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Glaube und Arbeit – ein Fluss
mit vielen Strömungen
ОглавлениеWir sind nicht allein bei diesem Versuch. Der Beziehung des christlichen Glaubens zur Arbeit wird heute so viel Aufmerksamkeit gewidmet wie vielleicht seit der Reformation nicht mehr. Die Zahl der Bücher, Forschungsprojekte, akademischen Veranstaltungen und Internetdiskussionen zu diesem Thema ist in den letzten beiden Jahrzehnten lawinenartig gewachsen. Doch Christen, die konkrete Wegweisung für ihren Berufsalltag suchen, finden oft wenig Hilfen in dieser wachsenden Bewegung. Einige, wie Katherine Alsdorf (vgl. das Vorwort), stellen enttäuscht fest, wie oberflächlich die Ratschläge und Beispiele sind. Andere sind verwirrt von der Vielfalt (manche würden sagen: dem Wirrwarr) der Stimmen, die da ihre Ratschläge für den arbeitenden Christen geben.
Man kann sich diese aktuelle „Faith-at-Work-Bewegung“ als Fluss vorstellen, der aus ganz unterschiedlichen Nebenflüssen und Quellen gespeist wird. Am aktivsten und zahlenmäßig stärksten sind hier vielleicht die Gruppierungen mit einem evangelikalen Verständnis der Bibel und des christlichen Glaubens, aber es gibt auch sehr bedeutende Beiträge von anderen Traditionen und Richtungen. Von der ökumenischen Bewegung stammt die Idee, dass Christen ihre Arbeit zur Förderung der sozialen Gerechtigkeit in der Welt einsetzen sollten. Der berufstätige Christ – so konnten wir hier lernen –, der seine Arbeit gut tun will, braucht eine spezifisch christliche Ethik.4 Die Gruppenbewegung des 20. Jahrhunderts betonte, dass die Christen einander als Lehrer und Helfer brauchen, um in den Mühen des Arbeitsalltags zu bestehen.5 Hier lernten wir, dass gute Arbeit innere Erneuerung und ein verwandeltes Herz benötigt. Die Erweckungstradition im Evangelikalismus sieht den Arbeitsplatz im Wesentlichen als Ort, wo ich Jesus Christus bezeuge,6 und als Christ berufstätig zu sein bedeutet ja in der Tat eine gewisse „öffentliche“ Identifizierung mit Jesus, die geeignet ist, Kollegen neugierig auf ihn zu machen.
Viele haben sich auch nach älteren Quellen für die Integration von Glaube und Arbeit umgesehen. Für die großen Reformatoren, allen voran Martin Luther und Johannes Calvin, war alle Arbeit (auch sogenannte „weltliche“) genauso eine Berufung Gottes wie der Dienst des Mönchs oder Priesters.7 Zu den Grundüberzeugungen der lutherischen Theologie gehört die Betonung der Würde aller Arbeit und die Einsicht, dass Gott die Menschheit durch unsere menschliche Arbeit versorgt, speist, kleidet, behütet und trägt. Wenn wir arbeiten, sind wir, wie die Lutheraner dies gerne ausdrücken, die „Finger Gottes“, die Werkzeuge seiner Fürsorge und Liebe zu den Menschen. Dieses Verständnis der Arbeit erhebt ihren Sinn vom bloßen Lebensunterhalt zur Nächstenliebe und macht uns gleichzeitig frei von der drückenden Last, durch Arbeit unseren Selbstwert beweisen zu müssen. Die Vertreter der calvinistischen oder reformierten Tradition, wie z. B. Abraham Kuyper, legten Wert auf noch einen weiteren Aspekt der Arbeit als Berufung Gottes: Arbeiten heißt nicht nur, die Schöpfung pflegen, sondern auch, sie lenken und strukturieren. In dieser reformierten Sicht besteht der Sinn der Arbeit im Schaffen einer Kultur, die Gott ehrt und in der die Menschen gedeihen können. Jawohl, wir sollen unseren Nächsten lieben, aber der christliche Glaube macht sehr spezifische Aussagen über das Wesen des Menschen und was seinem Wohl dient, und wir müssen dafür sorgen, dass unsere Arbeit in Übereinstimmung damit geschieht. Der treue christliche Arbeiter steht auf dem Boden einer christlichen „Weltsicht“.8
All diese unterschiedlichen Traditionen geben unterschiedliche Antworten auf die Frage, wie wir es anstellen können, unsere „Berufung“ wiederzuentdecken. Diese verschiedenen Strömungen können einen Christen leicht verwirren, denn nicht immer harmonieren sie miteinander. Die lutherische Theologie neigt zur Ablehnung der reformierten Idee der „Weltsicht“ und argumentiert, dass Christen ihre Arbeit nicht viel anders tun sollten als Nichtchristen. Ein Großteil des kirchlichen Mainstreams, der meist das klassische Christentum nicht als einzigen Erlösungsweg betrachtet, empfindet daher Evangelisation als nicht so bedeutsam, wie Evangelikale das tun. Viele finden die Autoren und Organisationen, die die Idee der „Weltsicht“ betonen, zu „theoretisch“, die innere Herzensänderung scheint ihnen hier zu kurz zu kommen. Doch sie selber können sich nicht einigen, was Herzenswandel und geistliches Wachsen konkret sein sollen. Kurz: Wenn Sie ein Christ sind, der seinen Glauben im Beruf leben möchte, fragen Sie sich womöglich, wie Sie die folgenden Gedanken unter einen Hut bringen können:
•Gott durch meine Arbeit dienen heißt, etwas für die soziale Gerechtigkeit in der Welt zu tun.
•Gott durch meine Arbeit dienen heißt, stets ehrlich zu sein und meine Kollegen zu missionieren.
•Gott durch meine Arbeit dienen heißt, meine Arbeit gut, ja exzellent zu machen.
•Gott durch meine Arbeit dienen heißt, etwas Schönes zu schaffen.
•Gott durch meine Arbeit dienen heißt, mir die Verherrlichung Gottes zum Ziel zu setzen und die Kultur in diesem Sinne zu beeinflussen.
•Gott durch meine Arbeit dienen heißt, sie durch alle Höhen und Tiefen mit einem dankbaren, freudigen, vom Evangelium verwandelten Herzen zu tun.
•Gott durch meine Arbeit dienen heißt, das zu tun, was mir die größte Freude und Leidenschaft gibt.
•Gott durch meine Arbeit dienen heißt, so viel Geld zu verdienen, wie ich kann, damit ich damit entsprechend freigebig sein kann.
Ergänzen sich diese Gedanken oder widersprechen sie sich, und in welchem Maße tun sie das? Eine schwierige Frage, denn jede dieser Sichtweisen hat von der Bibel her wenigstens etwas für sich. Und die Schwierigkeit liegt nicht nur in der Fülle der theologischen Betonungen und kulturellen Faktoren, um die es hier geht, sondern auch darin, dass sie sich unterschiedlich auswirken können, je nach der Art der Arbeit. Christliche Ethik, Motive, Zeugnis und Weltsicht prägen unser Arbeiten auf sehr verschiedene Weise, je nachdem, um was für eine Arbeit es sich handelt.
Stellen wir uns vor, eine Christin ist bildende Künstlerin. Sie setzt sich konsequent für Gerechtigkeit ein, ist ehrlich und gewissenhaft, hat Freunde, die ihr in den Höhen und Tiefen des Lebens beistehen, macht aus ihrem Glauben keinen Hehl und versteht ihre Kunst als Dienst an Gott und ihren Mitmenschen und nicht als Mittel, berühmt zu werden. Ist damit die Integration von Arbeit und Glaube schon komplett? Oder muss das, was sie in ihren Werken an Realität abbildet und die Art, wie sie es abbildet, nicht von der christlichen Lehre über das Wesen der Realität geprägt sein? Werden die Geschichten, die sie mit ihrer Kunst erzählt, nicht davon geprägt sein, was sie über die Sünde und die Erlösung und die Zukunftshoffnung glaubt? Die Antwort ist offensichtlich „Ja“, und wir entdecken: Unser Wille, unsere Gefühle, unsere Seele und unser Verstand, sie alle sind beteiligt, wenn wir unserem Glauben und dem, was er für uns bedeutet, auf der Leinwand unserer täglichen Arbeit Gestalt geben.
Aber was, wenn Sie ein christlicher Pianist sind oder ein Schuster? Was bedeutet eine christliche Weltsicht für die Art, wie Sie Schuhe besohlen oder die Mondscheinsonate spielen? Hier ist die Antwort weniger deutlich.
Wer rettet uns aus diesem Labyrinth? Die meisten Menschen, die angefangen haben, Bücher über die Integration von Arbeit und Glaube zu lesen oder in entsprechende Gruppen zu gehen, sind entweder mit nur einer der theologischen Strömungen in Berührung gekommen oder haben bereits mehrere mitbekommen und sind entsprechend verunsichert. Kirchen und Organisationen, die das Thema „Arbeit und Glaube“ betonen, neigen gerne dazu, einen oder zwei dieser verschiedenen Denkansätze auf Kosten der anderen in den Vordergrund zu stellen. Aber einfach alle miteinander zu kombinieren, in der Hoffnung, so ein sinnvolles Ganzes zu erhalten, kann auch nicht die Lösung sein.
Wir werden in diesem Buch nicht auf alle Fragen eine Antwort geben können, aber wir hoffen, dass dem Leser einiges klarer wird. Und anfangen wollen wir mit zwei Beobachtungen über die obige Liste von Sätzen, die mit „Gott durch meine Arbeit dienen heißt …“ anfangen. Erstens: Wenn ich diesen Satzanfang ergänze zu: „Gott durch meine Arbeit dienen heißt vor allem …“, dann erhalte ich eine Liste von Widersprüchen. Ich muss dann einen oder zwei dieser Sätze auswählen und den Rest verwerfen. Die meisten Leute, die sich zu dem Thema „Glaube und Arbeit“ äußern, tun (stillschweigend oder offen) genau dies. Lasse ich die Sätze dagegen so, wie sie sind, und sehe jeden von ihnen als eine Möglichkeit unter mehreren, Gott durch meine Arbeit zu dienen, dann widersprechen sie sich nicht, sondern ergänzen sich. Zweitens: Wie wir gerade sahen, können diese Faktoren unterschiedlich gestaltet und gewichtet sein, je nach meinem Beruf, meiner Kultur und historischen Epoche. Wenn wir diese beiden Prinzipien bedenken, können wir die verschiedenen Aussagen, Denkansätze und Wahrheiten als Baukasten betrachten, mit dem wir ein Modell für die Integration von Glaube und Arbeit für unseren Beruf, unsere Zeit und unseren Ort konstruieren können.
Wir wollen die Dinge aber nicht nur klarer machen, sondern auch lebendiger, realer und praktischer. Wir möchten mit dem, was der christliche Glaube (direkt und indirekt) über dieses unerschöpfliche Thema zu sagen hat, Ihre Fantasie und Tatkraft ansprechen. Die Bibel ist voll von Weisheit, Hilfe und Hoffnung für jeden, der einen Beruf ausübt oder erlernt, der Arbeit sucht oder seine Arbeit gut machen will. Und wenn wir sagen, dass die Bibel uns „Hoffnung“ für unsere Arbeit gibt, tun wir dies in dem Wissen, wie zutiefst frustrierend und schwierig unsere Arbeit sein kann und wie stark demnach die Hoffnung sein muss, die wir brauchen, wenn wir in dieser Welt Berufene sein wollen, die ihren Beruf ausüben. Ich kenne keinen provozierenderen und anregenderen Zeugen dieser Hoffnung als J. R. R. Tolkiens kleine, unbeachtete Geschichte „Leaf by Niggle“ (deutsch: „Blatt von Tüftler“).