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Getreidebrigaden Osterwick 1920

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Es überraschte Kalinin und seine Männer zu erfahren, dass ihr Einsatzgebiet noch immer nicht vollständig unter bolschewistischer Kontrolle stand. Hätten sie es gewusst, sie hätten sich anders vorbereitet. Nur durch gute Planung und optimale Ausrüstung konnte man eigene Verluste in Grenzen halten. Doch leider schien das nur den wenigsten Kommandeuren klar zu sein. Und so schickten sie ihre Soldaten jeden Tag aufs Neue in schier aussichtslose Gefechte.

Viel zu viele Menschen verloren ihr Leben, nur weil sie unter unfähigen Befehlshabern dienten. Kalinin ärgerte sich darüber, konnte es aber nicht ändern. Er konnte nur die Verantwortung für seine eigenen Männer übernehmen, sich möglichst unsichtbar zwischen den Frontlinien bewegen und sich, so gut es ging, absichern, dass ein auf der Karte als erobert ausgewiesenes Gebiet auch wirklich unter ihrer Kontrolle stand.

Als sie sich mit ihren drei Lastwagen Osterwick näherten, spürte Kalinin, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. Sie kamen zum ersten Mal in ein deutsches Dorf. Hoffentlich waren die Bewohner wirklich so friedlich, wie man allenthalben von ihnen hörte. Seine Anspannung wuchs, als sie in Reichweite der Maschinengewehre gelangten. Er konnte diesen Punkt mittlerweile auf den Meter genau bestimmen. Mehr als einmal waren sie bei ihrer Fahrt durch die ukrainischen Dörfer von einer Salve empfangen worden, hatten auf diese Weise bereits drei Männer verloren. Doch diesmal blieb es zu ihrer aller Erleichterung still.

Sie fuhren in das Dorf hinein, überquerten eine Holzbrücke, die über einen Bach führte, ohne dabei auf eine einzige Barrikade zu stoßen. Die ersten Höfe kamen in Sicht, große Wirtschaften, auf denen sowohl Viehzucht als auch Ackerbau betrieben wurden. Kalinin starrte mit großen Augen aus dem Fenster seines Lastwagens. Die Dächer der Häuser ragten fast zehn Meter in die Höhe und waren nicht wie sonst üblich mit Stroh gedeckt, sondern mit sauber gebrannten, in perfekten Reihen ausgelegten Ziegeln. So etwas hatte er bisher nur in größeren Städten gesehen.

Weiß getünchte Zäune trennten die Grundstücke voneinander ab, auf denen Akazien und allerlei Obstbäume wuchsen. Selbst die Bürgersteige verliefen exakt entlang der Straßen, ohne jedweden Versatz, über den die Passanten üblicherweise stolperten. Kalinin konnte den Gedanken nicht verdrängen, selbst gerne an solch einem Ort leben zu wollen. Er besann sich auf seinen Auftrag und gab den Männern ihre Befehle. Immer noch in höchster Alarmbereitschaft sprangen die Tschekisten von den Pritschen ihrer Lastwagen, verteilten sich im Dorf und trieben die Bewohner aus ihren Häusern. Sie befahlen ihnen, sich innerhalb einer Viertelstunde auf dem Kirchplatz einzufinden.


Willi spürte, dass etwas nicht stimmte, als seine Mutter ihn rief. Er wollte sich mit Maxim gerade auf den Weg zur Tränke machen, zu einem kleinen, aufgestauten Teich am Rande des Dorfes, wo es sich vortrefflich angeln ließ. Sie hatten sich dafür die Erlaubnis des Pächters eingeholt. Doch als Willi die Dringlichkeit in der Stimme seiner Mutter hörte, ließ er seine Angelrute fallen und rannte zurück ins Haus.

„Was ist passiert?“, fragte er. Alle waren damit beschäftigt, ihre Schuhe zu schnüren oder ihre Jacken zuzuknöpfen. Niemand schien seine Frage zu hören.

„Was ist passiert?“, fragte Willi etwas energischer.

„Wir sollen uns alle auf dem Kirchplatz versammeln“, murmelte sein Vater undeutlich.

Willi merkte, dass dies keine gewöhnliche Zusammenkunft war. „Aber wer … Warum sollen wir da hingehen? Sollen nur wir kommen?“

„Willi, jetzt frag nicht so viel“, raunzte ihn seine Mutter an. „Es sind die Bolschewiken. Sie haben befohlen, dass sich das gesamte Dorf in fünfzehn Minuten auf dem Kirchplatz einzufinden hat. Geh, sag Juri und Maxim Bescheid, dass das auch für sie gilt. Schnell.“


Es gab keine Nachzügler, keine Trödler. Auf die Minute pünktlich fanden sich alle Einwohner Osterwicks wie befohlen auf dem gepflasterten Platz vor ihrer Kirche – dem Bethaus – ein. Es herrschte gespannte Ruhe. Selbst die Kinder, die sonst herumzutollen pflegten, standen dicht gedrängt bei ihren Eltern, die Blicke ängstlich auf die bewaffneten Tschekisten gerichtet.

Anton Kalinin beobachte die Menge von der Pritsche seines Lastwagens aus.

„Ihr Bauern von Osterwick. Heute ist der Tag gekommen, an dem ihr euch an der glorreichen Revolution Russlands beteiligen könnt, ohne zu den Waffen zu greifen, so wie es der Zar immer wieder von euch verlangt hat.“ Er wusste, dass die mennonitischen Siedler sich seit jeher dem Kriegsdienst verweigert hatten, und versuchte daher, sie auf andere Weise für die Sache der Bolschewiken zu gewinnen. Ein Handzeichen aus der zweiten Reihe brachte ihn aus dem Konzept.

„Ja!“, wandte sich Kalinin etwas zu schroff an den Bauern, der daraufhin einen Schritt vortrat, seine Mütze vor sich in den Händen haltend.

„Herr Major, ich bitte um Verzeihung, aber die meisten von uns sind einfache deutsche Siedler und nur wenige von uns sind der russischen Sprache mächtig. Ukrainisch ja. Deutsch natürlich auch. Aber Russisch sprechen nicht viele von uns.“ Abram Dyck, der Pastor der Mennoniten, trat wieder zurück in die Menge, hielt den Kopf gesenkt, als erwartete er für seinen Einwand eine Bestrafung.

Kalinin schaute verdutzt in die Menge. Er hatte sich im Vorfeld ein wenig mit den Sitten und Gebräuchen der Deutschen vertraut gemacht, aber es wäre ihm nicht in den Sinn gekommen, hier in seinem Land auf derartige Sprachbarrieren zu stoßen. Er fasste sich schnell und beorderte den Mann als Dolmetscher zu sich auf die Pritsche.

„Niemand verlangt, dass ihr zu den Waffen greift“, versuchte er den Faden wieder aufzunehmen, „aber wir benötigen eure Hilfe bei der Getreideversorgung.“ Kalinin lächelte, während er auf das Ende der deutschen Übersetzung wartete.

„Sie wollen unser Getreide klauen, aber wenn wir geschickt vorgehen, dann kommen wir vielleicht wieder glimpflich davon.“

Willi unterdrückte ein Grinsen, als er Abram oben auf dem Wagen sah. Natürlich konnten sie den Major auch sehr gut ohne Übersetzung verstehen. Aber es war ein entscheidender Vorteil, wenn sich eine Gruppe beraten konnte, ohne vom Feind verstanden zu werden. Diese List hatte ihnen bereits im Umgang mit den Weißen geholfen.

Kalinin zog eine Mappe voller Papiere aus seiner Tasche. „Genosse Lenin ist darauf bedacht, die Lasten der Revolution auf alle Schultern gleichmäßig zu verteilen.“

„Sie werden uns jetzt gleich eine Quote anbieten, die wir möglichst weit nach unten verhandeln müssen. Mir scheint, als wäre dieser Major noch sehr unerfahren. Wenn wir uns geschickt anstellen, dann wird es uns vielleicht nicht so schlimm treffen“, instruierte der Pastor seine Herde. Kalinin wartete geduldig auf das Ende der für ihn unverständlichen „Übersetzung“.

„Osterwick bewirtschaftet eine Anbaufläche von rund 60 Hektar und erntet im Jahr etwa 50 Tonnen Getreide.“ Kalinin wusste, dass seine Daten reine Mutmaßungen waren, die auf den wenigen vorhandenen Zahlen russischer Höfe basierten. Er hatte sie im Vorfeld bereits nach oben korrigiert, um sich etwas mehr Spielraum zu verschaffen.

„Sie vermuten, dass wir 60 Hektar Fläche bewirtschaften und nur 50 Tonnen Getreide ernten. Ihr müsst jetzt alle ganz erschrocken und entrüstet tun, mir auf Deutsch zurufen, dass wir zusammen nur auf 30 Tonnen kommen.“

Der Pastor war zunächst versucht, die 50 Tonnen Getreide als Bezugsgröße ohne Einwand zu akzeptieren, waren sie doch eine geradezu lächerlich niedrige Annahme. Tatsächlich hatten es die deutschen Siedler in den letzten Jahrzehnten geschafft, die zu bewirtschaftende Fläche auf 100 Hektar auszuweiten und den Ertrag auf über 100 Tonnen zu steigern. Weit mehr, als der russische Major in seiner Naivität annahm.

Die Gegenwehr überraschte Kalinin nicht. Innerlich korrigierte er seinen Ansatz bereits auf 40 Tonnen Getreide. Bei einer Quote von 30 Prozent ergab das immer noch 12 Tonnen. Damit lag er innerhalb seiner Vorgaben.

„Ich höre, dass dieser Ansatz zu hoch ist und ihr schon genug unter den Bedrängnissen der Weißen gelitten habt. Genosse Lenin sieht eure Not. Deshalb bin ich ermächtigt, die Quote nach unten zu korrigieren, damit sie euch nicht überfordert. Es werden 12 Tonnen Getreide festgesetzt, die wir am kommenden Montag abholen.“

Ohne das Ende der Übersetzung abzuwarten, sprang Kalinin von der Pritsche, was seine Männer als Zeichen zum Aufbruch verstanden. Zufrieden mit dem Ergebnis verließen sie schon wenige Minuten später das Dorf auf dem gleichen Weg, auf dem sie gekommen waren.


Nach dem Abzug der Tschekisten machte sich in Osterwick allgemeine Erleichterung breit. Man dankte Abram Dyck für seinen Mut, und die Männer begaben sich direkt in die Kirche, um darüber zu beratschlagen, wie sie die Abgabe von zwölf Tonnen Getreide am besten aufbringen konnten. Sie kamen schnell zu einem allgemein akzeptierten Ergebnis, doch als Abram Dyck die Versammlung gerade beenden wollte, bat Erwin Wiebe noch einmal um das Wort. Erwin, ein junger Mann von dreiundzwanzig Jahren, führte bereits die Wirtschaft seines kränklichen Vaters. Trotz seines respektablen Auftretens war es eher ungewöhnlich, dass die Jugend ihre Stimme in diesem Brüderrat erhob. Die gerade im Aufbruch befindlichen Männer kehrten etwas widerwillig zu ihren Plätzen zurück.

„Liebe Brüder, ich bin Gott sehr dankbar für die Bewahrung, die wir heute wieder einmal erleben durften, und ich kann mich dem Dank für Abrams mutiges Auftreten nur aus vollstem Herzen anschließen. Dennoch möchte ich mir erlauben zu fragen, ob wir alles in unserer Macht Stehende tun, um solche Begegnungen auch künftig so glimpflich zu überstehen?“

Erwin blickte fragend in die Runde. Er sprach so selbstverständlich, als wäre er schon häufiger vor solch honorigen Kreisen aufgetreten.

„Warum zweifelst du daran, dass Gott uns nicht auch in Zukunft bewahrt?“, fragte Abram nach einer kurzen Pause. Das allgemeine Gemurmel ließ darauf schließen, dass der Pastor vielen aus der Seele sprach. „Was lässt dich annehmen, dass wir weiterhin Opfer solcher Repressalien werden? Der Krieg scheint entschieden, die Weißen sind auf dem Rückzug. In wenigen Wochen wird sich die ganze Aufregung gelegt haben und alles wird wieder seinen gewohnten Gang gehen.“

Laute Zustimmung erhob sich im Saal und Erwin wartete geduldig, bis sich die Aufregung legte.

„Bei allem Respekt, liebe Brüder. Das war erst der Anfang. Glaubt ihr wirklich, dass die Bolschewiken sich für uns Mennoniten interessieren? Nein, sie kommen schon bald wieder. Sie werden mehr fordern. So viel, bis uns gerade noch genug bleibt, um die Felder zu bestellen. Die Bolschewiken haben den Bauern den Krieg erklärt und sie werden ganz sicher auch vor uns nicht haltmachen.“

Schweigen. Stille. Keiner wusste auf diese forschen Behauptungen etwas zu entgegnen, auch wenn der Widerspruch förmlich in der Luft lag.

„Und vielleicht sind die Roten noch gar nicht mal die größte Bedrohung“, fuhr Erwin fort. „Unsere Brüder aus dem Donbass berichten, dass Nestor Machno ganze Dörfer niederbrennen lässt. Seine Bauernarmee ist schon fast so mächtig wie die der Roten. Wenn sie erst einmal den Dnjepr überqueren, dann gnade uns Gott.“

Erwin spürte, dass die Männer ihm zuhörten. Es schien, als spreche er eine Wahrheit aus, die bis dahin noch niemand wagte, so klar zu formulieren.

„Nestor Machno macht keinen Hehl daraus, dass er uns von ukrainischem Boden vertilgen will und ich bin nicht geneigt zu glauben, dass seine Reden nur plumpe Propaganda sind. Ich habe ihn in Jekaterinoslaw gehört und ich sage euch: Dieser Mann ist gefährlich. Was tun wir also, wenn diese Banditen nach Osterwick kommen? Verlangt Gott nicht von uns, dass wir endlich unseren Selbstschutz organisieren und uns verteidigen?“

Ein erneutes Raunen ging durch die Menge, mündete in eine hitzige Debatte, in der nun alle gleichzeitig und völlig ungeordnet durcheinanderredeten. Die Erwähnung des Selbstschutzes traf die Männer Osterwicks an einem empfindlichen Punkt, legte die Bruchstelle in ihrer Gemeinschaft offen, die bisher nur durch ihr Vertrauen in göttlichen Beistand überdeckt worden war.

Heinrich Bergen, ein entschiedener Gegner des Selbstschutzes, war froh, dass sich die meisten Osterwicker bisher ebenso vehement gegen diese Idee gestemmt hatten wie er selbst. Doch er spürte, dass Erwins Worte einen Dammbruch erzeugten und ihre scheinbare Einheit als bloße Illusion entlarvten. Die Druckwelle der russischen Revolution ließ sich nicht länger aufhalten. Sie teilte ihre Gemeinschaft nun in klare Befürworter und Gegner des bewaffneten Kampfes.

Bisher war der Selbstschutz bloß eine ferne Idee gewesen. Etwas, worüber die jungen Männer hinter vorgehaltener Hand redeten, ein Mythos, den sie viel zu oft verklärten. Sie wagten nicht, sich in aller Offenheit darüber zu unterhalten. Zu sehr widersprach der Gedanke an gewaltsame Verteidigung dem Vorbild ihres Herrn Jesus Christus, der sich nicht einmal wehrte, als man ihn unschuldig ans Kreuz nagelte.

Vielleicht war es ein Fehler, nicht offen mit den jungen Männern gesprochen, die Vor- und Nachteile abgewogen, ausgiebig in der Bibel geforscht und nach dem Ratschluss Gottes gesucht zu haben. Heinrich saß schweigend auf seiner Bank und beobachtete die Brüder, wie sie nun hitzig diskutierten. Es erinnerte ihn an die Männer, die sich andernorts dem Selbstschutz angeschlossen hatten. Er befürchtete, dass dieser kleine, von den deutschen Soldaten gesäte Same nun auch in ihren Herzen aufging und seine tödliche Frucht hervorbrachte. Dabei erschien es doch so einleuchtend: Greift zu den Waffen und verteidigt euer Leben. Verteidigt eure Kinder und Frauen und schießt die Angreifer nieder, sodass sie nie wieder gegen eure Dörfer reiten. Heinrich wollte dieser Lüge keinen Glauben schenken. Schweren Herzens verließ er die Versammlung.

Roter Herbst in Chortitza

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