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Onkel Josha Sewastopol 1921

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Von einer Anhöhe aus konnte er das flache Küstenland weit überblicken – bis hin zum Horizont, wo das Meer im Licht der Abendsonne glitzerte. Schon seit dem Morgen begleitete ihn das Kreischen der Möwen und die Luft schmeckte deutlich salziger als zuvor. Alles Anzeichen, dass es nicht mehr weit sein konnte. Nun lag sie vor ihm. Die Krim. Viel schöner, als er es sich anhand der Erzählungen seiner Mutter ausgemalt hatte. Er bedauerte, dass sie nicht schon viel früher hierher zu Onkel Josha gezogen waren. Noch bevor das ganze Unglück über sie hereingebrochen war.

Josha Beljajew, der Bruder seiner Mutter, lebte in Sewastopol. Er hatte selbst keine Familie und kam deshalb einmal im Jahr zu Besuch, worauf sich Maxim und seine Schwestern immer ganz besonders freuten. Er erinnerte sich gern an die Zeiten, in denen sie mit ihrem Onkel stundenlang herumtollten.

Für einen kurzen Moment vergaß Maxim sogar die Schwermut, die ihn seit seiner Abreise aus Osterwick begleitete. Seine Schwestern fehlten ihm, ebenso wie sein Vater und seine Mutter. Manchmal vermisste er sogar die Bergens, obwohl seine Erinnerungen von dem Gedanken getrübt wurden, dass sein Vater vielleicht noch leben könnte, hätte Willi in seiner Sturheit nicht die Munition versteckt. Wenn Heinrich die Verantwortung für die Tat seiner Frau übernommen hätte … Die Machnowzi hätten bestimmt nicht wahllos in die Menge geschossen. In seine Traurigkeit mischte sich Wut. Wut auf die Tschekisten, die seine Schwestern und seine Mutter mitgenommen hatten, Wut auf die Machnowzi, die seinen Vater getötet hatten, und Wut auf die Deutschen, die zu feige waren, für ihre Taten Verantwortung zu übernehmen. Er ahnte, dass diese Wut ihn den Rest seines Lebens begleiten würde.

Maxim verließ die Schienenstränge kurz vor Cherson. Sein verletzter Begleiter bedankte sich kurz, dann trennten sich ihre Wege. Der Mann würde in Cherson ärztliche Hilfe finden, doch Maxim verspürte keinen Drang, sich ihm anzuschließen. Die Warnungen, nicht weiter in Richtung der Krim zu reiten, schlug er in den Wind. Vielleicht zu Unrecht, dachte er nun angesichts der Menschen, die sich zu Hunderten, vielleicht sogar zu Tausenden in Richtung der engen Passage drängten, die das Festland mit der Halbinsel verband. Manche ließen ihre voll bepackten Wagen von einem mageren Ochsen ziehen, doch die meisten trugen ihr Hab und Gut auf den Schultern oder zogen die hölzernen Karren von Hand. Sie flohen aus Angst vor der heranrückenden Roten Armee, hofften, irgendwo auf der Halbinsel Schutz zu finden.

Auf der Krim befand sich das Hauptquartier von General Wrangel. Hierhin hatte sich der verbliebene Rest der Weißen Armee zurückgezogen, um sich auf die letzte Schlacht vorzubereiten. Die Menschen hofften, dass es General Wrangel doch noch gelingen würde, das Vorrücken der Roten Armee aufzuhalten. Nicht dass sie unbedingt mit ihm sympathisierten, doch in seinem Schutz glaubten sie wenigstens den heutigen Tag noch zu überleben. Maxim überlegte kurz, ob er sich wirklich mitten hinein in diesen Schmelztiegel begeben sollte, doch in Wirklichkeit blieb ihm längst schon keine andere Wahl mehr. Der Ring zog sich immer dichter zusammen. Sollte er hier in freiem Gelände der Roten Armee in die Hände fallen, wäre sein Leben keinen Pfifferling mehr wert.

Er klappte die Lederbörse zusammen, die er aus dem Zug mitgenommen und seitdem etliche Male inspiziert hatte. Das Geld konnte er gut gebrauchen, doch noch wertvoller erschienen ihm die Papiere, die den Toten als Roman Alexej Andrejew auswiesen. Ein Reporter aus Kiew auf dem Weg zu einer Pressekonferenz mit General Wrangel, die er aber nie erreichen sollte. Roman Andrejew lag tot in einem Zug, mitten in der südukrainischen Steppe, und Maxim ahnte, dass ihm die Papiere des Toten noch wertvolle Dienste leisten konnten.

Er erhob sich, knöpfte den Kragen seines Mantels zu und nahm die Zügel des Pferdes in die Hand. Er ging den Hang hinab, um sich in den Strom der Menschen einzureihen, der immer dichter wurde, je näher sie der sumpfigen Passage kamen.


Fünf Tage später erreichte Maxim Sewastopol. Er konnte sich mittels seiner neuen Papiere als Kiewer Journalist ausweisen und mühelos die Verteidigungslinien der Weißen Armee passieren. Niemand zog seine gefälschte Identität in Zweifel, was ihn verwunderte, hatte er doch mit wesentlich größeren Schwierigkeiten gerechnet. Sein Pferd wurde konfisziert, aber ansonsten hinderte ihn niemand ernsthaft an der Weiterreise. Er bezweifelte, dass es diesen Verteidigern gelingen würde, den Ansturm der Roten aufzuhalten. Das Gelände kam ihnen zwar entgegen, doch irgendwann müssten sie sich der schieren Übermacht geschlagen geben. Nur ein Narr hätte jetzt noch auf einen Sieg der Weißen gesetzt.

Maxim machte sich auf die Suche nach der örtlichen Polizeidienststelle, um dort, wie er hoffte, Auskünfte über Onkel Josha zu erhalten. Er ging durch die engen Gassen von Sewastopol, beeindruckt von der Schönheit dieser Küstenstadt am Schwarzen Meer, auch wenn der Krieg bereits allerorts seine hässliche Fratze zeigte. Überall traf er auf Bettler, Tagelöhner und Prostituierte, die sich gegenseitig mit ihren Reizen zu überbieten suchten. Kinder streiften auf der Suche nach etwas Essbarem durch die Gassen und schreckten auch vor Diebstahl nicht zurück, wenn sich das Beutestück gut in Naturalien eintauschen ließ. Maxim griff mehrmals an die Stelle seines Mantels, wo er seine Papiere und das restliche Geld versteckte, um sich zu vergewissern, dass sich noch alles an Ort und Stelle befand. Er ging vorbei an imposanten Theatern, Universitätseinrichtungen, einer mit Säulen dekorierten Bibliothek und vielen kleinen Geschäften, die aber aus Angst vor Plünderern mit Holzbrettern verbarrikadiert waren.

Am Hafen angekommen, musste Maxim nicht lange suchen, bis er das gelbe, mit grauen Schlieren überzogene Backsteingebäude fand, über dessen Eingangstür der Schriftzug Milizija prangte.

„Ich bin auf der Suche nach Josha Beljajew“, wandte sich Maxim an den diensthabenden Beamten. „Er muss hier irgendwo in der Hafenmeisterei arbeiten.“

Der Beamte blickte ihn unfreundlich an. „Und warum suchst du dann hier und nicht in der Hafenmeisterei?“, grunzte er kaum verständlich in seinen verlotterten Bart.

Maxim kam sich dumm vor. „Ich bin nicht von hier. Ich weiß nicht, wo die Hafenmeisterei ist.“

Der Milizionär versuchte gar nicht erst zu verbergen, dass ihm Maxims Anwesenheit auf die Nerven ging. Er hatte offensichtlich keine Lust, den Fremdenführer zu spielen. „Du wirst es vielleicht nicht glauben, aber … die Hafenmeisterei ist am Hafen.“

„Aber …“, Maxim war verwirrt. „Aber ich bin doch am Hafen.“

Der Beamte nickte Maxim mit ausgestrecktem Zeigefinger zu, eine Geste, die ihm bedeuten sollte, was für ein schlaues Kerlchen er war. „Du hast es erfasst.“

Hatte der Mann vielleicht zu viel getrunken? Maxim musste einsehen, dass hier keine Hilfe zu erwarten war. Enttäuscht trat er wieder hinaus in die kühle Abendluft. Er wusste nicht, wo er auf dem riesigen Hafengelände mit der Suche beginnen sollte. Er versuchte sich durchzufragen, was sich aber als ebenso sinnlos herausstellte wie der Besuch auf der Polizeidienststelle. Offensichtlich war jeder in dieser Stadt nur mit sich selbst beschäftigt, sodass er sich schließlich damit abfand, jedes einzelne Dock abzusuchen. Doch dann kam ihm eine viel bessere Idee. Er ging noch einmal zurück in das gelbe Gebäude.

„Ich wüsste gerne, wo ich die Hafenmeisterei finden kann.“ Maxim schwang seine flache Hand auf den Tresen, ließ die darin gehaltene Münze mit einem lauten Knall auf das schwere Holz schlagen. Bei diesem Geräusch hellte sich die Miene des Milizionärs schlagartig auf.

Maxim wiederholte seine Frage: „Wo finde ich die Hafenmeisterei?“

„Vielleicht hilft es mir, mich zu erinnern, wenn ich weiß, was du da unter deiner Hand versteckst.“ Der Beamte kratzte sich nachdenklich am Kopf.

Maxim hob kurz die Hand, ließ ihn einen Blick auf das Geldstück werfen.

„Wenn du durch diese Tür gehst“, der Mann deutete auf die Eingangstür, „dann hältst du dich rechts, gehst zehn Schritte und klopfst an die Tür des Nachbarhauses. Dort findest du die Hafenmeisterei.“

Maxim schaute ihn ungläubig an, musste aber erkennen, dass es der Mann trotz seines penetranten Grinsens ernst meinte. Genervt schob er ihm die Münze hinüber.

Als er die Hafenmeisterei betrat, begann sein Herz schneller zu schlagen. Endlich war er am Ziel seiner Reise angelangt. Gleichzeitig merkte er jedoch, wie erschöpft er war. Am liebsten hätte er sich in eine Ecke gelegt und zwei Tage durchgeschlafen. Die Anspannung, die ihn seit seiner Abreise aus Osterwick auf den Beinen gehalten hatte, fiel nun ab.

Man bat ihn, auf dem Flur zu warten, da Josha Beljajew nicht vor halb neun Feierabend machte. Er hatte noch draußen bei den Schiffen zu tun. Verwaltungskram, den Maxim nicht wirklich verstand. Froh und dankbar, dass sein Onkel immer noch hier arbeitete, nahm Maxim auf einem unbequemen Holzstuhl Platz und schlief binnen weniger Minuten ein. Er schreckte erst wieder auf, als Onkel Josha ihn heftig an der Schulter rüttelte.

Roter Herbst in Chortitza

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