Читать книгу Roter Herbst in Chortitza - Tim Tichatzki - Страница 25
Hunger und Typhus Osterwick 1921
ОглавлениеAls das Fieber wich, erhob sich Willi schwerfällig von seinem Bett. Er erschrak beim Anblick seiner dünnen Beine, wusste nicht, ob sie ihn tragen würden. Es mussten Wochen vergangen sein. Wochen, in denen er mit dem Tod rang.
Willi zog sich eine Hose an, in die er gut und gerne zweimal hineinpasste, und schlurfte langsam hinüber in die Küche. Den Hunger empfand er als gutes Zeichen. Hoffentlich hatte Mutter etwas von ihrer leckeren Hühnersuppe gekocht. Doch in der Küche angekommen, fand er sie ebenso verlassen vor wie den Rest des Hauses.
Erst jetzt fiel ihm die ungewöhnliche Stille auf. Normalerweise hallte durch das Haus der Bergens wildes Kindergeschrei. Was war geschehen? Willi strich mit der Hand über den kalten Ofen, warf einen Blick in die leere Speisekammer. Konnte es wirklich wahr sein, dass die Machnowzi ihnen alles weggenommen hatten?
„Willi, Junge, es geht dir besser.“
Willi drehte sich um, blickte in das ausgezehrte Gesicht seiner Mutter. Um ihre Augen lag ein trauriger Schleier, der sie älter aussehen ließ.
„Mama, ja, es geht mir wieder besser. Und ich habe einen Bärenhunger.“
Maria lächelte, offensichtlich erleichtert, dass ihr Sohn das Fieber überstanden hatte.
„Das ist gut“, sagte sie. „Aber hilf mir bitte, wieder zurück in mein Bett zu kommen.“
Willi stützte seine Mutter. Auch wenn er selbst noch sehr schwach war, ging es seiner Mutter noch viel schlechter als ihm. Er half ihr, sich wieder hinzulegen, bemerkte erst jetzt die unberührte Schlafstätte seines Vaters.
„Wo ist Papa?“
Maria nahm die Hand ihres Sohnes. „Er ist vor zwei Wochen gestorben. Hunger und Typhus waren zu viel für ihn.“
Willi vernahm ihre Worte, spürte aber, dass deren Bedeutung nicht zu ihm durchdrang. Er saß auf der Bettkante neben seiner Mutter, hielt ihre Hand und sah, wie ihr die Tränen kamen. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Sein Vater war gestorben, ohne dass er sich von ihm verabschieden konnte. Er hatte nicht einmal mitbekommen, dass es ihm so schlecht ging. Das Letzte, woran sich Willi erinnerte, war, wie sein Vater sich trotz des Hungers mühte, die Familie am Leben zu erhalten. Doch dann kam das Fieber und Willis Erinnerungen verschwammen in einem Nebel.
„Und du? Wie geht es dir? Hast du auch das Fieber?“, fragte er schließlich seine Mutter.
„Nein, kein Fieber. Es ist nur der Hunger, der mich so schwächt. Ich weiß nicht, wann ich zuletzt etwas Richtiges gegessen habe.“
„Soll ich dir etwas besorgen? Brot, Milch, Fleisch, was immer du willst.“
Maria lächelte ihren Sohn an, erfreut, dass es ihm wirklich besser ging. „Nein, nein, mach dir keine Mühe. Wir haben doch alle nichts mehr.“
So langsam wurde Willi das ganz Ausmaß der Katastrophe bewusst. Die Machnowzi hatten über Monate hinweg in der ganzen Region Chortitza gehaust wie die Tiere und den Mennoniten alles genommen, was sie zum Leben brauchten. Und als das letzte Vieh geschlachtet, das letzte Saatgut verbraucht war, da brachten sie den Typhus über die geschundene Bevölkerung. Diesem unsichtbaren Tod konnten die von Hunger geschwächten Menschen nichts mehr entgegensetzen. In manchen Dörfern starb jeder Dritte infolge der Seuche oder des Hungers.
Viele Höfe wurden aufgegeben, weil es nicht mehr genügend Arbeiter gab, um sie weiter zu bewirtschaften. Fabriken mussten ihren Betrieb einstellen, Schulen blieben geschlossen und selbst das Krankenhaus in Chortitza musste seinen Dienst vorübergehend einstellen, weil die Ärzte und Pflegekräfte selbst mit dem Tod rangen. Die wenigen, die noch über genügend Kräfte verfügten, wandten sich hilfesuchend an die Verwandtschaft im Ausland, zogen die beschwerliche Flucht dem sicheren Tod in der Heimat vor. Doch die meisten überlebten die Strapazen einer solchen Reise nicht.
Die Bergens entschieden sich zu bleiben. Sie klammerten sich an die Hoffnung, dass es auch wieder aufwärts mit ihnen gehen würde, wenn die Machnowzi erst einmal abgezogen waren. Doch ihre Hoffnung wurde bitter enttäuscht. Alle Hilfegesuche an die Regierung verliefen im Sand und es sah nicht so aus, als ob sich jemand für das Elend der Bauern in der Ukraine interessierte. Ganz im Gegenteil. Anstatt den Bauern zu helfen, erhöhte man die Abgabequoten.
Familie Bergen beklagte den Tod von Heinrich und der zweitältesten Tochter Tina. Und so wie es um Maria stand, würde auch sie die nächsten Tage nicht überleben. Willi begriff, dass er und seine Geschwister in Kürze Waisen sein würden. Er schwor sich, den Abschied von seiner Mutter nicht zu verpassen. Er hielt immer noch ihre kalte Hand, sah ihr zu, wie sie mit geschlossenen Augen auf der nackten Matratze lag. Sie fror, aber außer einer dünnen Decke gab es nichts mehr, um sie zu wärmen. Selbst die Kopfkissen hatten sie ihnen weggenommen. Willi erinnerte sich daran, wie die Machnowzi sich einen Spaß daraus gemacht hatten, die Bettdecken mit ihren Messern aufzuschlitzen. Die Gänsefedern waren über den gesamten Hof geflogen.
„Ich habe die Munition für das Maschinengewehr versteckt.“
Willi wusste nicht, warum es so unvermittelt aus ihm herausplatzte. Vielleicht war es die Ahnung, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb, diese Last endlich mit seinen Eltern zu teilen. Er litt schon viel zu lange darunter und als er erst einmal anfing zu erzählen, sprudelte es nur so aus ihm heraus. Nur ihr fester werdender Händedruck verriet ihm, dass Maria aufmerksam zuhörte. Sie lag auf der Seite, beobachtete ihren Sohn durch halb geöffnete Augen, wie er sich seinen Kummer von der Seele redete. Sie spürte die Last der Verantwortung auf seinen Schultern und sie bedauerte, dass er in Zeiten aufwachsen musste, die solche Entscheidungen von einem Vierzehnjährigen forderten. Als er geendet hatte, versuchte sie sich aufzurichten. Sie wusste, dass ihr Sohn Zuspruch benötigte, auch weil sie ahnte, dass ihm noch viel größere Prüfungen bevorstanden.
„Willi, du musst mir jetzt ganz genau zuhören.“ Sie sah ihrem Sohn in die vor Tränen geröteten Augen und sammelte ihre Kräfte. „Nur Gott allein weiß, ob du recht gehandelt hast oder nicht. Ich weiß nur, dass Gewalt nichts Gutes hervorbringt. Selbst wenn sie nur dem Selbstschutz dient. Nun bin ich die Letzte, die darüber eine Predigt halten sollte, weil ich trotz meiner Überzeugung einen Menschen getötet habe. In Kürze werde ich Gott gegenübertreten und mich dafür verantworten müssen. Meine Hoffnung ist, dass er mir gnädig ist, meine verzweifelte Situation nicht ungeachtet lässt. Ich wusste mir einfach nicht anders zu helfen. Und trotzdem war es nicht richtig.
Würde ich heute wieder so handeln? Wahrscheinlich. Ist es deshalb richtig, einen Menschen zu töten? Nein. Willi, von ganzem Herzen wünsche ich dir die Kraft, an dem gewaltlosen Vorbild unseres Herrn Jesus Christus festzuhalten. Und wenn du dennoch versagst, dann bleibt dir nichts anderes übrig, als sich seinem Trost und seiner Gnade anzuvertrauen.“
In den nächsten Tagen unternahm Willi alles, um etwas Essbares aufzutreiben, doch es reichte einfach nicht aus. Die Nachbarn kämpften selbst ums Überleben, konnten auch beim besten Willen nichts entbehren. Und fing er einmal eine Forelle, so glich dies dem Tropfen auf dem heißen Stein. Trotz aller Mühen schwanden Marias Kräfte zusehends. Sie verließ ihr Bett nicht mehr und nur vier Tage später war sie tot.
Es blieb ihr nicht mehr vergönnt, das Wunder zu erleben, das den Osterwickern das Leben rettete. Hilfslieferungen aus den Vereinigten Staaten von Amerika. Getreide, das von den dortigen mennonitischen Gemeinden gesammelt und auf die lange Reise geschickt worden war. Wider Erwarten gelangten diese Lieferungen bis zu den Notleidenden und die Siedler nahmen es als Geschenk des Himmels. Sie hatten fast alles verloren, doch diese Hilfslieferungen sollten sie in eine bessere Zukunft tragen. So hofften sie.