Читать книгу Arab - Tim Mackintosh-Smith - Страница 54
Das kollektive Gedächtnis
ОглавлениеAuch die Dichtung der Gegenwart wurzelt noch tief in der Vergangenheit. Die literarischen Traditionen, die im 6. Jahrhundert n. Chr. festgelegt wurden, leben bis in die Gegenwart fort. Dazu gehört etwa die qasīda, eine Ode in einsilbigen Reimen, die in ihrer vollen Form mit einem Vorspiel über Liebe und Verlust beginnt, dann den Leser mit auf eine Reise nimmt, Beschreibungen der Reittiere des Dichters und der Landschaft, die er durchquert, enthält, und schließlich ihre „Bestimmung“ erreicht – Panegyrik, Elegie oder was auch immer. Einige poetische Traditionen haben noch viel ältere Wurzeln. Imruʾ al-Qais erinnert etwa zu Anfang seiner berühmtesten Ode an
eine Liebe und eine Stätte
am Rande der gewundenen Sandhügel zwischen al-Dachūl und Haumal, Tūdih und al-Mikrāt, deren Spuren trotz des Wirbelns der Südwinde und Nordböen noch nicht verwischt sind
…
Wo kann man sich noch anlehnen, wenn alle Spuren ausgelöscht sind?69
Das Motiv der Trauer, die einen bei der Rückkehr an eine verlassene Lagerstätte ergreift, wo man auf Spuren von einstmals dort versammelten geliebten Menschen stößt, findet sich bereits in zahlreichen safaitischen Graffiti, die immerhin ein halbes Jahrtausend vor diesen Zeilen verfasst wurden.70
Nostalgie ist nur eine der Stimmungen, für die die Dichter des 6. Jahrhunderts die treffenden Worte fanden. Weiter oben haben wir bereits ein anderes Motiv kennengelernt, Imruʾ al-Qais Lobpreis auf gegenwärtige Schönheit und vergangene Liebe. Auch der spätvorislamische Dichter al-Aʿschā galt als Meister der Beschreibungen weiblicher Schönheit; seine Dienste einer „Heiratsagentur“ für unscheinbare Mauerblümchen, deren Bild er mit Worten wirksam zu retuschieren verstand, waren äußerst nachgefragt.71 Im Laufe des 6. Jahrhunderts rückten aber nicht nur ihre Worte, sondern auch die Dichter selbst immer stärker ins Bild und in den Vordergrund: Als gegen Ende des Jahrhunderts Mohammeds Stamm Quraisch auf der wichtigsten Handelsroute vom Süden in mekkanisches Gebiet den panarabischen Jahrmarkt von Ukāz errichtete, gehörten Dichterwettstreite zu den Hauptattraktionen. Kandidaten trafen mit den teuersten Reittieren und in eleganteste Gewänder gekleidet ein, um sich dort Versduelle zu liefern.72 Es ist kaum übertrieben zu sagen, dass Dichter die Popstars der damaligen Zeit waren. Und dass Orte wie Ukāz nicht nur literarisch bedeutsam waren: Es waren Orte des Waffenstillstands, an denen verfeindete Stämme zusammenkommen konnten, um vorübergehend ihre Fehden und Racheaktionen ruhen zu lassen. In einem chronisch geteilten Gebiet wurden die stammesübergreifenden Jahrmärkte zu so etwas wie kurzfristigen Enklaven des Friedens und der Einheit.
Qasīdas gehören weiterhin zum festen Repertoire der traditionellen Gegenwartsdichtung. Auch Dichterwettstreite erfreuen sich heute noch großer Beliebtheit: In der Promi-Fernsehshow aus Abu Dhabi Schāʾir al-Milyūn, „Millionendichter“, die sogar einen eigenen Kanal hat, wird ihnen neues Leben eingehaucht. Dort geht es wie in Ukāz um mehr als bloßes Entertainment für die ganze Familie: In einem Land, in dem Herrscher ihre Feinde mit Oden bekämpfen, können Gedichte durchaus schicksalsträchtige und schlagkräftige Wirkungen entfalten.
Noch bestimmender für die arabische Zukunft als die Dichter waren andere Inhaber der Wortgewalt, die Prediger nämlich, die von Treffpunkt zu Treffpunkt reisten. Der charismatischste unter ihnen in der späten vorislamischen Zeit war Quss ibn Sāʿida, der in Reimprosa über Moralität und Mortalität predigte. Er predigte gewöhnlich von seiner Kanzel auf einem Kamelrücken hinab zu den Besuchern auf Jahrmärkten wie Ukāz und anderen Stammestreffpunkten, etwa in Nadschrān, das ein Kultzentrum wie Mekka war. „Wo sind nun Thamūd und Ād?“ fragte er nach den längst ausgelöschten alten Stämmen, eine Frage, die später auch im Koran auftaucht.
Wo sind die Väter und die Vätersväter?
Wo ist die gute Tat, die ungepriesen blieb?
Wo ist die böse Tat, die ungetadelt blieb?
Quss hat bei Allah geschworen,
dass Allah einen dīn hat, der ihm lieber ist als dieser dīn von euch.73
Quss war ein „freiberuflicher“ chatīb, ein Redner oder Prediger, der nicht an einen bestimmten Stamm gebunden war, was auch aus al-Masʿūdīs Bezeichnung für ihn als hakīm al-ʿarab, „den Weisen der Araber“, hervorgeht.74 Seine stammesübergreifende Bedeutung lässt sich auch der Tatsache entnehmen, dass Quss in seinen Versen Allah anspricht, die höchste Gottheit der Quraisch, die bereits Anhänger in ganz Arabien gefunden hatte. Quss hatte Verehrer von überall her, und zu einem seiner glühendsten Anhänger gehörte ein gewisser
Prophet von Allah, [Mohammed], Frieden und Segen auf ihn, der die Rede des Quss, seine Predigt vom Kamel aus in Ukāz und seinen spirituellen Rat weitergab. Er war es, der sie an Quraisch und die Araber übermittelte und ihre Bewunderung für die Schönheit der Botschaft weckte und ihre Richtigkeit enthüllte … Quss war der Prediger aller Araber ohne Ausnahme.75
Und kein geringerer als dieser Prophet Mohammed sollte später dann ebenfalls zu ausnahmslos allen arabischen Stämmen und Völkern predigen und seine eigene Abschiedspredigt vom Kamelrücken aus halten.
In einigen islamischen Quellen wird Quss wie Johannes der Täufer im Verhältnis zur Jesusfigur Mohammeds geschildert. „Auf der gesamten Erde“, so verkündete Quss, „ist keine Religion besser als die Religion, deren Zeit nun gekommen ist und deren Schatten euch schützen wird …“76 Aus islamischer Sicht ist Quss nur ein Bote, ein Verkünder der bevorstehenden Offenbarung, aber nicht selbst Teil dieser Offenbarung. Aus literaturkritischer Sicht ergeben sich auffallende Parallelen zwischen Qussʼ gnomischer Reimprosa und den ältesten Teilen des Koran. Doch aus dogmatischer Sicht ist Qussʼ Rhetorik menschlich und die des Mohammed göttlich: Sie kann also keine Vorgänger haben. Nach Jorge Luis Borgesʼ Diktum „erschafft jeder Autor sich seine Vorläufer“. Mit Ausnahme des Koran, denn er vernichtet seine Vorläufer – jedenfalls wenn wir die orthodoxe Sicht seiner Autorschaft übernehmen.
Predigt und Poesie zusammengenommen, also die Gesamtheit der wortmächtigen Rhetorik des Jahrhunderts vor dem Islam, bilden „ein kollektives Gedächtnis“.77 Der Dichter Adonis formulierte es wie folgt: „[I]n ihr lagern weite Teile des kollektiven Unterbewusstseins der Araber … Diese Dichtung […] ist dabei nicht nur unser Gedächtnis, sondern auch die Urquelle unserer Phantasie.“78 Ohne diese kollektive Poetik und den rhetorischen Wortschatz hätte es den Koran (wenn wir den Glauben an seine Ewigkeit vorübergehend außer Kraft setzen), den Islam und wahrscheinlich die gesamte Vorstellung von Arabern als „Volk“ niemals geben können. Gedächtnis und Idiom sind das, was Araber noch heute überall dort vereint, wo Grenzen, Kriege und Doktrin sie trennen.
Das hat einen Preis. Wenn das Wort von so zentraler Bedeutung für die Identität ist, haben Menschen mit Kontrolle über das Wort auch Kontrolle über alle, für die es den Kern ihres ethnischen und religiösen Ichs ausmacht. Poesie und Predigt lassen sich dann politisch verwerten und effektiv als Propagandamittel einsetzen. Das kann groteske Formen annehmen: Während ich dies schreibe, stacheln Prediger und Poeten vor meiner Haustür vierzehnjährige Jungen an, sich auf den Weg zu machen, um sich von ihren arabischen Brüdern in die Luft sprengen zu lassen. Sie gaukeln ihnen vor, diese anderen Araber seien eigentlich Amerikaner oder Juden. Und wenn die Kinder ihrem Wort bis in den eigenen Tod gefolgt sind, behaupten sie, Gott habe es so gewollt, und überreden deren Eltern, das „Märtyrertum“ ihrer Söhne zu bejubeln und trotz ihrer Tränen mit einem Lächeln auf den Lippen ihr eigen Leib und Blut zu Grabe zu tragen, wie mein Nachbar das unlängst mit den wenigen Überresten seines Sohnes getan hat. Wenn einer fragt, weshalb wir starben / sagt ihnen, weil unsere Väter gelogen haben …79 Doch vielleicht sind Lügen noch nicht die einzige und nicht die ganze Erklärung für diese Tragödie. Denn auch ohne Lüge können Wörter schuldig sein, und es ist bittere Ironie, dass ein einziges Wort, schahāda, sowohl „Märtyrertum“ als auch „[islamisches] Glaubensbekenntnis“ und „[Schul]Zeugnis“ bedeutet. Natürlich erhellt der Kontext den Sinn, aber Propagandisten spielen gerne mit dem Kontext. Sie veranstalten „Schahāda-Tage“ an Schulen, um Schüler zum Sterben aufzurufen: Was du in der Prüfung verlierst, gewinnst du im Himmel.
Dies alles zeigt, dass von den drei herausragenden Eroberungen der arabischen Geschichte – die der Waffen, des Islam und des Arabischen – die erste und beständigste der Sieg über sie selbst war, der Sieg der Sprache, die ihren Namen trägt.