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Wälle und Waffen aus Worten
ОглавлениеDie damalige Bedeutung der Rhetorik ist heute nur schwer nachvollziehbar. In einem unruhigen Jahrhundert wie dem 6., da das Kräfteverhältnis sich von sesshaften Gesellschaften zu ʿarab-Stämmen verschob, waren Worte nicht nur das am einfachsten transportierbare Kulturprodukt; sie dienten auch als Schutzwälle und Angriffswaffen. Politisch wurden Stämme von den eloquentesten älteren Männern (oder manchmal Frauen) angeführt, die „die Stimme der Menschen einten“. Militärischen Zusammenstößen von Stämmen gingen Dichterwettstreite, gereimtes Gerangel, voran und ihr Ende wurde von den Siegern anschließend in Oden festgehalten.
Drei Titel tauchen unter den Redner-Anführern immer wieder auf: saiyid, „Anführer, Herr“, chatīb, „Sprecher“ und schāʿir, „Dichter“. Diese Aufgaben konnten zusammengehen und waren oft in ein und derselben Person vereint. Ein saiyid kam meist aus einer Familie, die über besondere vererbte „Ehre“ verfügte, doch Herrschaft beruhte letzten Endes auf Persönlichkeit und Heldenmut – wie auch ganz erheblich auf Redegewandtheit, die in Prosa oder Poesie oder beidem zum Ausdruck kommen konnte. Ein saiyid war somit Schwertkämpfer und Wortkämpfer, Warlord und Wortlord – mit einem Hauch der alten schamanistischen Magie des bayān, des „Entschleierns von Bedeutung“ durch den Zauberer. In einem Stamm, der über eine Erblinie von chatībs verfügte, kombinierten diese ihre Rolle oft mit der von Stammesgenealogen und Historikern,15 in etwa wie die europäischen Herolde oder – wohl näher dran – wie die Griots in Westafrika.
Was die reine Rhetorik anbelangt, so war die Rolle des Dichters historisch gesehen die wichtigste, doch sie verlor an Ansehen, als Dichter in das Geschäft der Lobpreisung von Königen und deren Nachahmer gegen Bares einstiegen.16 Allein die Kriegsdichtung verlor im Laufe der Zeit kaum etwas von ihrer magischen Kraft. Es war die Kraft eines übernatürlich inspirierten Fluches.17 Um den Fluch aufzuhalten, wurden gefangengenommene Dichter zum Schweigen gebracht, indem man ihnen mit einem Riemen die Zunge schnürte, selbst während sie abgeschlachtet wurden.18 (Feindliche Redner wurden auch bestraft, indem man ihnen die unteren Vorderzähne ausschlug und damit ihre Aussprache ruinierte).19 Diese Macht der Magie überlebte bis in das Zeitalter der Prophetie: Der Prophet Mohammed selbst gab zu, dass die Spitzen seiner Dichter „[für die Ungläubigen] tödlicher sind als eine Salve von Pfeilen im Dunkel der Nacht“.20 Und die Macht ist weiterhin mit uns: „Wir haben ihm die Hand abgehackt“, verkündete der Herrscher von Dubai unlängst über den vom Iran unterstützten Huthi-Anführer, dessen Parolen auf Bannern unter meinem Fenster wehen,
und er hat der Niederlage ins Auge geblickt:
seine Armee wurde im Geklirre zerschmettert –
und, mit einer zusätzlichen Spitze gegen seine Hintermänner in Teheran (personifiziert in dem Namen „Chosrau“, den die besiegten vorislamischen Perserkönige erhielten),
der Rückzug hat Chosraus Kampfbanner zusammengerollt!21
Die Behauptung war etwas voreilig: Die Banner flattern immer noch.
In der Aristokratie der Rhetorik nahmen kāhins wie Tarīfa, die Anführerin der legendären Diaspora aus Maʾrib, ebenfalls einen wichtigen Platz ein. Der Titel – und die Funktion – sind mit denen des alten hebräischen kōhēn verwandt.22 Ihre Fähigkeit, vorauszusagen, was andere nicht wahrnehmen können, rührte, wie al-Masʿūdī meinte, von ihrer Gewohnheit, alleine an wilden Orten zu verweilen, viel Zeit in Einkehr zu verbringen und die Welt mit „dem Auge der Erleuchtung“ zu betrachten. Außerdem, sagt al-Masʿūdī, waren viele von ihnen körperlich entstellt und machten mit ihrem Geist wett, was ihrem Körper fehlte: Der gefeierte legendäre kāhin Satīh zum Beispiel hatte angeblich keine Knochen im Körper und konnte „wie ein Umhang zusammengerollt“ werden.23 Ihre gereimte und gehobene übernatürliche Sprache taucht, wie wir sehen werden, in den frühesten Offenbarungen des Koran wieder auf. Wie Ibn Chaldūn erklärt, unterscheidet sich jedoch die Wahrheit des kāhin von der des Propheten: Propheten sind in direktem Kontakt mit der Engelssphäre der Wahrheit; kāhins hingegen „durch teuflische Mächte“ inspiriert, weswegen ihre Wahrheit von Lüge durchdrungen ist.24 Ein bedeutsamer Unterschied, den die weit überwiegende Mehrheit der Menschen kaum wahrzunehmen vermag. Die Überzeugungskraft und Führungsqualität von Sehern und Propheten beruht letztlich nicht auf dem Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen, sondern auf ihrem rhetorischen Talent – nicht auf dem Was, sondern auf dem Wie dessen, was sie sagen.
Mit dem Zusammenbruch der zentralen Institutionen ging vermutlich im sesshaften alten Süden ein Anstieg von Redner-Anführern einher. Im Verlauf des Auflösungsprozesses und der anschließenden Auflehnung gegen Fremdherrschaft im 6. Jahrhundert bürgert sich für regionale Machthaber und Kriegsherren allmählich der Titel qwl ein. Er könnte auf ihre „das Wort einende“ Rolle hinweisen25 – im Arabischen hat die Wurzel qwl mit Sprechen zu tun (beispielsweise in qaul, „Rede“, qawwāl, „Sprecher, Redner“). Sicher ist: Je stärker die qwls, desto schwächer die Zentralregierung, und als sie sich ausbreiteten und um immer geringere Mengen verfügbarer Macht stritten, nahmen ihre eigenen Überfälle und Plünderungen zu.26
Die Rhetorik aller dieser Redner-Anführer einte die Stimme von Stämmen oder Völkern. Sie gebar ʿasabiyya, den Geist der Solidarität, und entfachte die Revolutionen des Feuerrads.