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Die Machnowzi Osterwick 1920

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Keine zwei Monate später machte Nestor Machno sein Versprechen wahr und überquerte mit einer Armee von fast 100.000 Mann den Dnjepr bei Chortitza. Nicht ganz freiwillig, da die Bolschewiken sich seiner Dienste entledigten, sobald sie seiner anarchistischen Weltsicht und den damit verbundenen Exzessen überdrüssig wurden. Ihr gemeinsamer Feind – die Weiße Armee – stand kurz vor der Kapitulation, sodass die Generäle der Roten Armee es sich erlauben konnten, ihren einstigen Verbündeten loszuwerden.

Machno hatte seine Schuldigkeit getan und er war schlau genug zu wissen, dass er in einer offenen Konfrontation mit der Roten Armee nicht würde bestehen können. Ihm blieb nichts anderes übrig, als den Rückzug anzutreten, was der überwiegend deutschstämmigen Bevölkerung in der Region Chortitza nun teuer zu stehen kam. Die Machnowzi drangen in ihre Häuser ein, nahmen sich, wonach ihnen der Sinn stand. Sie fraßen sich regelrecht durch die Speisekammern und als diese geleert waren, gingen sie in die Ställe und erschossen die Tiere. Wenn der Alkohol hinzukam, dann machten sie sich einen Spaß daraus, den gesamten Viehbestand eines Bauern zusammenzuschießen, ohne Rücksicht, dass so viele Tiere auf einmal nicht zu verwerten waren.

Bald schon hing über den Dörfern rund um Chortitza ein süßlicher Verwesungsgeruch in der Luft und Krankheiten begannen sich auszubreiten. Doch die Machnowzi scherten sich nicht darum. Sie legten sich in die Betten der Mennoniten und schliefen ihren Rausch aus. Immer öfter verlangten sie dabei nach Mädchen und jungen Frauen und manch ein Familienvater, der sich schützend vor seine Töchter stellte, bezahlte seinen Mut mit dem Leben. Die deutschen Siedler erkannten mit wachsender Verzweiflung, dass die rücksichtslose Ausbeutung der Machnowzi sie über Kurz oder Lang in den Untergang treiben würde.


Willi schaute aus dem Fenster und bemerkte die vielen Staubkörner, die im Licht der hereinfallenden Herbstsonne tanzten. Ungewöhnlich, dachte er. Normalerweise achtete seine Mutter peinlichst genau darauf, das Haus sauber zu halten. Ein sauberes Haus ist Ausdruck einer sauberen Seele. So predigte sie es immer wieder. Was sollten die Leute denken, wenn sie uns in einem verdreckten Haus besuchen kommen, pflegte sie dann zu sagen. Das Haus der Bergens war daher stets sauber bis unter die Dachgiebel – wie alle Häuser in Osterwick. Niemand wollte sich nachsagen lassen, schlampig oder gar faul zu sein.

Willi sah aus dem Augenwinkel, dass sein Vater den Staub ebenfalls bemerkt hatte. Aber jetzt war nicht die Zeit, Mutter zu tadeln. Die Bergens standen dicht beieinander in ihrer kleinen Stube und sahen dem Machnowzi zu, wie er das Essen in sich hineinschlang. Der Mann stank nach Alkohol und Pferdemist. Seine groteske Kleidung sah aus, als hätte er sie noch nie gewechselt, geschweige denn gewaschen. Er saß allein am Tisch und Willi ekelte sich angesichts seiner Essmanieren. Jedes Mal, wenn er den Löffel voller Suppe an seinen Mund führte, verloren sich dabei ein paar Tropfen auf dem ohnehin schon verdreckten Hemd. Dazu gesellten sich aufgeweichte Brotkrümel, die ihm aus dem offen kauenden Mund fielen. Die Bergens sahen zu, wie der Fleck aus Suppe und Brot sich vergrößerte. Doch der Mann schien es entweder nicht zu bemerken, oder es war ihm schlicht egal.

Willi ertappte sich dabei, wie er die Luft anhielt, nur um nach wenigen Sekunden geräuschvoll wieder auszuatmen. Er konnte seine Anspannung nicht verbergen. Was fiel diesem Mann ein, am heiligen Sonntag in ihr Haus einzudringen, sich einfach zu nehmen, was ihm nicht gehörte? Er musste sich Zutritt verschafft haben, während die Bergens den Gottesdienst besuchten. Wie immer verließen sie ihr Haus unverschlossen, da es in Osterwick keinen Grund für derartige Vorsichtsmaßnahmen gab. Umso erschrockener waren sie, bei ihrer Rückkehr den Fremden anzutreffen.

„Essen“, sagte er kurz angebunden ohne Erklärung für sein unerlaubtes Eindringen. Und als wäre diese Aufforderung nicht deutlich genug, legte er zur Warnung seinen Revolver griffbereit vor sich auf den Tisch.

Willi wusste aus den Erzählungen seiner Freunde, die ebenfalls schon Besuch von den Machnowzi erhalten hatten, dass sich angesichts dieser Bedrohung jegliche zuvor erdachte Heldentat in Luft auflöste. Er wollte es nicht wahrhaben, sich niemals einfach nur ergeben, musste nun aber feststellen, dass sie recht behielten. Er konnte nur tatenlos dabei zusehen, wie der Fremde seine Mutter herumkommandierte, wie sie zwischen Küche und Stube hin und her eilte, eifrig bemüht, dem Mann etwas zum Essen zu bringen. Sie hatten alle Angst. Angst, dem Machnowzi offen entgegenzutreten, ihn aus dem Haus zu werfen, wie man es üblicherweise mit solchen Flegeln tut.

Willi zuckte erschrocken zusammen, als der Mann seinen leeren Teller klirrend in die Mitte des Tisches schob, um Platz für seine dreckigen Stiefel zu machen. Der Machnowzi lehnte sich in seinem Stuhl zurück, steckte sich eine Zigarette an, nahm einen tiefen Zug und ließ dann seinen Blick durch den Raum gleiten. Erst jetzt schien er seine Umgebung mit nervösen Blicken wahrzunehmen. Der Mann wirkt unsicher, dachte Willi. So gar nicht wie ein kampferprobter Soldat. Ohne seine Waffen und ohne seine komische Uniform hätte man ihn für einen einfachen Bauern gehalten.

Als Maria zurück in den Raum kam, musterte er sie von oben bis unten, ganz so, als würde er sie erst jetzt bemerken. Maria war eine schöne Frau, das wusste Willi. Und es war ihm jedes Mal unangenehm, wenn seine Freunde in seiner Gegenwart über sie sprachen. Doch im Blick dieses Machnowzi lag weit mehr als nur jugendliche Bewunderung, als er sie nun zu sich winkte.

„Darf ich Ihnen einen Schlafplatz in unserer Scheune zeigen, oder werden Sie heute noch weiterreisen?“

Willi bemerkte die Verzweiflung in der Stimme seines Vaters, der versuchte, den Mann abzulenken und in ein Gespräch zu verwickeln. Doch der ließ sich darauf nicht ein. Ohne den Blick von Maria abzuwenden, hieß er sie mit einem weiteren Fingerzeig, näherzukommen. Doch sie rührte sich nicht vom Fleck. Erst als der Mann seine Hand nach dem Revolver ausstreckte, ging sie langsam auf ihn zu.

Sie spürte, wie sich seine raue Hand um ihre Wade legte, langsam unter ihrem Rock nach oben wanderte. Sie hatte gehört, was die Machnowzi den Frauen antun, und begann vor Angst zu zittern. Sie wollte sich wehren, konnte sich dem Mann aber nicht widersetzen, ohne das Leben ihrer Familie zu gefährden. Maria suchte den Blickkontakt ihres Mannes, doch Heinrich schaute nur hilflos zu Boden. Tränen schossen ihr in die Augen. Ihre Schenkel verkrampften sich. Der Mann schien das zu merken und wandte sich grinsend – ohne die Hand hervorzuziehen – an Heinrich: „Ich möchte, dass sie mir die Scheune zeigt.“


In der kleinen Stube der Bergens war es ganz still. Willi blickte immer noch starr hinüber zur Küchentür, durch die seine Mutter und der Machnowzi vor wenigen Minuten nach draußen gegangen waren. Er verstand nicht, warum der Mann sich die Scheune unbedingt von ihr zeigen lassen wollte. Aber er ahnte, dass sie in großer Gefahr schwebte.

„Was sollen wir jetzt tun?“, fragte er leise seinen Vater.

„Ich weiß es nicht … Was sollen wir tun? Er hat doch eine Waffe.“

Willi spürte, dass sein Vater nicht in der Lage war, einen klaren Gedanken zu fassen. Sollte er hinüber zur Scheune laufen und versuchen, seiner Frau zu helfen? Oder doch besser hier bei seinen Kindern bleiben? Nie zuvor hatte er seinen Vater so hilflos gesehen wie in diesem Moment.

„Ich kann Hilfe holen“, schlug Willi vor. Doch noch bevor sein Vater etwas antworten konnte, ging die Küchentür wieder auf und Maria kam herein. Ihre Knie versagten den Halt und sie sank auf der Stelle in sich zusammen. Willis kleine Schwestern begriffen die Situation als Erste.

„Mama“, riefen sie aus vollem Hals und stürmten auf ihre Mutter zu. Dann kamen auch Willi und sein Vater herbei, bemerkten erst jetzt das Blut auf ihrer Bluse. „Was ist passiert?“, hörte Willi seinen Vater fragen.

Nur langsam kam ihr eine Antwort über die Lippen. „Er ist tot“, flüsterte sie. „Ich habe ihn umgebracht.“

Roter Herbst in Chortitza

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