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Arbeit als erniedrigende Notwendigkeit

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Eine der am meisten gelesenen Philosophinnen des 20. Jahrhunderts zum Thema „Arbeit“ ist Ayn Rand. In ihren beiden bekanntesten Romanen schafft sie Protagonisten, die sich gegen die Trends des Sozialismus und Kollektivismus stellen. Howard Roark, der Architekt in Der ewige Quell, rührt den Leser an mit seiner Leidenschaft für das Schaffen von Gebäuden, die die Ressourcen der Natur kreativ nutzen, geschmackvoll in ihre Umgebung passen und den Bedürfnissen ihrer Bewohner bestens dienen. Rand stellt ihn als sehr menschlich dar, ganz anders als andere Architekten, die ihre Arbeit um des Geldes oder Prestiges willen tun. In Der Streik haben wir einen ganz anderen Helden: John Galt, der einen Streik der produktivsten Menschen der Gesellschaft anführt, die sich nicht länger ausbeuten lassen wollen. Er möchte zeigen, dass eine Welt, in der die Menschen nicht mehr kreativ schaffen dürfen, untergeht. Für Rand ist kreative, produktive Arbeit unerlässlich für die Würde des Menschen, aber sie verliert meist viel von dieser Würde durch Bürokratie und die Sachzwänge des Alltags. Wie eine der Figuren in Der Streik sagt: „Ob es um eine Sinfonie oder um ein Kohlebergwerk geht, alle Arbeit ist ein schöpferischer Akt und kommt aus derselben Quelle: … der Fähigkeit, zu sehen, zu verbinden und zu schaffen, was bisher nicht gesehen, verbunden oder erschaffen war.“36

Rand hat etwas begriffen von einem der zentralen Aspekte der Würde des Menschen, wie wir sie von unserer Lektüre von 1. Mose 1 her verstehen. Leider war sie auch eine der lautesten Kritikerinnen des christlichen Glaubens und lehnte den Gott der Bibel, der den Menschen nach seinem eigenen Bilde erschaffen hat, ab. Arbeit ist nach wie vor ein Hauptaspekt der Menschenwürde, und selbst die säkularsten modernen Denker spüren dies. Das war nicht immer so.

Die alten Griechen glaubten auch, dass die Götter die Menschen zum Arbeiten erschaffen hatten. Allerdings sahen sie dies nicht als Segen. Arbeit war für sie etwas Erniedrigendes. „Für die Griechen war Arbeit ein Fluch und sonst nichts“ – so der italienische Philosoph Adriano Tilgher.37 Für Aristoteles war die „Muße“ (also die Möglichkeit, zu leben, ohne arbeiten zu müssen) eine Hauptbedingung für ein wirklich lebenswertes Leben.38 Was brachte die Griechen zu dieser Sicht von der Arbeit?

In seinem Dialog Phaidon argumentiert Platon, dass unser Leib ein Klotz am Bein unserer Seele und ihrer Suche nach der Wahrheit ist. Wer in diesem irdischen Leben innere Einsicht und Reinheit erlangen will, muss seinen Körper so weit wie möglich ignorieren. Der Tod ist daher eine Art Befreiung, ja ein Freund der Seele.39 „Die griechischen Philosophen stellten sich die Götter im Wesentlichen als vollkommene Geistwesen vor, die sich selbst genügten und sich nicht mit dem Getriebe dieser Welt und der Menschen abgaben. Die Menschen hatten die Aufgabe, durch den Rückzug aus dem aktiven Leben in die Kontemplation wie die Götter zu werden.“40 Die Kontemplation half einem, zu erkennen, dass die materielle Welt vorübergehend, ja letztlich eine Illusion ist und dass der Mensch, der sich zu sehr in sie verliert oder emotional an sie hängt, dadurch in eine geradezu animalische Existenz der Angst, der Wut und der Sorge hinabgezogen wird. Der Weg zu wahrem Frieden und Glück bestand darin, innere Unabhängigkeit von den Dingen dieser Welt zu gewinnen. Der Philosoph Epiktet lehrte seine Schüler: „Das gute Leben ist ein Leben ohne Hoffnungen und Ängste, das Leben, das mit dem, was ist, versöhnt ist, die Existenz, die die Welt so akzeptiert, wie sie ist.“41 Am meisten Mensch war man, wenn man sich nicht mit der physischen Welt abgab.

Damit war die Arbeit eine Barriere auf dem Weg zu der höchsten Form des Lebens, machte sie es einem doch unmöglich, sich über die irdische Öde in das Reich der Philosophie, die Sphäre der Götter, zu erheben. Die Griechen begriffen sehr wohl, dass das Leben in dieser Welt Arbeit erfordert, aber sie glaubten, dass nicht alle Arbeit gleich war. Arbeit, die mit dem Geist und nicht dem Körper geschah, war edler, weniger tierisch. Die höchste Form der Arbeit war die, die am meisten den Verstand und am wenigsten die Hände benutzte. „Die ganze Struktur der griechischen Gesellschaft leistete einer solchen Sicht Vorschub, denn sie beruhte auf der Prämisse, dass Sklaven und [Handwerker] die Arbeit taten, damit die Elite Zeit und Muße hatte, sich der Entwicklung des Geistes in der Kunst, Philosophie und Politik zu widmen.“42 In seiner Politik I,5 macht Aristoteles seine berühmte Bemerkung, dass manche Menschen als Sklaven geboren sind, d. h., manche Menschen sind weniger zu höherem, rationalem Denken befähigt und sollen daher die niedere Arbeit tun, um den höher stehenden Geistern die nötige Muße für ein der Ehre und der Kultur gewidmetes Leben zu ermöglichen.

Wir empören uns heute über solch eine Aussage, aber auch wenn wir die Sklaverei im wörtlichen Sinne abgeschafft haben, ist die Einstellung hinter Aristoteles’ Aussage weiter lebendig. Der christliche Philosoph Lee Hardy und viele andere argumentieren, dass diese griechische Einstellung zur Arbeit im Denken und in der Praxis der christlichen Kirche durch die Jahrhunderte hindurch weitgehend bewahrt worden sei und noch heute unsere Kultur stark beeinflusse.43 So ist ein ganzes Set von Vorstellungen auf uns gekommen, das immer noch allgegenwärtig ist.

Eine davon ist die Sicht der Arbeit als notwendiges Übel. In diesem Denken ist die einzige „gute“ Arbeit die, die uns so viel Geld einbringt, dass wir unsere Familien ernähren und Putzfrauen und andere bezahlen können, damit sie uns die niederen Tätigkeiten abnehmen. Und zweitens glauben wir, dass Tätigkeiten, die „einfach“ sind oder nicht viel Geld einbringen, an unserer Würde kratzen. Eine Folge dieser Einstellung ist, dass viele Menschen Berufe ergreifen, für die sie überhaupt nicht geeignet sind, die aber ein höheres Gehalt oder mehr Prestige versprechen. Die westlichen Gesellschaften sind zunehmend gespalten in die Klassen der Gebildeten, der Kopfarbeiter, und den weniger lukrativen Dienstleistungssektor, und die meisten von uns akzeptieren und pflegen die mit diesen Kategorien zusammenhängenden Werturteile. Eine andere Folge ist, dass viele Menschen lieber arbeitslos sind, als dass sie Arbeiten „unter ihrem Niveau“ verrichten – und die meisten körperlichen Arbeiten und Dienstleistungstätigkeiten fallen in diese Kategorie. Viele Menschen, die es in die gebildeten Klassen geschafft haben, sehen sehr verächtlich auf die Hausmeister, Reinigungskräfte, Köche, Gärtner und andere „Dienstleistende“ herab.

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