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Juri und Maxim Orlow Osterwick 1919
ОглавлениеAn diesem Abend lag Willi noch lange wach in seinem Bett. Das Maschinengewehr ging ihm nicht aus dem Kopf. Er wunderte sich, dass ihnen bei ihrer Rückkehr keine Fragen gestellt wurden, obwohl jeder im Dorf das laute Rattern des MGs gehört haben musste. Doch die Osterwicker schienen sich nicht dafür zu interessieren. Entweder waren sie schon so sehr an den Klang von Gewehrsalven gewöhnt, dass sie diese ignorierten, wenn die Schüsse nicht in unmittelbarer Nähe abgefeuert wurden – oder sie hatten tatsächlich nichts mitbekommen.
Willi konnte Maxim glücklicherweise überreden, ihren Fund erst einmal geheim zu halten, da er die andauernde Diskussion über den Selbstschutz nicht unnötig belasten wollte. Viel Weisheit für einen Zwölfjährigen, der die Befindlichkeiten der Mennoniten besser kannte als Maxim. Seit Wochen sprach man im Dorf über kein anderes Thema mehr, ohne dass eine Einigung in Sicht gewesen wäre. Die Differenzen schienen unüberwindbar, was ein Eingreifen des Brüderrats umso dringlicher machte. Heute Abend – so hoffte Willi – würden sich die Männer Osterwicks endlich darüber beraten.
Seit Ausbruch der Revolution tobte in weiten Teilen des ehemaligen Zarenreichs ein Bürgerkrieg, dessen Fronten sich mittlerweile auch quer durch die Ukraine zogen. Auf der einen Seite stand die Rote Armee, die versuchte, die Revolution zu verteidigen. Auf der anderen Seite die Weiße Armee, deren Offiziere mit dem gestürzten Zaren sympathisierten und die alten Verhältnisse wiederherzustellen gedachten. Unzählige Bauerndörfer gerieten dabei zwischen die Fronten und mussten je nach Verlauf des Krieges mal die Soldaten der einen, mal die der anderen Seite ernähren. Häufig wurden ihnen die Naturalien gewaltsam entwendet, was die Soldaten damit rechtfertigten, dass die Bauern zuvor die Gegenseite unterstützt hatten.
Um sich vor dieser Eskalation zu schützen, formierten die Bauern allerorts kleine Verteidigungseinheiten, Selbstschutz genannt. Auch die Bürger von Osterwick konnten sich dieser Idee gegenüber nicht länger verschließen, obwohl die wenigen Begegnungen mit der Weißen Armee bisher immer friedlich verlaufen waren. Scheinbar standen die deutschen Siedler mit ihren sauberen, wohlhabenden Dörfern exemplarisch für jenes Russland, das die Zarenanhänger der Weißen Armee zu verteidigen suchten.
Willi war noch nie gut darin gewesen, ein Geheimnis für sich zu behalten. Seine Geschwister konnten es ihm an der Nasenspitze ablesen, wenn er ihnen etwas vorenthielt. So musste er sich große Mühe geben, den Fund des MG nicht zu verraten. Würde der Brüderrat heute Abend endlich zu einer Einigung finden, dann wüsste er, wem er sein Geheimnis anvertrauen konnte.
Als sein Vater endlich von der Versammlung zurückkehrte, lag Willi gespannt in seinem Bett. Er versuchte, das Gespräch seiner Eltern im Nebenzimmer zu belauschen, doch Heinrich und Maria waren sehr geübt darin, in dem hellhörigen Haus keine unnötigen Geräusche zu verursachen. Willi verstand kein Wort. Nur ein einziges Mal, als sie gerade über die Orlows sprachen, erhoben sie kurz ihre Stimmen. Aber da war Willi schon längst eingeschlafen.
Juri Orlow und sein Sohn Maxim, zwei ausgehungerte Gestalten auf der Suche nach Arbeit, hatten vor einem halben Jahr an die Tür der Bergens geklopft. Heinrich wollte die beiden zuerst abweisen, da er nicht wusste, wie er sie beschäftigen sollte. Außerdem – und das war der eigentliche Grund – sorgte er sich, was die anderen im Dorf dachten, wenn sich plötzlich zwei Ukrainer auf seinem Hof herumtrieben. Doch Maria zerstreute die Einwände ihres Mannes: Es sei für Christen nicht ziemlich, zwei arbeitswillige, ausgehungerte Menschen ihrem Schicksal zu überlassen. Der Appell an christliche Tugenden verfehlte bei Heinrich nie seine Wirkung; daher konnten Juri und Maxim bleiben. Und obwohl beide kaum in der Lage waren, den Anforderungen auf den Feldern zu genügen, entpuppten sie sich bald als große Bereicherung für die Bergens.
Die Mädchen schlossen Juri von Anfang an in ihr Herz. Er verfügte über einen schier unerschöpflichen Fundus an Geschichten, die er gerne und mit ausladenden Gesten zu erzählen wusste. Schon bald versammelten sich die Kinder jeden Abend um ihn herum und bedrängten ihn so lange, bis er endlich fortfuhr zu erzählen. Die Geschichten begannen meist heiter, nahmen im weiteren Verlauf aber eine melancholische Wendung. Maria, die während ihrer Hausarbeit lauschte, ahnte, welch tiefe Traurigkeit in Juris Seele schlummerte. Sie hätte ihn gerne nach seiner Vergangenheit gefragt, hielt sich aber aus Höflichkeit zurück.
Juri erwies sich im Gegensatz zu seinem Sohn auch nach mehreren Wochen Eingewöhnung als völlig ungeeignet für die Feldarbeit. Sein Rücken plagte ihn, und obwohl er es jeden Tag aufs Neue versuchte, ohne über seine offensichtlichen Schmerzen zu klagen, wurde er schon bald einer Putzkolonne zugeteilt, wo er sich zu einem Fachmann für Reisigbesen entwickelte. Schnell sprach sich im Dorf herum, dass Juri Orlow die besten Besen binden konnte, die es in Osterwick zu finden gab. Es entwickelte sich ein kleines Geschäft, was es ihm ermöglichte, schon nach wenigen Wochen für Essen und Behausung zu bezahlen. Nicht viel, aber es war sein aufrichtiger Wunsch, den Bergens etwas für ihre Gastfreundschaft zurückzugeben, da er seine Arbeitskraft nicht, wie ursprünglich verabredet, auf den Feldern einbringen konnte.
Maxim unterschied sich mit seinem lausbübischen Charme deutlich von den mennonitischen Kindern, die den Blick und die Stimme senkten, wenn sie mit einem Erwachsenen sprachen. Er hingegen stand aufrecht, schaute seinem Gegenüber mit dunklen Augen und unerschütterlichem Selbstbewusstsein ins Gesicht, sodass dieser sich manchmal ungewohnt bedrängt fühlte. Während die Jungs in Osterwick ihre Haare wenigstens einmal im Monat geschnitten bekamen, ließ Maxim seine dunkelblonde Mähne ungebändigt auf die Schultern fallen.
Seine äußere Erscheinung unterschied ihn von den Jungs seines Alters wenigstens genauso stark wie sein Auftreten, und so verwunderte es nicht, dass er bei den Mädchen des Dorfes schon bald größte Aufmerksamkeit genoss. Sie suchten jede sich bietende Möglichkeit, um ihn in ein Gespräch zu verwickeln, obwohl es ihnen eigentlich nicht gestattet war, sich mit Jungen ihres Alters abzugeben. In manchen Familien konnte dies sogar ernsthafte Konsequenzen nach sich ziehen, was sie aber nicht daran hinderte, ständig um Maxim herumzuscharwenzeln.
Eines Vormittags, die Kinder befanden sich in der Schule und Heinrich auf den Feldern, nahm Maria all ihren Mut zusammen und ging hinüber zur Scheune, wo die Orlows ihr Lager aufgeschlagen hatten. Juri legte gerade ein Bündel Reisig zum Trocknen aus. Als er Maria bemerkte, unterbrach er seine Arbeit, erhob sich ungelenk, nahm seine Mütze ab und begrüßte sie gewohnt freundlich.
„Juri, darf ich dir eine Frage stellen?“, kam Maria unvermittelt zur Sache.
„Natürlich, Frau Bergen. Ich hoffe, dass meine Antwort zufriedenstellend ist“, antwortete Juri überrascht.
„Wo ist deine Frau, Juri?“
Diese Frage hatte er nicht erwartet. Einen Moment lang wirkte er verlegen. „Wer sagt, dass ich verheiratet bin, Frau Bergen?“
„Maxim ist dir wie aus dem Gesicht geschnitten und er versteht es, mit gleicher Freundlichkeit zu beeindrucken wie du. Er ist unverkennbar dein Sohn. Ein Mann wie du setzt aber keinen Sohn in diese Welt, ohne ihm die Wärme einer liebenden Familie zu geben.“
Sie merkte, dass ihre Worte viel respektloser klangen als beabsichtigt. Und auch aus Juris Gesicht wich für einen kurzen Augenblick die Freundlichkeit.
„Es tut mir leid“, sagte sie, hastig bemüht, den Schaden wiedergutzumachen. Sie wandte sich zum Gehen.
„Wir lebten in einem kleinen Dorf, ganz in der Nähe von Jusowka“, begann Juri. „Sie hieß Daria und wir hatten drei Kinder. Maxim ist der Älteste. Vor einem guten Jahr kamen sie nachts in unser Haus. Sie beschuldigten mich, den Weißen Informationen zukommen zu lassen, was natürlich nur ein Vorwand war, um ihren Vorgesetzten die eigene Tüchtigkeit bei der Bekämpfung der Gegenrevolution vorzugaukeln. Sie holten fast jede Nacht unschuldige Menschen aus ihren Betten. Immer mit der gleichen Begründung: Ihr spioniert für die Weißen. Sinnlos, diese Anschuldigung entkräften zu wollen. Selbst wenn man aufseiten der Revolutionäre stand, so zählte in dieser Nacht nur das Urteil der Tschekisten2.
Sie wollten uns einschüchtern, indem sie die Männer stundenlang verhörten. In der Regel beließen sie es bei ein paar Blutergüssen und harmlosen Prellungen. Doch diesmal nahmen sie Daria mit. Ich wusste nicht, wohin man sie brachte, geschweige denn, was man ihr vorwarf. Also ging ich am nächsten Morgen nach Jusowka, um bei der Miliz Anzeige zu erstatten. Aber es geschah nichts, obwohl ich mich jeden Tag nach ihrem Verbleib erkundigte. Zwei Wochen vergingen, dann kamen die Männer zurück. In der Hand hielten sie den von mir unterschriebenen Beschwerdebericht. Sie erklärten mir, dass ich Daria nie mehr wiedersehen würde, und schlugen dann so lange mit ihren Knüppeln auf mich ein, bis ich das Bewusstsein verlor.“
Juri erzählte seine Geschichte mit äußerster Ruhe und fester Stimme. Er blickte dabei zu Boden. Maria konnte seinen Schmerz nur anhand der Tränen erahnen, die ihm die Wangen hinunterliefen. Sie wollte ihn gerne in den Arm nehmen und trösten, doch das traute sie sich nicht.
„Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist, wie Maxim und ich vor unserem brennenden Haus auf der Straße sitzen. Die Tschekisten haben es beim Verlassen angezündet und der Junge konnte uns gerade noch rechtzeitig aus den Flammen retten. Von ihm erfuhr ich auch, dass sie die Mädchen mitgenommen haben. Ich weiß bis heute nicht, wo sie sind.“
Seine Stimme brach bei dem Gedanken an seine beiden Töchter und es dauerte einen Moment, bis er fortfuhr zu erzählen.
„Hilfe aus der Nachbarschaft konnten wir nicht erwarten, da sie im Dorf die Nachricht verbreiteten, ich sei ein Spion der Weißen. Niemand wollte danach noch etwas mit uns zu tun haben. Deshalb sind wir seit fast einem Jahr auf Wanderschaft. Wir leben von der Hand in den Mund. Maxim lässt es sich nicht anmerken, redet kaum darüber, aber ich weiß, wie schwer ihn der Verlust seiner Mutter und seiner beiden Schwestern getroffen hat. Manchmal war ich mir nicht sicher, ob wir es schaffen. Es war eine schreckliche Zeit.“
Juri hob den Blick, schaute Maria mit geröteten Augen an. Auch sie konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie scherte sich nicht länger darum, was andere denken oder sagen könnten, ging auf Juri zu und nahm ihn tröstend in den Arm. Beide bemerkten nicht, wie das Nachbarsmädchen die leere Milchkanne abstellte, bevor es sich leise zurückzog.
2Tscheka ist die Abkürzung für die „Außerordentliche Allrussische Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage“. Hiervon abgeleitet entstand der propagandistische Ausdruck „Tschekisten“ für die Mitarbeiter der Inlandgeheimdienste.