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Konfiszierung Osterwick 1920

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Während seines Studiums hatte ihn niemand auf eine derartige Herausforderung vorbereitet und Abram Dyck zweifelte, ob er seiner Herde noch Rat und Führung geben konnte. Er bemühte sich nach Kräften, weiterhin Zuversicht und Glaubensstärke zu vermitteln.

Seit Wochen predigte er über das Gebot der Gewaltlosigkeit, doch nach Ende des Gottesdienstes standen die jungen Männer wieder beisammen, um über den Selbstschutz zu diskutierten. Abram konnte es ihnen nicht verdenken. Die Angst vor weiteren Schikanen durch die Bolschewiken wuchs täglich. Und auch wenn die letzte Begegnung mit ihnen glimpflich verlief, so klangen ihnen Erwins warnende Worte immer noch in den Ohren. Abram konnte mit seiner heutigen Predigt noch einmal eine Besänftigung der Gemüter bewirken, trotzdem sorgte er sich um den morgigen Tag. Es blieb zu hoffen, dass die Getreideablieferung nicht doch noch zu Ausschreitungen führen würde.

Lange nachdem Maxim und Willi die Kirche verlassen hatten, saß Abram noch immer auf der Bank, unschlüssig, wie er das Gehörte einordnen sollte. Sie hatten ihn nach dem Gottesdienst um eine kurze Unterredung gebeten und ihn über den Fund des Maschinengewehrs in Kenntnis gesetzt. Durfte er diesen Fund als göttliche Führung einordnen – oder war er eine teuflische Versuchung, die sie alle ins Verderben stürzen konnte? Mit dem Gewehr könnten sie sich die Banden kurzfristig vom Leib halten. Doch was dann? Die Übermacht war einfach zu groß und sobald die Munition zur Neige ging, würden sie nur noch unbarmherziger über sie herfallen.

Abram drehte sich nicht um, als die Kirchentür aufging. Er betete, versuchte seine Sorgen an Gott abzugeben und blickte erst auf, als er die Hand des russischen Majors auf seiner Schulter spürte.

„Aber, aber … Sie wollten doch erst morgen kommen und …“

Abram brachte den Satz nicht zu Ende. Mit voller Wucht streckte ihn Kalinins Faust zu Boden. Er blieb benommen liegen, schmeckte Blut in seinem Mund und wollte gerade etwas entgegnen, da traf ihn schon Kalinins Stiefel in die Seite. Abram spürte, wie eine Rippe brach. Der Schmerz vernebelte ihm die Sinne und Panik stieg in ihm auf. Er bekam keine Luft mehr. Kalinin kümmerte das nicht. Er zog den keuchenden Pastor zurück auf die Beine. Dann trat er einen Schritt zurück und deutete mit ausgestrecktem Finger auf sein blutendes Opfer.

„Du …“, Kalinin bebte vor Zorn, „… du wolltest mir weismachen, ihr versteht kein Russisch. Du wolltest mir weismachen, ihr würdet nur 50 Tonnen ernten. Du hast mich belogen.“

Kalinin rollte eine Peitsche aus und schlug sie dem Pastor um die Beine. Mit einem kräftigen Ruck zog er ihm die Füße weg, sodass Abram erneut auf dem harten Holzfußboden aufschlug. Dann schleifte ihn Kalinin aus der Kirche raus.

„Wer ist der reichste Kulak in eurem beschissenen kleinen Dorf?“ Kalinins Gesichtsausdruck war zu entnehmen, dass er diese Frage kein zweites Mal stellen würde. Daher bemühte sich Abram um eine schnelle Antwort: „Eduard Klaassen.“

„Gut. Dann führst du mich jetzt zu diesem Klaassen, damit wir unsere Unterhaltung bei ihm fortsetzen können.“


Eduard Klaassen, ein großer, übergewichtiger Mann, konnte normalerweise nichts so leicht aus der Fassung bringen. Doch die Entschlossenheit, mit der die Tschekisten in sein Haus eindrangen, erstickte jeglichen Gedanken an Widerstand im Keim.

„Herr Klaassen, ich bin hier, um Sie darüber in Kenntnis zu setzen, dass meine Männer Ihren gesamten Getreidevorrat konfiszieren“, sagte Kalinin.

Eduard Klaassen warf einen Blick aus dem Fenster, sah die Kolonne von Lastkraftwagen und Kutschen auf seinem Hof.

„Aber, ich verstehe nicht. Ich dachte, wir hätten eine Abmachung“, wandte er sich fragend an seinen Pastor.

„Die Abmachung ist hinfällig“, ging Kalinin dazwischen. „Ihr werter Herr Pastor kann Ihnen später gerne erklären, warum.“

„Aber … Wenn Sie alle Wagen da draußen vollladen, dann ist meine Scheune leer. Die Abgabe ist doch viel zu hoch!“ Panik trat in seine Augen, als er sich erhob und drohend auf Kalinin zuging.

Kalinin zog seine Waffe und richtete sie auf Eduard Klaassens Frau, die auf der Couch im angrenzenden Wohnzimmer saß. „Keinen Schritt weiter, oder Ihre Frau ist tot.“

Katarina Klaassen zuckte erschrocken zusammen. Sie stieß einen kurzen, ängstlichen Schrei aus und versuchte, den Blick von Kalinins ausgestrecktem Revolver abzuwenden. Sie zitterte am ganzen Körper. Auch ihr Mann kehrte nun vollständig eingeschüchtert zurück zu seinem Platz.

„Das könnt ihr doch nicht machen. Wie sollen wir den Winter überstehen, geschweige denn das Saatgut für das nächste Jahr ausbringen.“ Die schleichende Erkenntnis, dass die Tschekisten ihn in den Ruin trieben, ließ den Bauern verzweifeln. Er wandte sich hilfesuchend an Abram Dyck: „Das muss ich doch nicht allein ausbaden, oder? Abram, sag mir bitte, dass wir das gemeinsam tragen.“

Der Pastor hob nur die Hand, bedeutete Eduard Klaassen, Ruhe zu bewahren. Natürlich würden sie diese Abgabe gemeinsam schultern, doch jetzt ging es erst einmal darum, hier mit heiler Haut wieder herauszukommen.

Später am Abend, als die Scheune leer und alle Wagen beladen waren, machte sich der lange Treck auf den Weg nach Chortitza. Dort würde das Getreide umgeladen und mit dem Zug weiter nach Moskau transportiert werden. Die Klaassens hatten sich die gesamte Zeit nicht vom Fleck gerührt, ausdruckslos dem Abtransport ihrer gesamten Ernte zugeschaut. Sie hofften, dass die Solidarität der Osterwicker sie vor dem sicheren Ruin bewahrte.

„Im Namen der Partei bedanke ich mich für Ihre freundliche Unterstützung und hoffe, dass wir uns bald wiedersehen.“ Kalinin lüpfte zum Abschied mit übertriebener Höflichkeit seine blaue Schirmmütze.

„Ach ja, fast hätte ich es vergessen.“ Er kehrte noch einmal zurück in die große Stube. „Ich soll euch von Nestor Machno ausrichten, dass der Teufel bald den Dnjepr überquert und euch besuchen kommt.“ Damit verschwanden die Tschekisten endgültig in der Nacht.

Roter Herbst in Chortitza

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