar, wurde zum Helden fantastischer Volksagen. Imruʾ al-Qais, Möchtegernerneuerer der Blüte der Kinda, Hättegernvereiner arabischer Stämme, wird heutzutage nahezu ausschließlich als literarischer Löwe wahrgenommen. In ihren politischen Bestrebungen hatten beide sich mit den Supermächten angelegt, den umherschleichenden imperialen Löwen, und beide waren mit ihnen in Konflikt geraten. Doch wo der Patriot und der Poet gescheitert waren, sollte ein Prophet bald erfolgreich sein – und eine neue Supermacht gründen, die durch und durch der Arabischen Halbinsel angehörte.
Wie beim Krieg von al-Basūs glaubt Taha Hussein auch in diesem Fall, dass vieles aus der Biografie des Imruʾ al-Qais eine Projektion ist, namentlich von ʿAbd al-Rahmān ibn Mohammed ibn al-Aschʿath, einem vertriebenen Anführer aus islamischer Zeit, der den Wunsch hatte, seinen Vater zu rächen.41 Vielleicht liegt er auch mit dieser These richtig.
Doch genauso wie der Krieg von al-Basūs die Gewaltausbrüche zwischen Stämmen in einem Ereignis zusammenfasst, so vereint auch Imruʾ al-Qais, der Dichterprinz, der als Ausgestoßener endete – der sogenannte Wandernde König –, in einer Person die vielen Verwerfungen der ruhelosen vorislamischen Zeit. Er wandert von Ode zu Ode, von Frau zu Frau und vom Hadramaut nach Kleinasien nach Bahrain;42 ein Leben und ein Jahrhundert in Bewegung, auf der Suche nach dem Unerreichbaren.
Habe ich nicht meine Reittiere erschöpft in jeder vom Wind verwehten Wüste
mit weitem Horizont und glitzernden Luftspiegelungen?43