Читать книгу Verhaltenstherapie bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen - Tina In-Albon - Страница 32
Оглавление4 Entwicklungspsychopathologie
Lernziele
• Sie können Risiko- und Schutzfaktoren definieren.
• Sie können die Aufgaben der Entwicklungspsychopathologie benennen.
• Sie wissen was mit differenzieller Suszeptibilität gemeint ist.
Die Entwicklungspsychopathologie setzt sich nach Sroufe und Rutter (1984) mit der Entstehung, den Ursachen und dem Verlauf individueller Muster abweichenden Verhaltens auseinander. Es werden verschiedene Einflüsse (biologische, affektive, kognitive und soziale) der normalen Entwicklung auf die Genese psychopathologischer Symptome sowie der Einfluss psychopathologischer Symptome auf die normale Entwicklung untersucht, d. h. es wird ein biopsychosozialer Ansatz verfolgt. Hervorzuheben ist ebenfalls, dass explizit Ressourcen im Entwicklungsverlauf berücksichtigt werden. Es sind also bei den Einflussfaktoren sowohl die negativen (Risikofaktoren) als auch die positiven Einflüsse (Schutzfaktoren, Kompensationsfaktoren) auf die Entwicklung von Interesse. Zu berücksichtigen sind zudem Interaktionen von Risiko- und Schutzfaktoren.
Die Entwicklungspsychopathologie hat folgende Aufgaben (Petermann & Ulrich, 2019):
• Untersuchung von biologischen, psychischen und sozialen Ursachen von Verhalten
• Vergleich von auffälligen und unauffälligen Entwicklungsverläufen
• Untersuchung von Kontinuität (Stabilität) und Diskontinuität (Veränderung) im Verhalten
• Klärung von Prädiktoren einer zukünftigen Entwicklung
• Untersuchung von Schutz- und Risikofaktoren und ihrer Wirkungsweise
• Untersuchung von Vulnerabilität und Resilienz
Grob kann zwischen belastenden Faktoren (Risikofaktoren, Vulnerabilität) und Ressourcen (Schutz- und Kompensationsfaktoren, Resilienz) von Personen unterschieden werden. Die jeweiligen Begrifflichkeiten werden im Folgenden definiert.
4.1 Risikofaktor
Ein Risikofaktor stellt ein Merkmal, eine besondere Erfahrung oder ein belastendes Ereignis dar, welches die Wahrscheinlichkeit einer Entwicklungsabweichung erhöht und dadurch eine Störung begünstigt. Es kann zwischen kindbezogenen (internen) und umgebungsbezogenen (externen) Faktoren unterschieden werden. Kindbezogene Risikofaktoren sind z. B. Temperament, biologische Faktoren vor, während und nach der Geburt. Umgebungsbezogene Risikofaktoren beschreiben psychosoziale Stressoren aus dem familiären und sozialen Umfeld des Kindes; einer der bedeutsamsten umgebungsbezogenen Faktoren ist eine elterliche psychische Erkrankung. Es ist jedoch zu beachten, dass es oft ein komplexes Zusammenspiel zwischen den Faktoren gibt. Bei den umgebungsbezogenen Risikofaktoren kann zusätzlich zwischen distalen und proximalen Risikofaktoren unterschieden werden. Distale Risikofaktoren wirken indirekt ungünstig auf die kindliche Entwicklung wie z. B. geringer Bildungsstand, Psychopathologie der Eltern und beengte Wohnverhältnisse. Proximale Risikofaktoren sind beispielsweise Schwierigkeiten der Eltern-Kind-Interaktion und im Erziehungsverhalten. Risikofaktoren wirken nicht universell, sondern stellen ein Risiko im Hinblick auf einen negativen Entwicklungsverlauf dar. Von Bedeutung ist dabei auch, zu welchem Zeitpunkt der Risikofaktor im Entwicklungsverlauf auftritt.
Ausgewählte Risikofaktoren: Temperament und elterliche Psychopathologie
Temperament. Bei Kleinkindern wird häufig zwischen einem schwierigen und einem unauffälligen, einfachen Temperament unterschieden. Kinder mit einem schwierigen Temperament sind meist leicht irritierbar, besitzen eine geringe Selbstregulation und verfügen über eine verminderte willentliche Kontrolle und verhaltensbezogene Hemmung. Ein Kind mit einem einfachen Temperament verfügt über eine gute Selbstkontrolle. Ein schwieriges Temperament kann z. B. einen Risikofaktor für die Entwicklung von ADHS darstellen (Millenet et al., 2013).
Ein bedeutsamer Risikofaktor für die Entwicklung von Angststörungen ist das Temperamentsmerkmal Verhaltenshemmung (Behavioral Inhibition) (Hirshfeld-Becker et al., 2007; Hudson et al., 2011). Kinder mit hoher Verhaltenshemmung reagieren bereits im frühen Kindesalter auf neue Situationen und unbekannte Personen mit Zurückhaltung, Schüchternheit oder Vermeidung (Kagan, 1994).
Elterliche Psychopathologie. Ein allgemeiner Risikofaktor für die Entwicklung psychischer Störungen ist die elterliche Psychopathologie (McLaughlin et al., 2012). Einen Elternteil mit einer psychischen Störung zu haben, ist daher einer der bedeutendsten Risikofaktoren für die Entstehung psychischer Störungen: 30-50 % der Kinder psychisch erkrankter Eltern weisen selbst psychische Störungen auf. In der Allgemeinbevölkerung sind es im Vergleich dazu 25 % der Kinder, die bis zum Erwachsenenalter an einer psychischen Störung erkranken (Christiansen et al., 2014). Es hat sich gezeigt, dass nicht nur die Gene für dieses erhöhte Risiko verantwortlich sind. Es braucht dazu ein Zusammenspiel von Genen und Umweltfaktoren. So begünstigt eine elterliche Angsterkrankung Angsterkrankungen bei den Kindern, wohingegen elterliche depressive Störungen nicht zwangsläufig zu internalisierenden Störungen der Kinder führen, sondern auch externalisierende Störungen begünstigen können (van Santvoort et al., 2015). D. h., dass mit hoher Wahrscheinlichkeit genetische Faktoren eine Rolle spielen, aber auch Umweltfaktoren, wie z. B. Modelllernen.
4.2 Vulnerabilität
Als Vulnerabilität wird jene Konstitution bezeichnet, die ein Individuum gegenüber negativen Entwicklungseinflüssen in besonderer Weise empfindlich bzw. anfällig macht, z. B. eine genetische Vulnerabilität oder eine chronische Krankheit. Es kann unterschieden werden zwischen primärer und sekundärer Vulnerabilität. Primäre Vulnerabilität beschreibt eine Anfälligkeit, die das Kind von Geburt an aufweist, während bei der sekundären Vulnerabilität die Anfälligkeit in der Auseinandersetzung mit seiner Umwelt erworben wird.
Vulnerabilitätsfaktoren wirken indirekt, durch eine Interaktion mit auftretenden Risikofaktoren. Ist ein Kind vulnerabel, reichen wenige Risikofaktoren aus, um eine Störung zu begünstigen.
4.3 Ressourcen
Ressourcen sind für die kindliche Entwicklung sehr wichtig. Dies sind alle Formen von Potenzialen, die dem Kind zur Verfügung stehen. Diese können in eigene Ressourcen des Kindes und Umgebungsressourcen unterschieden werden. Kindbezogene Ressourcen sind z. B. eine hohe Intelligenz oder physische Gesundheit. Umweltressourcen sind z. B. soziale Unterstützung, gute Wohnverhältnisse.
4.4 Schutzfaktoren
Schutzfaktoren haben eine risikomildernde oder -abpuffernde Wirkung, d. h. diese bestehen schon vor dem Auftreten von Störungen und werden durch das Auftreten von Risikofaktoren aktiv. Sie können genetisch vererbt oder erworben werden. Schutzfaktoren wirken nicht universell, sondern stellen immer einen Schutz vor etwas Bestimmten dar. Sie gehören zu den Ressourcen eines Kindes. Schutzfaktoren können in interne und externe Faktoren unterteilt werden. Beispiele für interne/kindbezogene Schutzfaktoren sind z. B. gute Intelligenz oder günstiges Temperament. Externe/umgebungsbezogene Schutzfaktoren können z. B. positive Freundschaftsbeziehungen, unterstützende Eltern oder ein kompetenter Umgang der Eltern mit dem Kind sein.
4.5 Kompensationsfaktoren
Kompensationsfaktoren stellen eine Ressource des Kindes dar, die genutzt werden kann, um Fehlentwicklungen auszugleichen. Als Beispiel können Kinder mit chronischen Schmerzen von Entspannungsübungen profitieren, um mit ihrer Krankheit umzugehen. Kompensationsfaktoren werden im Gegensatz zu Schutzfaktoren erst nach Störungsbeginn wirksam.
4.6 Resilienz
Resilienz beschreibt die Widerstandsfähigkeit gegenüber dem negativen Einfluss von Risikofaktoren einer Person. D. h., dass manche Kinder trotz ungünstiger und widriger Entwicklungsbedingungen im späteren Entwicklungsverlauf keine psychischen Auffälligkeiten zeigen. Beispiele für Resilienzfaktoren sind z. B. Selbstwirksamkeitsüberzeugungen oder ein aktives Bewältigungsverhalten. Es ist zu beachten, dass Resilienz und Vulnerabilität keine absoluten, stabil überdauernden Persönlichkeitseigenschaften darstellen.
4.7 Sensible Phasen
Eine sensible Phase beschreibt einen Lebensabschnitt mit einer erhöhten Bereitschaft des Menschen, bestimmte Verhaltensweisen, Fertigkeiten oder Fähigkeiten zu erwerben. Es liegen für viele Anforderungen im Entwicklungsverlauf Zeitfenster vor, in denen im Vergleich zu früheren und nachfolgenden Phasen, spezifische Erfahrungen besondere Wirkung haben, bzw. Neues besonders schnell gelernt werden kann.
4.8 Entwicklungsaufgaben
Entwicklungsaufgaben sind lebensalterstypische Herausforderungen, die an ein Individuum gestellt werden. Eine erfolgreiche Bewältigung führt zu Fertigkeiten und Kompetenzen, die künftige Entwicklungsaufgaben erleichtern (Havighurst, 1972).
4.9 Kontinuität
Bei Kontinuität bzw. Stabilität ist nicht von absoluter Stabilität auszugehen. Es wird zwischen heterotypischer Kontinuität und homotypischer Kontinuität unterschieden. Unter heterotypischer Kontinuität versteht man, wenn sich z. B. aggressive Verhaltensweisen altersentsprechend über den Entwicklungsverlauf in unterschiedlichen Verhaltensausprägungen (z. B. deren Intensität) zeigen. Dagegen versteht man unter homotypischer Kontinuität, die Beibehaltung gleichartiger Verhaltensweisen über die Zeit.
4.10 Differenzielle Suszeptibilität
Die differenzielle Suszeptibilität beschreibt interindividuelle Unterschiede in der Sensitivität gegenüber Umweltbedingungen. Temperament oder biologische Merkmale können zu diesen unterschiedlichen Empfindlichkeiten beitragen. Das Konzept stellt eine Erweiterung des Vulnerabilitäts-Stress-Modells dar und besagt, dass dieselben Faktoren, die eine Vulnerabilität gegenüber widrigen Umweltbedingungen darstellen, unter unterstützenden Umweltbedingungen entwicklungsförderlich sein können (Belsky & Pluess, 2009). Damit ist gemeint, dass es Personen gibt, die eine höhere Plastizität aufweisen und stärker auf negative, aber auch stärker auf positive und unterstützende Umweltfaktoren reagieren, während weniger suszeptible Personen weniger stark auf Stress reagieren, aber auch weniger von Unterstützung profitieren. Diese noch junge Hypothese bedarf jedoch noch empirischer Nachweise.
Die Psychopathologie im Kindes- und Jugendalter ist oft nur im Entwicklungskontext zu erkennen und zu verstehen. So ist dann auch die Therapieplanung dem Entwicklungsstand eines Kindes anzupassen. Dazu ist es notwendig, differenzierte Kenntnisse über die normale und abweichende Entwicklung zu haben. Sowohl Risiko- als auch Schutzfaktoren sollten im diagnostischen Prozess (z. B. Anamnese, Verhaltensanalyse) als auch der Behandlung berücksichtigt werden. Wichtige Erkenntnisse liefert die Entwicklungspsychopathologie zudem für die Erstellung von Entwicklungsprognosen. Werden Vorläufer von Störungen erkannt, können präventive Maßnahmen eingesetzt werden.
4.11 Überprüfung der Lernziele
• Definieren Sie Risiko- und Schutzfaktoren.
• Was sind Aufgaben der Entwicklungspsychopathologie?
• Was versteht man unter Differenzieller Suszeptibilität?