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Kapitel 2: Aufbruch

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Unter Schmerzen hustete Saibo, als er wieder zu sich kam und langsam die Augen öffnete. Sein Schädel brummte und die leichte Benommenheit fühlte sich an, als sei er alkoholisiert. Heftiges Keuchen gab er von sich und stemmte sich gegen die Last, die auf ihm drückte. Er schob einige Trümmer zur Seite und realisierte noch immer nicht, was passiert war. Orange flackerndes Licht drang durch die Lücken der Trümmer. Leicht panisch presste Saibo mit ganzer Kraft gegen die Holzbalken, welche ihn begruben, und drückte sie mit kleinen ruckartigen Schüben von sich herunter. Schließlich richtete er seinen Oberkörper auf und zog sich schwermütig aus dem Trümmerhaufen. Nachdem er sich ausgehustet hatte, setzte er sich aufrecht hin und blickte sich um. Flammen tänzelten hier und dort in der Dämmerung. Dichter schwarzer Rauch stieg vielerorts auf zum Himmel und verdunkelte diesen. Mehr und mehr Sinne erlangte Saibo zurück und hörte das Knacken der Hölzer und weinen von Kindern in der Ferne. Er stand schwankend auf und taumelte leicht duselig durch die Gasse. Akribisch versuchte er sich zu fangen und den am Boden liegenden Trümmern und leblosen Körpern auszuweichen. Allmählich realisierte Saibo was passiert war und Adrenalin brachte sein Herz zum Rasen. Er betrat den großen Platz am Tor und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf das Meer an Gefallenen.

»Nein...Nein...« Stotterte er perplex vor sich hin und schwenkte hastig mit seinem Blick durch die Gegend, um das Ausmaß zu erfassen. »Das kann nicht sein...« Er streifte in der brennenden Stadt umher und suchte nach Überlebenden. Abrupt stoppte er und seine Augen fixierten den Boden.

»Zaim...?« Fragte er den toten Körper, der zu seinen Füßen lag. »Zaim... Zaiim?« Saibo sank auf die Knie und rüttelte den blutüberströmten Leichnam. Ungläubig drehte er das Gesicht zu sich und fiel fassungslos zurück, als er das leblose Antlitz seines Vaters erblickte. Er konnte sich nicht daran erinnern, ob er seit dem Tod seiner Mutter jemals geweint hatte, doch nun verzog sich sein Gesicht und er presste verkrampft seine Augenlider zusammen, zwischen denen die Wimpern feucht wurden. Schließlich brach es aus ihm heraus, letztlich konnte er den Schmerz nicht länger unterdrücken und ein klagender Schrei schallte aus seinen Lungen, als er sich an seinen Vater klammerte. Schlagartig begriff er es. Der am Boden liegende Zaim symbolisierte, was geschehen war. Die Rebellion war gefallen. König Kron hatte es geschafft, er hatte sie gebrochen.

Zwei Tage vergingen. Saibo aß nicht und schlief nicht. Zwei Tage lang war er, nachdem er Zaim begraben hatte, wie ein Zombie durch die Stadt geirrt auf der Suche nach Überlebenden. Ihre Zahl war kümmerlich. Die Flammen waren erloschen und ließen nur Ruß und verbranntes Holz zurück, wonach die ganze Stadt stank. Aufgelöst stand Saibo vor dem Tor eines pompösen Gebäudes, in dem sich die Überlebenden des Massakers zusammengefunden hatten. Das Gebäude war größer und eindrucksvoller als die meisten anderen Lehmhütten. Es war unterteilt in mehrere kleine Häuschen, die durch Gänge verbunden waren. Die Wände waren aus Holz und Stein, mit Lehm zusammen gemörtelt und ringsherum bemalt mit Zitaten und Zeichen der Rebellion. Saibo wandelte durch die offene Eingangshalle hindurch und gelangte auf den großen Platz in der Mitte, um den sich die Häuschen reihten. Dies war einst Zaims Schule, denn Zaim war Lehrer. Doch war er kein gewöhnlicher Lehrer, wie es sie ihn anderen Städten und Dörfern gab. Zaim war ein Rebellionslehrer. Er lehrte seine Schüler in Schrift, Mathematik und vor allem in Geschichte und Philosophie. Er lehrte die Kinder die Freiheit ihres Geistes und die Macht ihres Verstandes. Die Kinder brachten jedoch nur die Hälfte der Zeit mit dem geistigen Training zu. Denn über Saibo am Torbogen stand der wichtigste Grundsatz der Schule. »In einem gesunden Körper, wohnt ein gesunder Geist.« So bildete Zaim die Kinder die Hälfte der Zeit geistig und die andere Hälfte körperlich aus. Die Ausbildung war hart und kräftezehrend. Seit vielen Jahren bestand die Schule für Körper und Geist, wie sie in der Stadt genannt wurde nun schon. Im Alter von 18 Jahren war man ausgebildet und zählte fortan offiziell zu der Elite der Rebellion. Saibo war der erste Schüler Zaims. Früh begann er den jungen zu trainieren, um ihn zu schmieden und zu härten und schnell erlangte der Junge großes Ansehen. Als Zaim die Anfragen mehrerer Eltern erreichten, kam er auf die Idee zur Gründung einer Schule. Doch diese Zeiten waren nun vorbei. Von der glorreichen Schule waren nur noch die kargen rußbedeckten Grundmauern übrig. Schwermütig schritt Saibo in die große Halle am Ende des Platzes.

Lichtkegel standen verteilt im Raum und schienen auf die notdürftig aufgestellten Tische und Bänke. Schmutzige und hungrige Menschen, insbesondere Frauen und Kinder wandelten wild durcheinander. Brotkörbe wurden hineingetragen und die wenigen Männer, welche die Schlacht überlebt hatten, wachten über die kärglichen Lebensmittel, welche verteilt wurden. Vom Hunger gezeichnet schlenderte Saibo an die Essensausgabe und setzte sich mit einem alten, trockenen Brot und einer Schale Wasser an einen der Tische. Die vom Ruß schwarz gefärbten Menschen in der Halle, wirkten erschöpft und vom Hunger gezeichnet. Das Elend war allgegenwärtig. Hungrige Mütter fütterten ihre schreienden Babys und Verwundete, oft noch stark blutende Männer verbissen sich schmerzverzerrt in den harten Brotlaiben. Saibo sah, dass ihr Wille gebrochen war. Rebellion und Widerstand waren Luxus, welche sich die hier anwesenden Menschen nicht länger leisten konnten.

»Ist hier noch frei?« Sprach ihn plötzlich eine heisere Stimme von der Seite an. Er drehte sich der Person zu. Ein alter, kahlköpfiger Mann von drahtiger Statur musterte Saibo und setzte sich nichts weiter sagend zu ihm.

»Wie kommt es das du am Leben bist, mein Junge?« Fragte der Alte ihn und tunkte ein Stück Brot in seine Wasserschale, um es aufzuweichen.

Saibo schwieg.

»Bist du weggelaufen?« Hakte der Alte nach.

Saibo schwieg weiter.

»Ist nicht so schlimm. Angst ist ein Gefühl, das wir nicht immer kontrollieren können, nimm es nicht so schwer.«

»Ich bin nicht weggelaufen.« Antwortete Saibo trocken, ohne den Mann anzusehen.

»Ich weiß. Ich sehe es in deinem Blick.«

»Was?«

»Ich sagte das nur, damit du dein Schweigen brichst. Ich beobachte dich schon seit gestern. Du isst nichts, du sprichst nicht. Selbst jetzt hast du das Essen vor deiner Nase noch nicht angerührt. Und ständig dieser Blick in deinen Augen als stecktest du noch mitten im Kampf.«

Leicht genervt riss Saibo ein Stück von seinem Brot ab, steckte es sich in den Mund und kaute widerwillig darauf herum.

»Na also, essen ist kein Verbrechen. In solch harten Zeiten sollte man es sich nicht noch schwerer machen. Denk einfach daran, Jammern wird deine Situation nicht verbessern, sondern handeln. Leitsatz der Rebellion.«

»Achja? Wie zum Teufel soll ich handeln? Sieh dich doch mal um, alter Mann! Frauen, Kinder, Greise und Krüppel. Mehr hat Kron nicht übrig gelassen. Die Rebellion ist tot.« Saibos Gesicht verzog sich vor Wut und er senkte niedergeschlagen den Kopf.

»Und wieder jammerst du, anstatt zu handeln. Du hättest mich zum Beispiel erst mal fragen können. Denn die Rebellion ist ganz und gar nicht tot. Hat dir niemand von den Arbeitslagern erzählt?«

»Arbeitslager?«

»Du siehst, es ist nicht immer vorteilhaft, sich wegen seines Schmerzes, in Schweigen zu hüllen und mit niemandem zu sprechen. Wir alle haben Verluste erlitten, doch Schweigen hilft keinem. Nicht jeder ist getötet worden. Als die Gaianer die Stellungen gebrochen und überrannt hatten, töteten sie nicht einfach wahllos. Viele wurden gefangen genommen. Aus meinem Versteck heraus, hörte ich wie die Gaianer davon sprachen, dass die Gefangenen in den Osten, in ein Arbeitslager gebracht werden sollten.«

»Worauf willst du hinaus?« Fragte Saibo kritisch.

»Auf gar nichts. Guten Appetit.« Antwortete der Alte und aß schweigend sein aufgeweichtes Brot.

Er wechselte kein Wort mehr mit Saibo. Schweigend aßen sie nebeneinander und jeder Versuch Saibos, das Gespräch neu zu entfachen, wurde von dem Alten mit einer blockierenden Handbewegung gestoppt. Schließlich räumte Saibo sein Geschirr ab und begab sich aus der Halle.

Die Stunden vergingen. Nachdenklich saß er auf der Ruine eines abgebrannten Hauses in der Nähe der Schule. Er stützte sich rückwärts auf seine Hände und starrte in den sternenüberfluteten Himmel. Die Nacht war kühl und klar und die Worte des Alten kreisten um Saibo wie ein Mückenschwarm.

»Jammern wird die Situation nicht verbessern, sondern Handeln...« Murmelte er vor sich hin und ließ seine Augen über den Nachthimmel schweifen. Ein Meer aus Sternen stand am Himmel und leuchtete auf die düstere Stadt hinab.

»Was bin ich schon in diesem gigantischen Universum?« Fragte sich Saibo in Gedanken versunken. »Unser Planet ist nichts im Vergleich zur Unendlichkeit der Galaxie, wer bin dann schon ich in dieser Unendlichkeit?«

»Misst man wahre Größe mit einem Maßband?« Die heisere Stimme des Alten ertönte in der unbelebten Gasse zu Saibos Füßen. Verdutzt schaute er nach unten, doch er konnte in den Schatten nichts erkennen. »Diese Sterne mögen vielleicht in Metern groß sein, doch was vollbringen sie schon? Sie stehen regungslos in der Dunkelheit und können nichts verändern. Sie können keine Entscheidungen treffen und keine Veränderungen vornehmen. Was sind diese Gesteinsbrocken schon im Gegensatz zur Unendlichkeit des menschlichen Geistes?«

Wortlos saß Saibo da und lies die Worte auf sich wirken. »Wie heißt du?« Fragte er in die Schatten hinein. Stille. Das Zirpen von Grillen waren die einzigen Geräusche, welche die Nacht belebten und so kletterte er von der Mauer herab, um dem Alten gegenüberzutreten. Doch als er sich in der Gasse umsah, war niemand da. Grübelnd zog Saibo durch die Straßen und kehrte zurück zu der Schule. In den kleinen Häuschen hatten viele Überlebende Schutz gesucht und mit vereinten Kräften Notunterkünfte errichtet. Seine Hoffnung, den Alten hier anzutreffen, erwiesen sich als fruchtlos. Müde begab sich Saibo hinein. In dem Raum lagen viele, notdürftige Betten, bestehend aus Stroh und Tuch auf dem Boden. Drei Menschen schliefen bereits dick in alte Kleiderfetzen gehüllt, quer über den Raum verteilt und Saibo schritt zu dem Bett in der hintersten Ecke. Ermattet legte er sich auf die piksende Mattratze und kam schließlich zur Ruhe.

Die Tage verstrichen und Rastlosigkeit wütete in Saibos Brust. Den Alten hatte er nicht ein einziges Mal wieder gesehen und allmählich fragte er sich, ob er wohl nur das Hirngespinst seiner Fantasie gewesen war. Auch nach drei Tagen wollte die innere Unruhe, welche der Alte in ihm ausgelöst hatte, nicht abklingen. Er hatte nach Überlebenden seiner Kolonne gesucht, seinen Onkel, den Kriegshelden Kerphonios, welcher gemeinsam mit seinem Vater Zaim die erste Kolonne anführte, doch sie alle waren tot oder verschwunden. Stunden streifte Saibo an diesem Tag durch die Stadt. Auf seinem Rücken trug er einen torsogroßen, grünen Rucksack, aus dem der Griff eines Schwertes herausragte. Der Rucksack war prall gefüllt mit Reiseutensilien und Proviant. Konzentriert stöberte er in einer pergamentfarbenen Karte, die er während des Gehens aufgespannt vor seinem Körper hielt. Auf der Karte waren die umliegenden Städte um das Rebellenlager eingezeichnet und als erstes Anlaufziel, nördlich von Elpis, war die Stadt Assandria einkreist. Die Worte des Alten hatten Spuren hinterlassen, er wusste, dass er hier keine Zukunft hatte. Er war kein Handwerker, kein Arzt oder Bauer. Er war ein Krieger und sein Metier war hier nicht länger gefragt. Hier konnte er nicht mehr helfen. Ein letztes Mal durchschritt er die Stadt. Je näher Saibo dem Stadtrand kam, desto mehr drängte sich ihm der bestialische Gestank von Tod in die Nase. Die Hoffnung lag in Trümmern. Männer, Frauen und Kinder lagen über den kargen Erdboden verteilt in der ganzen Stadt. Schließlich schaffte Saibo es nicht weiter voranzuschreiten, ohne Mund und Nase mit einem dicken Tuch zu verhüllen. Wie Gras bedeckten die Leichname den Erdboden, viele von ihnen kohlenschwarz und sie reichten, soweit er blicken konnte. Ein langer Weg lag vor ihm. Er durchquerte das kolossale Tor, welches aus den Leichen herausragte und wanderte den Abhang hinunter in den seichten Wald hinein Richtung Norden.

Die Rebellion des Adlers

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