Читать книгу Arab - Tim Mackintosh-Smith - Страница 53
Imagine thereʼs no heaven
ОглавлениеEs ist ein Bild, auf dem die Zeit im Unterschied zur ewigen islamischen Zeit als flüchtig erscheint: Wir kommen aus dem Nichts und enden im Nichts. Wir bezahlen für unsere Taten oder werden für sie belohnt – aber nicht im Himmel oder in der Hölle, sondern durch die Art, wie wir erinnert werden. Und weil die Ewigkeit hier nichts vernebelt, erscheint das Bild des Lebens oft in großer Schärfe:
Es sind äußerst vollendete Beschreibungen der Natur, des Wüstenlebens, von Reisen bei Nacht und bei Tag mit ihren verschiedenen Ereignissen, vom Jagen und Anpirschen und Auflauern von Wild, vom Kamelhüten, vom Honigsammeln und vergleichbaren Tätigkeiten.60
Der Dichter Imruʾ al-Qais erinnert sich beispielsweise, wie er auf das Lagerfeuer eines Freundes zulief,
in der hungrigen, frostigen Dämmerung,
als die alte großhöckrige Kamelstute in die fallende Nacht trottete, taub für die leisen Rufe der Melker in der Herde.61
Es ist eine völlig unscheinbare Szene, und doch ist sie so ursprünglich und lebendig erhalten wie die Illuminationen des Landlebens in den mittelalterlichen europäischen Stundenbüchern.
Die Welt der vorislamischen Dichter kommt uns wild und provinzlerisch vor, in anderer Hinsicht aber wunderbar beweglich: große Distanzen überwindend und gleichzeitig über die moralische Skala taumelnd, von Lust und Betrunkenheit zu der striktesten Anwendung von murūʾa – virtus, „Ehre“ („Heute trinke ich, morgen folgen Taten“). Es gibt zu dieser Zeit noch keine organisierte Religion, nur eine verbindliche Ethik, die Freigiebigkeit, Tapferkeit, Gastfreundschaft und Loyalität der Familie, dem Stamm und den Vorfahren gegenüber beinhaltet. Menschen, die im Einklang mit dieser Ethik handeln, wird ein Denkmal für die Nachwelt gesetzt, wie Imruʾ al-Qais es für den Clan von Banū Thuʾal tat, der ihm auf seiner Wanderschaft Schutz verliehen hatte.62 Bei Verstößen gegen diese Ethik drohten andere Folgen: „Himyarī“, sagte Imruʾ al-Qais von einem Mann, der versäumt hatte, seinen ermordeten Onkel zu beschützen,
war untreu, Udas ebenfalls –
wie der Hintern eines Esels, der vom Schweifriemen juckt.63
Dichter nehmen damit die Rolle der islamischen Engel ein, welche die Taten der Menschen dokumentieren, und obwohl es keinen Himmel und keine Hölle gab, existierte ein Jenseits, in dem die Erinnerung an einen Menschen, wenn nicht gar seine Seele, belohnt oder bestraft wurde. Was auch immer nasab, die Abstammung, war, die Erinnerungen an edle oder unedle Taten summierten sich zum parallelen Konzept des hasab, einer Art Genealogie von guten und bösen Taten, die an zukünftige Generationen weitergegeben wurden.64
Alle diese Eigenschaften arabischen Glaubens waren im 6. Jahrhundert deutlich ausgeprägt. Sie überleben bis heute, zumindest im Reich der Ideale. Dasselbe gilt für Konzepte wie dīn, die Verpflichtung, dem Pfad seiner Vorfahren zu folgen, und sunna, den Praktiken jener Vorfahren.65 Der Islam hebt dīn auf eine neue Ebene und macht daraus einen Katalog von Verpflichtungen gegenüber Gott – kurzum, zu „Religion“ („Verpflichtung“ ist auch die Grundbedeutung des lateinischen religio). Sunna bezeichnet nunmehr im Einzelnen die Praktiken des Propheten Mohammed. Noch in vorislamischer Zeit hatten die Begriffe jedoch nichts mit einer Doktrin, sondern mit Verhaltensregeln und Pflicht zu tun. Wenn wir versuchen zu verstehen, was dīn damals bedeutete, sollten wir die Vorstellungen aufgeben, die aus dem Begriff „Religion“ erwachsen, da diese aufs Engste mit jüdisch-christlich-platonischem Denken verknüpft sind – mit dem „kuriosen alexandrinischen Tuttifrutti“, als das Norman Douglas einmal so treffend das spätere Christentum bezeichnet hat. Dīn ist, ähnlich wie das buddhistische dharma, ursprünglich kein theologisches Konzept, sondern bezeichnet den Versuch, die Gesellschaft auf Spur zu halten:66 auf der Spur der Vorfahren. Genauso irreführend wäre es, die späteren und früheren Bedeutungen von dīn zusammenzuführen und sie als eine vorislamische „Anbetung“ von Vorfahren zu verstehen. Eine bessere Vorstellung davon, warum den Vorfahren so viel Respekt gebührte, geben uns vielmehr die Schreiber jener alten safaitischen Graffiti, welche die Namen ihrer Ahnen über 15 oder mehr Generationen dokumentierten, und der Blick darauf, dass Mohammeds Stamm, die Quraisch, Porträts aller Vorfahren in der vorislamischen Kaaba aufhängte (glich sie womöglich einem chinesischen Ahnenschrein?).67
Die ältesten Bedeutungen von dīn und sunna liegen wohl auch heute noch dem Denken vieler (vor allem arabischer) Muslime zugrunde: die tiefe Verwurzelung in der Vergangenheit, die Pflicht den Vorfahren gegenüber, die außergewöhnliche Hingabe an Mohammed – einen Mann, der, obwohl er darauf beharrte, nur ein Mensch zu sein, in den Umhang des Erzvaters gekleidet war, den Helden eines neuen Superstamms, der umma des Islam. Ein anderer Mohammed aus dem 20. Jahrhundert, der Dichter Mohammed Iqbāl, ging sogar so weit zu sagen, „Man kann Gott verneinen, aber nicht den Propheten“68 – und wenn Gott so absolut nichtmenschlich ist wie im Fall des Islam, nimmt es auch nicht weiter wunder, dass die Gefühle der Hingabe sich auf die etwas zugänglichere Figur richten. Gott zu verneinen ist ein theologisches Vergehen; den Propheten zu verneinen, verstößt jedoch gegen eine viel ältere und tiefere Idee. Es erhellt auch die Gegenwart, „Religion“ in diesem alten Licht zu betrachten.