Читать книгу Roter Herbst in Chortitza - Tim Tichatzki - Страница 10
Anton Kalinin Moskau 1919
ОглавлениеDer Winter kommt früh dieses Jahr, dachte Anton Kalinin, als er sich in den schützenden Hauseingang zurückzog. Doch der Wind fand seinen Weg in jeden noch so versteckten Winkel, sodass es ihn drei Streichhölzer kostete, bis er seine Zigarette endlich zum Glimmen brachte. Er fluchte über diese Verschwendung, waren doch selbst solch banale Gebrauchsgegenstände nicht mehr ohne Aufwand zu bekommen. Eigentlich mochte Kalinin dieses Wetter. Er stammte aus Sibirien, wo man schon als Kind lernte, den nahenden Schnee zu riechen. Er freute sich auf die Kälte, den Schnee, der den Schmutz auf Moskaus Straßen, die Zerstörung und die Verwahrlosung wenigstens für ein paar Monate zudecken würde. Es war nicht das Wetter, das ihn so übellaunig machte.
Aus dem Haus, das seine Männer durchsuchten, drang der Lärm von zerberstenden Möbeln. Sind es wirklich die Kapitalisten, die das Land ins Chaos stürzen, oder zerstören wir uns selbst?, fragte sich Kalinin zum wiederholten Mal. Ein Kleiderschrank flog aus dem ersten Stock und landete krachend auf der nassen Straße. Immer häufiger gingen ihm diese Gedanken durch den Kopf, aber er war schlau genug, sie für sich zu behalten.
Er schaute einer feinen Bluse nach, die vom Wind davongetragen wurde, stellte sich einen kurzen Moment die Frau vor, die darin vermutlich sehr attraktiv ausgesehen haben musste. Zugleich spürte er Verachtung in sich aufsteigen. Verachtung für jene Menschen, die ihr Geld lieber für teure Kleidung ausgaben, während der Rest der Bevölkerung hungerte. Feinde der Revolution. Ein eitriges Geschwür, das es herauszuschneiden galt, bevor es sich noch weiter ausbreiten konnte.
Noch vor einem Jahr, als er der Tscheka beitrat, da hatten ihn diese Parolen beeindruckt. Seinen Zorn entfacht, ihn angestachelt, jedem Angehörigen der russischen Adels- und Aristokratenklasse eine Kugel in den Kopf zu jagen. Schon während des Großen Krieges hatte er so viele Menschen getötet, dass er irgendwann keinerlei Regung mehr dabei empfand. Erst das Töten im Namen der Revolution gab ihm wieder einen Sinn. Doch der anfängliche Eifer verflog so schnell, wie er kam, wich stattdessen einem kalten Pragmatismus, der ihn seine Aufträge bald nur noch professionell und emotionslos erledigen ließ. Und je besser er sie erledigte, desto größer waren die Privilegien, die er in Anspruch nehmen durfte.
Anton Kalinin hatte nicht vor, auch nur ein einziges Mal für Brot anzustehen, wie all die gebeugten Gestalten, die sich täglich in die Schlangen vor den Geschäften einreihten, um nach Stunden des Wartens doch nur vor leeren Regalen zu stehen. Lief er Gefahr, seine Vorteile zu verlieren, so musste er lediglich ein paar Verhöre mehr durchführen, seine Quote etwas übererfüllen, und schon standen ihm wieder alle Türen offen. Türen, von denen die Moskowiter dieser Tage nicht einmal ahnten, dass es sie überhaupt gab. Kalinin schnippte seine Zigarette auf die Straße und betrat das Haus.
„Welcher Klasse gehören Sie an?“ Die alles entscheidende Frage, mit der jedes Verhör begann. Kalinin hielt die Papiere des Mannes in der Hand, die ihn als Victor Iljin, geboren am 18.03.1881 in Moskau, auswiesen.
„Ich bin ein einfacher Arbeiter“, antwortete der Mann auf dem Stuhl vor ihm mit zittriger Stimme. „Ich arbeite bei Salut.“
Kalinin lehnte sich seufzend zurück. Ein ehemaliger Angehöriger der Bourgeoisie hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als sich derart zu erniedrigen. Diese Arroganz konnte die Verhöre entscheidend verkürzen, doch diesmal leider nicht.
„Nun gut“, sagte Kalinin und schaute sich in der vollkommen verwüsteten Wohnung um. Achtlos aus den Regalen gerissene Bücher lagen neben aufgeschlitzten Polstermöbeln. Aus dem Schlafzimmer wehten die Federn der Daunendecken. Die Scherben zerborstener Fensterscheiben übersäten den Boden, vermischten sich mit unzähligen Papieren, die von den Tschekisten in der ganzen Wohnung verteilt worden waren. Der Wind drang nun eisig durch die offenen Fenster und Kalinin schlug den Kragen seines langen Ledermantels hoch.
Ein Mitarbeiter quittierte seinen fragenden Blick mit einem stummen Kopfschütteln. Er fluchte innerlich. Sollte hier wirklich nichts zu finden sein? Sein Instinkt sagte ihm, dass diese Leute ein wenig über ihre Verhältnisse lebten, obwohl die meisten Möbelstücke der lieblos eingerichteten Wohnung den kommenden Winter kaum überstehen würden.
„Bringt sie her“, befahl er seinen Männern und deutete auf die Frau. Er holte einen Stuhl und stellte ihn neben seinen Sessel. Olga Iljin, nur mit einem schmucklosen Nachthemd bekleidet, wehrte sich nicht, als der Tschekist sie grob auf den Stuhl drückte. Kalinin sah sie von der Seite an und musste an die weiße Bluse denken. Wahrscheinlich war sie früher einmal eine attraktive Frau gewesen. Laut ihres Ausweises war sie erst 32, doch sie sah deutlich älter aus.
„Gibt es etwas, das Sie mir erzählen möchten?“, fragte Kalinin, an Victor gewandt, während er sich eine weitere Zigarette ansteckte.
Auf Victors Stirn standen Schweißperlen. Er atmete schwer. Seine Augen wanderten unstet durch den Raum. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“
Kalinin nahm einen tiefen Zug und senkte dann das glühende Ende seiner Zigarette auf den Oberschenkel der neben ihm sitzenden Frau. Sie schrie gellend auf, während ein Tschekist sie von hinten fest in den Stuhl gedrückt hielt. Sollen es die Nachbarn ruhig hören, dachte Kalinin, der Victor keine Sekunde aus den Augen ließ.
„Ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen soll“, jammerte Victor.
Kalinin war irritiert. Trotz der offensichtlichen Schmerzen seiner Frau änderte der Mann seine Mimik nicht. Immer noch der unstete Blick. Angst. Schweiß. Aber keine Veränderung. Auf ein Zeichen hin, schlug einer seiner Männer Olga Iljin mit der flachen Hand ins Gesicht, so heftig, dass sie von ihrem Stuhl kippte. Schnell wurde sie wieder hochgehoben, saß nun zitternd und weinend da. Doch noch immer zeigte ihr Mann keine weitere Regung.
Sie bedeutet ihm nichts, dachte Kalinin. So langsam begann ihn das Rätsel zu interessieren.
„Ist es dir völlig egal, was wir mit deiner Frau anstellen?“ Stille. Keine Reaktion. „Wäre es dir auch egal, wenn sich meine Männer ein wenig mit ihr vergnügen?“
Die Frau zuckte zusammen. Sie verkrampfte sich und schrie ihren Mann an: „Nun sag ihnen doch irgendetwas, du Mistkerl. Erzähl ihnen von deinem Flittchen. Vielleicht lassen sie uns dann in Ruhe.“
Da war die Veränderung, auf die Kalinin gewartet hatte. Victor Iljin blickte seine Frau nun mit weit aufgerissenen Augen an, ganz so, als wolle er ihr befehlen, endlich den Mund zu halten. Kalinin lächelte, zog seinen Sessel herum und setzte sich neben ihn. Erst jetzt sah er, wie abgemagert die Frau war, wie sich die blasse Haut über ihre Wangenknochen spannte. Ihre rissigen, trockenen Lippen. Die tief in den Höhlen liegenden Augen. Sie zitterte vor Angst und Kälte.
Schmerz und Demütigung. Wer es verstand, diese Instrumente rücksichtslos einzusetzen, der würde Russland beherrschen. Die Parolen seiner Ausbilder bewahrheiteten sich auch in dieser Nacht. Ohne den Blick von ihr zu lassen, wandte Kalinin sich an Victor: „Von welchem Flittchen spricht sie denn?“
Als die Männer eine Stunde später Irina Rachmanow in die Wohnung führten, sackte Victor förmlich in sich zusammen. Kalinin wusste nun, was diesem Mann lieb und teuer war, was ihn hoffentlich dazu brächte, ihnen alles zu sagen, was sie hören wollten.
„Ständig brachte er mir Geschenke mit“, sagte Olga Iljin, die ihre jüngere Nebenbuhlerin keines Blickes würdigte. „Das hat er früher nie gemacht. Kleider, Schmuck. Was einer Frau eben so gefällt.“ Sie unterbrach sich, um ihre Nase mit dem Ärmel des Nachthemdes abzuwischen. „Er musste immer öfter lange arbeiten und wir verbrachten nur noch wenig Zeit miteinander. Und wenn, dann wechselten wir kaum ein Wort. Stattdessen brachte er mir ein Geschenk nach dem anderen mit. Ohne jeglichen Anlass. Er wollte ganz offensichtlich sein Gewissen beruhigen.“ Sie lachte verächtlich. „Als ich ihn dann zur Rede stellte, hat er gar nicht versucht zu leugnen, sondern alles bestätigt, was ich längst schon ahnte.“
Kalinin unterbrach Olga Iljin, indem er sich an Irina wandte. Die langen Monologe begannen ihn zu langweilen und er hoffte, über Victors Geliebte etwas Verwertbareres in Erfahrung zu bringen.
Irina Rachmanov, vierundzwanzig Jahre alt, ledig, kam aus der Ukraine. Sie arbeitete bei Salut in der Verwaltung, war dort zuständig für die Dienstpläne der Arbeiter in den Montagehallen, wo sie auch Victor kennenlernte.
„Seit wann leben Sie in Moskau?“, fragte Kalinin die junge Frau.
„Seit fast drei Jahren.“ Die Antwort kam ohne Zögern, obwohl auch sie ihre Angst nicht verbergen konnte. Sie blickte immer wieder zu Olga Iljin hinüber, die sich abwechselnd den Oberschenkel und die Wange rieb.
„Und wo haben Sie vorher gewohnt?“
„In Kiew.“ Wieder wanderte ihr Blick zu Olga.
„Möchten Sie Frau Iljin etwas sagen?“, fragte Kalinin.
Als Antwort erhielt er nur ein zaghaftes Kopfschütteln.
„Haben Sie ein Verhältnis mit ihrem Mann?“
Irina Rachmanov nickte.
„Wie lange schon?“
„Seit etwas über zwei Jahren.“
„Und wie haben Sie sich kennengelernt?“
Sie erzählte ihre Geschichte, doch Kalinin hörte schon gar nicht mehr zu. Ein Mann, der seine Ehefrau mit einer attraktiveren Arbeitskollegin betrog, eignete sich kaum, um seine Vorgesetzten zu beeindrucken. Er sah auf die Uhr. Wenn sie jetzt aufbrachen, blieb ihnen noch genügend Zeit, die Wohnungen der Nachbarn zu durchsuchen. Sicher saßen sie alle wach in ihren Betten, inständig hoffend, dass die Tschekisten sie verschonten.
Er beendete das Verhör ohne weitere Erklärung und verließ gemeinsam mit seinen Männern die Wohnung. Als er gerade über die Türschwelle treten wollte, fiel sein Blick auf einen Stapel Papiere. Papiere, die nicht wie alle anderen nur lose herumflogen, sondern sorgfältig zu einem Stapel zusammengeheftet auf dem Boden lagen. Er hob sie auf und blätterte neugierig darin herum.
„Was sind das für Pläne?“ Victor und Irina sahen ihn mit kreidebleichen Gesichtern an. Für einen kurzen Moment schien Kalinin überrascht, irritiert, doch dann verstand er und lächelte zufrieden. Er war sich jetzt sicher, seine Privilegien nicht zu verlieren.