Читать книгу Roter Herbst in Chortitza - Tim Tichatzki - Страница 16
Der Brüderrat Osterwick 1920
ОглавлениеHeinrich rutschte auf seinem Platz hin und her. Er fühlte sich unwohl, so weit vorne in der ersten Reihe zu sitzen, und spürte das unangenehme Gefühl Dutzender fragender Blicke in seinem Rücken. Kein Wunder, dachte er, schließlich hatte man diesen Brüderrat extra seinetwegen einberufen.
Er beobachtete, wie Abram Dyck sich etwas abseits mit den Ältesten besprach. Sie unterhielten sich im Flüsterton, die Köpfe dicht zusammengesteckt. Doch selbst ihr Flüstern klang in der ansonsten völlig stillen Kirche unnatürlich laut. Aus dem Augenwinkel bemerkte Heinrich, dass hinter ihm nur die rechte Hälfte des Kirchenraums belegt war. Die Männer saßen wie üblich auf ihren Stammplätzen, als müssten sie sich auch heute von den Frauen absondern, die im Gottesdienst immer nur die linke Hälfte besetzten. Gut, dass sie nicht in einem Boot saßen, kam es Heinrich in den Sinn, sie wären aufgrund der Schlagseite sicher gekentert.
Der Brüderrat galt als die höchste Autorität in Osterwick. Es gab weder Polizei noch anderweitige Justiz. Nur einen gewählten Dorfschulzen, der sich um die Pflege und Instandhaltung von öffentlichen Einrichtungen wie Brücken und Straßen kümmerte. In seine Zuständigkeit fiel es auch, die Steuern rechtzeitig einzusammeln und an die staatlichen Behörden abzuführen. Dennoch konnte selbst der Dorfschulze nichts gegen den Willen des Brüderrates unternehmen.
Heinrich erinnerte sich daran, wie vor vielen Jahren ein Familienvater mitsamt seiner Familie aus der Dorfgemeinschaft ausgeschlossen worden war. Der Mann – ein notorischer Trinker – verprügelte regelmäßig seine Frau. Und als er auch nach mehrmaliger Ermahnung nicht davon abließ, hatte man allen Einwohnern von Osterwick den Kontakt zu dieser Familie untersagt. Heinrich hatte dies schon damals für eine falsche Entscheidung gehalten, denn dadurch verschwand das Treiben des Mannes noch mehr in der Dunkelheit und man überließ die Familie ihrem Schicksal. Letztlich war der Frau und ihren Kindern nichts anderes übrig geblieben, als das Dorf zu verlassen und in einen anderen Ort umzusiedeln – hoffend, dass die Kenntnis über den Gemeindeausschluss und die Flucht vor ihrem Mann ihr nicht schon vorausgeeilt war. Bei dem Gedanken an diese Familie schämte Heinrich sich immer noch. In dem Moment trat Abram Dyck an die Kanzel und eröffnete die Brüderversammlung.
„Brüder, wir sind heute Abend hier zusammengekommen, um Auskunft über die Geschehnisse in der Scheune der Bergens zu erhalten, so wie sie sich letzten Sonntag zugetragen haben.“
Er kommt ohne lange Vorrede zur Sache, dachte Heinrich.
„Wie allen bereits bekannt, hat uns Bruder Heinrich am Nachmittag des vergangenen Sonntags darüber unterrichtet, dass einer der Machnowzi tot in seiner Scheune liegt. Wir haben den Mann noch am selben Tag beerdigt. Nun wollen wir erfahren, wie er zu Tode gekommen ist und wie sich dies auf unsere Beziehung zu den Machnowzi auswirkt. Ich bitte nun Bruder Bergen nach vorne. Er wird uns berichten, was sich genau am letzten Sonntag ereignet hat.“
Als lägen ihm Bleigewichte auf den Schultern, erhob sich Heinrich schwerfällig von seinem Platz, um hinüber zur Kanzel zu gehen. Erstaunt stellte er fest, dass der Pastor keine Anstalten machte, diese für ihn zu räumen. Er hatte gehofft, sich an dem kleinen Pult festhalten zu können, doch so wusste er nicht, wohin mit seinen Händen. Er ließ sie an den Seiten herabhängen, stand breitbeinig vor den neugierig dreinblickenden Männern und sah in seinem schlecht sitzenden Anzug aus wie ein nasser Kartoffelsack. Er erzählte von der Überraschung, diesen Mann in ihrem Haus anzutreffen. Von ihrer Angst. Davon, wie der Fremde sich zunächst satt gegessen hatte und dann mit Maria in der Scheune verschwand.
„Er wollte Maria etwas antun, so viel stand fest. Und er hatte eine Waffe dabei. Doch Maria konnte sich in der Scheune seinem Griff entwenden, noch bevor … Es muss ein Reflex gewesen sein, so erzählte sie mir, dass sie die Mistgabel ergriff, um sie ihm mit aller Kraft in den Leib zu rammen.“
Ein Raunen ging durch die Menge, da es den Brüdern schwerfiel sich vorzustellen, wie eine Frau zu solch einem Kraftakt fähig sein konnte.
„Da hat ihr doch bestimmt Orlow geholfen“, rief einer der Männer in die aufkommende Unruhe hinein. Die Stimmung schlug prompt in Gelächter um, als ob dem jungen Mann ein besonders guter Witz gelungen war.
„Ruhe!“, rief Abram Dyck von der Kanzel in dem Versuch, die allgemeine Ordnung wiederherzustellen. „Solche haltlosen Äußerungen haben hier nichts zu suchen! Bruder Heinrich, bitte erzähl weiter.“
„Sie sagte mir“, fuhr Heinrich erklärend fort, „dass sie vor Angst zitterte und Gott innerlich um Hilfe bat.“
Heinrich wusste den gerade aufbrandenden Tumult um seine Frau nicht einzuordnen. Was sollte diese Bemerkung über Juri Orlow? Er versuchte sich zu konzentrieren.
„Als sie die Gabel sah, griff sie ohne zu überlegen danach und rammte sie dem Mann in den Bauch. Dann lief sie zurück ins Haus. Wir trauten uns zunächst nicht hinauszugehen, aus Angst, dass der Machnowzi doch nur verletzt war. Nach etwa einer Stunde ging ich dann allein zur Scheune und sah ihn dort in seinem Blut liegen. Ein scheußlicher Anblick. Trotzdem musste ich denken, dass es ihm recht geschah.“
Wieder ging ein Raunen durch die Versammlung und sofort bereute Heinrich seine unbedachte Äußerung.
„Bruder Heinrich“, unterbrach der Pastor die wieder aufkommende Unruhe mit lauter Stimme. „Mord ist eine schwere Sünde. Aber von allen unseren Sünden können wir reingewaschen werden, wenn wir diese nur aufrichtig bekennen und bereuen. Mir scheint aber, dass du die Taten deiner Frau nicht wirklich bereust, oder?“
Heinrich erkannte, dass von seiner nächsten Antwort die Zukunft seiner Familie abhing. Auch wenn er nie wieder einen glaubwürdigen Einwand gegen den Selbstschutz vorbringen konnte, war er Gott dennoch dankbar, dass Maria die Kraft und den Mut fand, diesen Mann zu töten. Wie konnte es falsch sein, sich einer drohenden Schändung zu widersetzen? Aber hier ging es nicht um die Frage, ob ihr Handeln vielleicht aus Notwehr geschah und dadurch gerechtfertigt werden könnte. Es ging einzig und allein darum, dass Maria gegen Gottes Gebot verstoßen hatte.
Genauso hätte auch Heinrich noch vor wenigen Tagen argumentiert. Hielt Jesus es für nötig, das Kreuz vor Augen, sich mit Gewalt zu wehren?, so die Frage, die man von Kindesbeinen an mit einem klaren Nein beantwortete. Doch diese Antwort fiel so viel leichter, wenn es nicht um die eigene Frau ging. Es brodelte in seinem Inneren und Heinrich wusste, dass schon sein Zögern ihm ernste Probleme bereiten könnte. Er beeilte sich zu sagen, was ihm hier und jetzt zutiefst widerstrebte.
In dem Moment erhob sich Johann Heidebrecht, der frühere Pastor ihrer Gemeinde, und kam Heinrich zuvor. Aufgrund seiner Verdienste und seines fortgeschrittenen Alters genoss er immer noch großes Ansehen unter den Mennoniten. Das Reden bereitete ihm mittlerweile Mühe; dadurch erhielt das Wenige, das er noch sagte, ein besonderes Gewicht.
„Sie hat nichts Unrechtes getan“, sagte er mit brüchiger Stimme. „Sie hat sich gegenüber einem Verbrecher zur Wehr gesetzt. Die Familie darf dafür nicht bestraft werden.“
Bruder Heidebrecht nahm wieder Platz und alle Anwesenden spürten, dass der erwartete Verlauf der Versammlung damit auf den Kopf gestellt wurde. Niemand wagte es, seine Erklärung öffentlich infrage zu stellen.
Auch Abram Dyck fehlten die Worte. War das nun die endgültige Legitimation des Selbstschutzes? Wie sollte er jetzt noch glaubhaft gegen jegliche Form der Gewaltanwendung predigen? Wie sollte er die jungen Männer davon abhalten, zu den Waffen zu greifen, wenn sie hier einen Präzedenzfall schufen? Wie konnte Bruder Heidebrecht ihm derart in den Rücken fallen?
Heinrich hingegen konnte sein Glück kaum fassen. War es das wirklich schon gewesen, oder brachte noch jemand den Mut auf, diesen gewichtigen Worten zu widersprechen? Er wartete einen kurzen Moment und kehrte dann zurück zu seinem Platz. Als er sich gerade setzen wollte, richtete Abram noch einmal das Wort an ihn.
„Bruder Heinrich, es liegt uns allen fern, Bruder Heidebrecht zu widersprechen, auch wenn wir seine Worte vielleicht noch nicht in aller Tiefe verstehen. Es bleibt aber noch die Frage zu klären, wie wir mit den Machnowzi fortan umgehen wollen. Sicher wird der Tod ihres Kameraden nicht lange unbemerkt bleiben und sie werden kommen, um seinen Tod zu sühnen. Dürfen wir davon ausgehen, dass du ihnen gegenüber die Verantwortung für den Tod dieses Mannes übernimmst?“
Was blieb Heinrich anderes übrig, als die Frage nickend zu bejahen.
„So sei es“, fuhr der Pastor fort und beendete damit die Versammlung. Er hoffte, dass zumindest die Aussicht auf persönliche Rechenschaft die Männer davon abhalten würde, weitere Dummheiten zu begehen.