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4 Der Doppelstaat

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Moskau, Februar 2008

Peter Sahlas’ Schätzung zufolge hatte er in den elf Jahren, die er mit dem Versuch zugebracht hatte, neue russische Gesetze zu schreiben, öfter als jeder andere »Westler« eine Audienz im Kreml bekommen. Immer perfekt gekleidet, mit makellosem Haarschnitt, Krawatte und bis ganz oben zugeknöpftem Hemd strahlte er wie die schwarzen Chromkoffer, die er auf Reisen mit sich führte. Man hätte ihn für einen der Unternehmensberater halten können, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nach Moskau strömten und hohe Honorare dafür kassierten, dass sie dort den Kapitalismus einführten. Aber er war keiner von ihnen. Er hatte sich eine größere Aufgabe gestellt, nämlich die Einführung eines Rechtsstaates. Im Februar 2008 wurde ihm klar, dass er gescheitert war.

Peter war durch und durch liberal eingestellt. Sein Vater war Grieche und glücklicherweise zu jung gewesen, um wie die anderen Männer seines Dorfes am Bürgerkrieg teilnehmen zu müssen, der auf die Befreiung Griechenlands von den Nazis folgte. Er war nach Kanada ausgewandert und hatte dort in Restaurants geschuftet, bis er selbst ein Lokal besaß und es sich leisten konnte, seine Geschwister und seine Braut nachzuholen. Sein elegantes Restaurant befand sich im Erdgeschoss eines Hochhauses voller Bankfilialen. Er hatte beschlossen, dass seine Kinder die sein sollten, die morgens die Brötchen aßen, und nicht die, die Stunden vorher aufstehen mussten, um sie zu backen. »Dies ist ein freies Land«, sagte er ihnen, »und ihr könnt machen, was ihr wollt. Aber ihr solltet später einmal Arzt oder Rechtsanwalt werden.« Doch fürs Erste ließ er sie in seinen Restaurants arbeiten, damit ihnen klarwurde, dass das Geld nicht auf Bäumen wuchs. An der Schule in Toronto war es Peters Lieblingsbeschäftigung, für etwas einzutreten, was sich bei ihm schon damals entwickelte: seine Prinzipien. So schockten er und sein Freund Vinay, die, wie Peter später berichtete, immer als »Unruhestifter« auftraten, den katholischen Vorstand der Schule, indem sie in ihrer Studentenzeitung ein Titelinterview mit einem Arzt brachten, der dafür bekannt war, dass er Abtreibungen vornahm. Als der Direktor sie zu sich zitierte, antworteten sie ihm mit einer Jeremiade über das Recht auf Meinungsfreiheit. Zur Verteidigung dieses Rechts waren sie auch bereit, Risiken auf sich zu nehmen, von denen Liberale, die älter und bekannter waren als sie, damals lieber Abstand nahmen: Sie besorgten sich ein Exemplar von Salman Rushdies Die satanischen Verse und veröffentlichten eine Besprechung.

Peter ging in Toronto zur Universität, wo er Internationale Beziehungen studierte, aber noch im ersten Studienjahr fiel sein Blick auf eine Anzeige in einer Studentenzeitung, mit der Englischlehrer für die Tschechoslowakei gesucht wurden. Im Sommer 1990 traf er im, etwa eine Autostunde von Prag entfernten Pilsen ein. Sechs Monate vorher hatte Václav Havels Samtene Revolution die Herrschaft der Kommunisten gestürzt. Niemand im Land, der unter vierzig war, hatte jemals Freiheit gekannt, die letzten sowjetischen Truppen waren noch nicht alle abgezogen und die Tschechen waren sich über ihre neue Beziehung zum Staat offenbar noch immer unsicher. Nach einer Unterrichtsstunde wurde Peter von einem seiner Schüler, einem Soldaten namens Pawel, angesprochen. Dieser erklärte ihm, er habe sich einen kleinen Akt der Rebellion gegen die noch immer weiterbestehende Ordnung ausgedacht. Dabei ging es darum, unbefugt einen »Westler« in seine Unterkunft einzuschmuggeln. Außer Pawel und seinen Mitverschwörern würde niemand je davon erfahren, aber die Aktion würde ihnen das erhebende Gefühl vermitteln, einer Macht zu trotzen, die bis vor Kurzem unanfechtbar schien. Der Westler, den er im Auge hatte, war Peter, und dieser hielt das für eine ausgezeichnete Idee.

Pawel gab Peter eine kratzige Khakiuniform und Armeeunterwäsche. Er instruierte ihn, zum Sammelpunkt in Pilsen kommen, wo ein Bus Soldaten auflas, die ein paar Stunden Urlaub in der Stadt verbracht hatten, um sie zurück zum Stützpunkt zu bringen. Als der Bus an der Unterkunft ankam, stiegen die Soldaten mit dem verkleideten Eindringling vor der Pforte aus. Pawel flüsterte Peter zu, er solle den Wachen ja nicht in die Augen sehen. »Ich gehe vor und du musst mir nur hinterhermarschieren. Beweg dich einfach ganz normal.« Plötzlich erschien Peter der ganze Plan gar nicht mehr so attraktiv. Wenn ich erwischt werde, sitze ich wirklich sowas von in der Scheiße, dachte er. Aber er blickte starr nach unten und schaffte es tatsächlich bis zum Häuserblock von Pawels Einheit, wo eine Weltkarte mit der Sowjetunion in der Mitte an der Wand hing. Peter aß mit seinen neuen Waffenbrüdern ihren Soldatenfraß. Aber dann ging ihm auf, dass ihm ein großer Fehler unterlaufen war: Er hatte zwar das »Verbrechen«, aber nicht die Flucht geplant. Die einzige Stelle, wo man wieder hinauskommen konnte, befand sich zwischen zwei Wachposten. Soldaten, die den Bus verpasst hatten, stiegen hier nach Einbruch der Dunkelheit über die Mauer, um zurück aufs Gelände zu gelangen. Um vier Uhr morgens brachte Pawel Peter dorthin. »Hab’ keine Angst«, sagte er, »sie werden nicht auf dich schießen. Aber dreh dich besser nicht um.« Während Pawel ihm hoch auf die Mauer half, fantasierte Peter, wie er verhaftet und der Spionage angeklagt würde. Er sprang. Keine Schüsse, kein Geschrei. Er landete auf dem Feld eines Bauern und machte, dass er wegkam.

Zusammen mit seinen Gastgebern, tschechischen Anwälten, besuchte Peter in diesem Sommer Auschwitz, das Gericht, in dem die Nürnberger Prozesse stattgefunden hatten, und Berlin, von wo er sich einige Mauerstücke mitnahm. Er bereiste den bisherigen Ostblock und hatte das Gefühl, Zeuge der Geschichte zu sein – und vielleicht sogar ein aktiver Teilnehmer.

Peter und sein Freund Vinay beschlossen, ihr Englischkurrikulum auch nach Russland zu importieren. Sie machten Extraschichten in Restaurants, bis sie im Sommer 1991 genügend Geld für die Tickets eines British-Airways-Fluges nach Moskau zusammengekratzt hatten. Ihre Russischkenntnisse beschränkten sich auf die beiden Wörter da und njet. In Moskau angekommen, kam ihnen ein Taxifahrer namens Oleg zu Hilfe. Er besorgte ihnen ein Zimmer und als Mahlzeit ein abgemagertes Huhn, das sie mit vergorener Milch herunterspülten, die über Nacht einen beunruhigenden schwarzen Belag auf ihrer Zunge hinterließ. Am nächsten Morgen brachte Oleg sie zum Zug nach Leningrad. Peter und Vinay hatten in der ehemaligen Hauptstadt der Zaren, die bald wieder in St. Petersburg umgetauft werden sollte, bereits Arrangements dafür getroffen, russischen Journalisten Englisch beizubringen. Sie wohnten in einem Hotel, in dem sie dann als moralisch aufrechte Kanadier den unablässigen Versuchen des Hotelmanagers widerstanden, sie mit Prostituierten zu versorgen. Als kommunistische Hardliner im August 1991 einen Putsch gegen Gorbatschow unternahmen, während Peter sich zwischenzeitlich nach Paris begeben hatte, hielten die Journalisten ihn über die Ereignisse auf dem Laufenden. Er kehrte ein Jahr darauf zurück und diesmal brachten seine Sprachschüler ihm Russisch bei.

Wieder zurück in Kanada begann er eine Ausbildung als Rechtsanwalt. Da Peter höflich und sehr überzeugend war, gelang es ihm, an Subventionen des kanadischen Staates für die Untersuchung gewisser Aspekte des russischen Rechtssystems zu kommen. So fuhr er in den Frühjahrsferien, die andere Studenten in Florida verbrachten, gemeinsam mit fünf Professoren nach Russland. Es gelang ihm, sich erfolgreich auf eine offene Stelle zur Unterstützung Russlands bei der Entwicklung einer bürgerlichen Gesetzgebung für die postkommunistische Ära zu bewerben. Zurück in Kanada erzählte Peter seiner Freundin von der »verrückten Idee«, nach Moskau umzusiedeln. Die beiden waren sich zwei Jahre zuvor in ihrer Heimatstadt Paris begegnet. Peter war damals vier Wochen dort gewesen, um sein Business-Französisch zu verbessern. Bei einer privaten Party an einem heißen Sommerabend hatten ihm zwei ins Gespräch vertiefte Frauen den Weg zum Kühlschrank versperrt. Während er sie umsteuerte, kam er mit einer von ihnen ins Plaudern und das Gespräch setzte sich dann bis in die Morgenstunden fort. Cécile arbeitete für eine Bank. Als diese kurz darauf in Schwierigkeiten geriet, verlegte sie sich auf die Literatur und zog zu Peter nach Kanada. Das war noch kein Jahr her gewesen, als sich plötzlich die Aussicht einer Übersiedelung nach Moskau ergab. Zu Peters Begeisterung war auch sie von der Idee angetan. Sie trafen dort 1996 ein. Bald war Peter bis zu vierzig Mal im Jahr im Kreml zu Gast. Eine Art Rechtsstaat begann, Gestalt anzunehmen. Boris Jelzin war zum Nachfolger Gorbatschows geworden und Peter bewegte sich nun in der Gesellschaft der Mandarine des neuen Russlands. Eines Tages stellte man ihn in der Lounge eines Flughafens einem Beamten aus St. Petersburg vor, der ihm seine Visitenkarte gab. Peter musste lachen, als er sah, dass der Name des Mannes wie das berühmte Québecer Gericht aus Pommes frites, Käsebruch und Bratensoße, poutine, klang.

Während die Amtszeit Jelzins Ende der 1990er Jahre zur Neige ging, sank bei Peter immer mehr der Mut. Er wusste, dass der Präsident »generell betrunken oder nicht mehr ansprechbar« war, wodurch man keinerlei Pläne in die Praxis umsetzen konnte. Und die Reformer legten oft selbst das Verhalten an den Tag, dem sie angeblich ein Ende machen wollten. Sogar von Boris Nemtsow, dem charismatischen Volkstribun der Reformkräfte, tauchten Filmaufnahmen auf, auf denen er und etliche Banker mit halbwüchsigen Stripperinnen in einem Whirlpool herumplanschten. Die siloviki, Männer aus dem Militär und dem ehemaligen KGB, gewannen immer mehr an Einfluss. Im Kreml gab es niemanden mit der Autorität, zwischen den Fraktionen zu vermitteln. Als im Jahr 2000 Putin das Ruder übernahm, hatte Peter keinen Schimmer, was nun zu erwarten war. Wenn der Präsident sich gegen die Reformen gestellt hätte, hätte seine Arbeit an den neuen Gesetzen auf jeder einzelnen Ebene abgewürgt werden können. Aber dann wurden die Entscheidungen immer wieder bis zu Putin hochgereicht und dieser tat dann immer genau das, was Peter sich erhoffte. Als Premierminister unter Jelzin war Putin die Rolle des Schlächters von Tschetschenien zugefallen. Doch während er sein neues Amt dazu benutzte, Jelzin lebenslängliche Immunität vor Strafverfolgung zu gewähren, erklärte er zugleich, es herrsche nunmehr die »Diktatur des Gesetzes«. Peter war davon sehr angetan und blieb es auch, bis Putins Leute einen jungen Anwalt in Peters Alter verhafteten und ihn Schritt für Schritt zu Tode marterten.

Yukos war die größte Ölgesellschaft Russlands. Ihr Eigentümer, Michail Chodorkowski, sah wie ein klassischer Nerd aus. Er war ein ausgezeichneter Ingenieur und hatte als Kind davon geträumt, einmal eine prestigeträchtige sowjetische Fabrik zu leiten. Stattdessen gehörte er nun zu den Ersten, die dem privaten Unternehmertum zum Durchbruch verhalfen, was in den letzten Jahren unter dem Kommunismus keine Straftat mehr war, aber auch nicht gerade gern gesehen wurde. Er begriff, wie wichtig persönliche Beziehungen in einem System waren, das keine verbindlichen Regeln kannte, und begann seine marktwirtschaftlichen Experimente zunächst mit dem Segen der Behörden. Er importierte Computer und versuchte sich außerdem im Devisengeschäft. Ihm wurde bald klar, dass die profitabelste Rolle im neuen russischen Kapitalismus die des finanziellen Mittelsmannes war, der Fabriken und anderen Staatseinrichtungen Geld lieh, um es später mit einem beträchtlichen Aufschlag zurückzuverlangen. So verschaffte er sich Geld, um ebenfalls von der Verschleuderung des sowjetischen Staatseigentums profitieren zu können, die damals mit der begeisterten Unterstützung des Westens von Jelzins Reformern betrieben wurde. Diese fürchteten nichts mehr als die Rückkehr der Kommunisten und als die Präsidentschaftswahlen von 1996 nahten, suchten sie verzweifelt nach Möglichkeiten, die Herrschaft ihres ständig alkoholisierten Beschützers zu verlängern. Dazu benötigten sie jedoch die Unterstützung der neuen Magnaten. Die Reformer »hatten die Macht übernommen, um eine faire, gerechte und rechtskonforme Marktwirtschaft zu schaffen, aber zu diesem Zweck organisierten sie eines der schmutzigsten Insidergeschäfte der Welt«, schrieb eine der bestinformierten Auslandskorrespondentinnen in Russland, Chrystia Freeland, über diese Periode. Eine kleine Handvoll von Geschäftsleuten teilte die Ölfelder, Bergwerke und Fabriken, die einstmals der Kern des sowjetischen Imperiums gewesen waren, unter sich auf. Mit dem Geld, das sie der notleidenden Staatskasse liehen, und mit ihrer politischen Unterstützung des Jelzin-Regimes erwarben sie sich das Recht, erst das Management dieser Kernunternehmen an sich zu reißen und sie dann zu einem Bruchteil ihres wahren Werts zu kaufen. Dieser Ausverkauf war die Geburtsstunde der russischen Oligarchen: Wladimir Potanin, Boris Beresowski, Roman Abramowitsch und viele andere mehr. Chodorkowski und seine Partner zahlten für 75 Prozent der Anteile von Yukos mit seinen 100 000 Beschäftigten, seinen Ölfeldern und seinen Raffinerien ganze 350 Millionen Dollar. Zwei Jahre darauf, 1997, wurde der Wert des Unternehmens auf 9 Milliarden Dollar geschätzt, im Jahr 2002 auf 12 Milliarden. Chodorkowski wurde zum reichsten Mann Russlands.

Chodorkowski verwandelte Yukos in eines der bestverwalteten Unternehmen Russlands. Westliche Ölunternehmer umschwärmten ihn. Nichts schien für ihn unmöglich zu sein. Er kam zu der Überzeugung, der Mann zu sein, der Russland wahre Demokratie bringen konnte, und begann, zivilgesellschaftliche Gruppen und Oppositionsparteien zu finanzieren. Damit verstieß er gegen eine Regel, die Putin eingeführt hatte, um sich die Oligarchen gefügig zu machen: Wenn du dein Geld behalten willst, halte dich aus der Politik heraus. Im Oktober 2003 kamen bewaffnete Beamte an Bord von Chodorkowskis Jet, während dieser an einem sibirischen Flughafen aufgetankt wurde, und verhafteten ihn. Die Anklage lautete auf Betrug und Steuerhinterziehung. Dabei wurden bei der Buchhaltung von Yukos genau dieselben Methoden verwendet wie bei allen anderen Ölgesellschaften. Doch kurz nach Chodorkowskis Verhaftung erhob das Finanzamt eine Steuerforderung von umgerechnet 3,3 Milliarden US-Dollar.

Die Verteidigung hatte eine Anwaltskanzlei aus Toronto engagiert und auch von dem jungen Kanadier gehört, der intensiv an der Erarbeitung einer neuen rechtlichen Architektur für Russland beteiligt war. Peter Sahlas wurde zu einem Treffen eingeladen. Als er kam, befanden sich schon 15 Leute im Raum, darunter auch ein ehemaliger kanadischer Premierminister. Peter berichtete, was seine Kontakte in Moskau ihm erzählt hatten: Putin sei dabei, seinen Zugriff auf die Gerichtsbarkeit zu festigen. Bald nach diesem Treffen klingelte Peters Telefon erneut. Es war Bob Amsterdam, ein ursprünglich aus der Bronx stammender, kampflustiger kanadischer Handelsanwalt, der für Yukos arbeitete. Er wollte Peter im Team Chodorkowskis dabeihaben.

Dessen Haft ging nun bereits ins dritte Jahr. Als Symbol für eine Kampagne zur Verteidigung des Rechtsstaats war er nicht unbedingt die Idealfigur. Ungeachtet seines nervösen Kicherns war er in Wirklichkeit rücksichtslos und verdankte seinen Reichtum nicht zuletzt der Fähigkeit, rechtliche Finessen und Schlupflöcher zu finden und so seine Rivalen auszubooten. Dazu hatte auch gehört, dass der Beamte, der sehr vage Bestimmungen in die russische Handelsgesetzgebung eingefügt hatte, die genau zu diesem Zweck dienten, nach seinem Ausscheiden aus dem Staatsdienst mit einem Posten bei Yukos belohnt wurde. Aber Amsterdam erklärte Peter, hier stehe weitaus mehr auf dem Spiel als die Beschlagnahme einer Ölgesellschaft. »Hier geht es darum, ob Russland ein Rechtsstaat ist. Um die geopolitische Stabilität. Und um die sichere Energieversorgung Europas. Russland hat immer noch Atomwaffen. Wir brauchen ein rechtsstaatliches und stabiles Russland. Und wenn es in Russland Sicherheit des Eigentums, Vertragssicherheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte gibt, ist das im Interesse aller.«

Zu Amsterdams Herangehensweise an den Fall gehörte auch die intensive Beschäftigung mit Fragen der Rechtstheorie. Hierzu las er ein Buch nach dem anderen. Eines Tages gab er Peter ein kaum bekanntes Werk, das in Deutschland entstanden war, Der Doppelstaat: Ein Beitrag zur Theorie der Diktatur. Der Autor, Ernst Fraenkel, hatte im Ersten Weltkrieg an der Westfront gekämpft und danach in Frankfurt Jura studiert. In der Weimarer Republik war er Arbeitsrechtler gewesen und hatte sich immer mehr für die Frage interessiert, wie und auf welchen Wegen das Recht den Interessen der Reichen und Mächtigen dient. Er wurde zu einem prominenten Publizisten, der vergeblich versuchte, den Rechtsstaat gegen den Aufstieg Hitlers zu verteidigen. Im Dritten Reich war er bald zu einem Doppelleben gezwungen. Offiziell war er immer noch Anwalt, da er unter Verweis auf seinen Militärdienst durchsetzen konnte, dass die Bestimmung der Nazis, nach der Juden in diesem Bereich nicht tätig sein konnten, für ihn nicht galt. Zugleich arbeitete er heimlich an jenem Buch, das manche später als »das ultimative Werk geistigen Widerstandes gegen die Nazis« bezeichnen sollten.

Die Doppelnatur des Hitlerregimes ging Fraenkel 1936 im Verlauf einer Gerichtsverhandlung in Berlin auf. Damals vertrat er Beschäftigte einer Gewerkschaft, die die Einhaltung ihres internen Lohnvertrags durch ihren Arbeitgeber forderten, obwohl die Gestapo die Gewerkschaft nach den Richtlinien der Nazis reorganisiert hatte. Der Gestapo-Anwalt argumentierte, »die Gestapo kann rechtswirksam alles vornehmen, was ihr notwendig und erforderlich erscheint«, ganz gleich, ob es sich um die Auflösung eines Vereins oder um die Auflösung einer Ehe handelte. Der Richter urteilte dennoch, das deutsche Arbeitsrecht sei zugunsten der Beschäftigten auszulegen. Kurze Zeit später wurde Fraenkel die Kopie einer neuen Order der Gestapo zugestellt. Die Gerichtsentscheidung blieb bestehen, aber der seinen Mandanten zustehende Lohn war vom Regime beschlagnahmt worden.

Viele andere flohen aus Deutschland, aber Fraenkel blieb und versuchte, die Funktionsweise eines Regimes zu begreifen, »zu dessen kennzeichnenden Merkmalen es gehört, seinen wahren Charakter zu verschleiern«. Während er die Berliner Zentralbibliothek nach relevanten Rechtsdokumenten durchsuchte, machte er dort auch alle möglichen anderen, gänzlich irrelevanten Bestellungen, um zu verhindern, dass die Nazis ihm auf die Spur kamen. Dabei stieß er auf ein Phänomen, das er als »Schlüssel zum Verständnis der nationalsozialistischen Herrschaftsordnung« betrachtete, nämlich das »Nebeneinander eines seine eigenen Gesetze im allgemein respektierenden ›Normenstaats‹ und eines die gleichen Gesetze missachtenden ›Maßnahmenstaats‹«. Mit anderen Worten, Nazideutschland war nicht einfach ein totalitäres System. Es behielt, vor allem im ökonomischen Bereich, einige Reste des Rechtsstaates bei, so dass die kapitalistische Wirtschaft sich auf die grundlegenden Regeln stützen konnte, die sie für ihr Fortbestehen brauchte. Aber der Maßnahmenstaat – Hitlers politische Maschinerie – genoss nun eine Freiheit, die Fraenkel als »Kompetenzkompetenz« bezeichnete. Dieser Maßnahmenstaat stand über dem Gesetz und er konnte jedem Einzelnen und jeder Gruppe ganz nach Belieben den Schutz durch das Gesetz entziehen.

Schließlich begann sich der Maßnahmenstaat umgekehrt auch für Fraenkel zu interessieren. Seinen geheimen literarischen Aktivitäten waren die Behörden nicht auf die Spur gekommen, aber dafür hatte er sich durch seine Verteidigung jüdischer Mitbürger vor Gericht exponiert. Im September 1938 erhielt er einen Anruf, mit dem er gewarnt wurde, die Gestapo habe es nun auch auf ihn abgesehen. Fraenkel floh mit seiner Frau, sechs Wochen vor der »Reichskristallnacht«. Die Urversion seines Buchs Der Doppelstaat verließ das Land im diplomatischen Gepäck eines sympathisierenden Beamten der französischen Botschaft. Autor und Manuskript kamen erst später in New York wieder zusammen, wo das Buch 1941 auf Englisch erschien. Es bekam viele Besprechungen, war aber schon zehn Jahre später nicht mehr im Buchhandel erhältlich. Dennoch wurde es von vielen bewundert, die das Verhältnis zwischen Diktatoren und dem Recht verstehen wollten. Die Lektüre von Fraenkels Werk löste in Bob Amsterdam und Peter Sahlas einen »Heureka«-Moment aus.

Peter sah in der postsowjetischen Kombination von kapitalistischer Wirtschaft und autoritärer Politik die Entwicklung eines Doppelstaates der Art, wie Fraenkel sie beschrieben hatte. Dabei war ihm klar, dass die Parallele nicht exakt sein konnte. »Die Ziele des Maßnahmenstaates im Dritten Reich waren von beispielloser Ungeheuerlichkeit«, schrieb er in einer ersten Reaktion. Aber anhand des Sturzes Chodorkowskis begriff er, wie hoch der »Nutzen der Legitimität« für Kleptokraten zu veranschlagen war. Obwohl der gesamte Privatisierungsprozess ein Betrug gigantischen Ausmaßes war, konnte der Staat an diesem Vorgang selbst nichts finden, was eine Strafverurteilung gerechtfertigt hätte. Man verurteilt jemanden doch nicht für etwas, was er nicht getan hat, um ihn für etwas zu betrafen, was er tatsächlich getan hat, dachte er. Wenn er etwas Rechtswidriges getan hat, soll man ihn dafür anklagen. Aber das war nicht, was Putins Staat tat. Also, folgerte Peter, handelt es sich hier um politische Verfolgung im großen Stil, ganz besonders, wenn man an die Summen dachte, die hier im Spiel waren.

Chodorkowski war wegen Betrugs und Steuerhinterziehung verurteilt worden, aber 2007 stand eine mögliche Haftentlassung auf Bewährung an. Seine Inhaftierung machte ihn zu einer liberalen Ikone; seine bevorstehende Freilassung konnte für Putin gefährlich sein. Daher bedurfte es neuer Beschuldigungen. Der Maßnahmenstaat musste handeln.

Vasily Aleksanyan war groß, hager und hatte einen durchdringenden Blick. Er hatte in Harvard studiert und war dann nach Russland zurückgekehrt, um dort als Jurist zu arbeiten. Später wurde er Anwalt von Yukos, dem Ölkonzern Chodorkowskis. Im März 2006 war Chodorkowski immer noch im Gefängnis und Aleksanyan wurde nun zum neuen Chef des Unternehmens. Seine Hauptaufgabe bestand darin, den Bankrott abzuwenden, den Putins Regime herbeizuführen versuchte. Zwei Tage nach seiner Ernennung zum Chef wurde Aleksanyan ins Büro der Staatsanwaltschaft vorgeladen, wo man ihm mitteilte, er solle »einen weiten Bogen« um alles machen, was mit Yukos zu tun hatte. Er antwortete, das habe er mitnichten vor. Der Beamte, der die Warnung ausgesprochen hatte, entgegnete: »Das ist das erste Mal, dass ich erlebe, dass jemand freiwillig ins Gefängnis möchte.« Zwei Wochen später wurde Aleksanyan in einer Moskauer Wohnung von der Polizei verhaftet. Sie brachte ihn ins Matrosskaya-Tishina-Gefängnis, einen Kerker, der für die Feinde der Herrscher Russlands vorgesehen war. Man beschuldigte ihn, seine Anwaltstätigkeit dazu missbraucht zu haben, Aktien von Yukos-Ölprojekten, die die Yukos-Manager angeblich veruntreut hatten, zu »legalisieren«. Seine Anwälte baten das Gericht, ihn als alleinerziehenden Vater eines minderjährigen Sohnes und einzigen Beistand seiner betagten Eltern bis zum Verfahren auf freien Fuß zu setzen. Die Staatsanwaltschaft dagegen behauptete, über nicht näher erläuterte »operative Informationen« zu verfügen, nach denen Aleksanyan fliehen wolle. Der Richter verfügte, er müsse in Haft bleiben, nicht zuletzt, weil seine »Persönlichkeit« ihn zu »Schritten zur Vernichtung von Beweisen, Gegenständen und Dokumenten« treiben könne, »die für die Ermittlung wichtig sind, aber von den Ermittlungsbehörden bisher noch nicht aufgefunden wurden«.

Bob Amsterdam teilte Peter Sahlas die Aufgabe zu, an dem Versuch, Aleksanyan freizubekommen, mitzuarbeiten. Peter hatte gesehen, dass der russische Staat unter Jelzin oft nicht einmal seinen grundlegenden Pflichten nachkam.

Es hatte keinen Sinn mehr, die Polizei zu rufen, erinnerte er sich. Autounfälle, Leute, die aus dem Fenster fielen oder erschossen wurden – nicht einmal die Toten wurden weggeräumt.

Fast jeden Tag lag eine Leiche auf offener Straße herum. Es machte den Eindruck, als gebe es überhaupt keine Ordnungsmacht mehr. Tatsächlich war die Macht gehortet worden. Und jetzt wurde sie entfesselt.

Aleksanyan hatte als Kind eine Schädigung des rechten Auges erlitten. Im Gefängnis begann die Sehkraft seines linken Auges ebenfalls nachzulassen, so dass er die Gefängnisärzte, als sie ihn irgendwann endlich untersuchten, kaum noch sehen konnte. Sie nahmen ihm Blut ab und machten diverse Tests, bei denen sich herausstellte, dass Aleksanyan HIV-positiv war. Das Virus machte ihm schwer zu schaffen, aber die von der Staatsanwaltschaft mit einer medizinischen Einschätzung beauftragten Ärzte befanden Aleksanyan auch weiterhin für haftfähig; sein Zustand sei stabil genug, um die Ermittler bei ihren Untersuchungen unterstützen zu können. Schon bald litt er unter schweren Kopfschmerzen und Schmerzen in der Kehle. Er war mittlerweile so gut wie blind. Er brauchte jetzt eigentlich einen Cocktail antiretroviraler Medikamente, der das HIV-Virus unter Aufsicht von Spezialärzten in Schach halten und sein geschwächtes Immunsystem vor tödlichen Infektionen schützen konnte.

Nach neun Monaten im Gefängnis berichtete Aleksanyan seinen Anwälten, man habe ihn ins Büro der Staatsanwaltschaft gebracht. Als er dort eingetroffen sei, habe er plötzlich einem hohen Ermittlungsbeamten namens Salavat Karimov gegenübergesessen. Karimov hatte mit seinem Fall gar nichts zu tun; seine Aufgabe war es, Beweise zu finden, die für eine neue Verurteilung Michail Chodorkowskis genutzt werden konnten, sobald dessen Haft endete. Karimov teilte Aleksanyan mit, ihm sei klar, dass seine medizinische Situation gravierend sei und dass er vielleicht sogar eine Behandlung im Ausland benötigen würde. Er selbst könne helfen und sogar für seine Freilassung sorgen. Dafür müsse er sich lediglich für ein paar Wochen in eine geheime Isolationseinheit begeben und dort Aussagen machen, die für die Kampagne »der Führung« gegen Chodorkowski »günstig« wären. Im Austausch gegen Aleksanyans Unterschrift unter einer solchen Aussage würde Karimov eine Anordnung für Hafterleichterungen unterschreiben. Aleksanyan antwortete, das werde er niemals tun, und wurde zurück ins Gefängnis gebracht.

Während Aleksanyans Immunsystem allmählich zusammenbrach, wurde er in Zellen festgehalten, die voller Schimmel, Pilze und Bakterien waren, von denen er das Gefühl hatte, dass sie ihn auffraßen. Die zuständigen Ankläger beantragten immer wieder die Verlängerung seiner Untersuchungshaft und warnten, wenn man ihn freilasse, werde er sich mit anderen Yukos-Insidern zusammentun, um die Ermittlungen zu sabotieren. Das Gericht sah dies genauso. Nachdem Aleksanyan ein Jahr in Haft verbracht hatte, erklärte ein Ermittler einem seiner russischen Anwälte, wenn er sich schuldig bekenne und zur Kooperation bereit sei, werde man ihn freilassen. Seine Zelle war eiskalt. Er bekam fast nichts zu essen. Seine Versorgung mit antiretroviralen Medikamenten hätte eigentlich in einem Krankenhaus erfolgen müssen. Stattdessen kam ein Gefängnissanitäter mit Schachteln voller Pillen in seine Zelle. Da er nicht überprüfen konnte, was man ihm da gab, verweigerte Aleksanyan, der inzwischen fast blind war, die Einnahme. Er hatte Fieber und fast zehn Prozent seines Gewichts verloren. Außerdem litt er nun unter Blutarmut, einer Gürtelrose und Mundsoor. Er konnte kaum schlucken und zeigte Anzeichen von Enzephalopathie. Er hatte Läsionen auf der Leber und seine Gallenblase war entzündet. Seine Augen sanken immer tiefer in den Schädel. Ein Experte des Chelsea and Westminster Hospital in London, dem Aleksanyans Anwälte seine medizinischen Unterlagen geschickt hatten, kam zu dem Schluss, es bestehe »unmittelbare Lebensgefahr«. Die Anwälte baten das Büro des Staatsanwalts ein weiteres Mal um seine Entlassung aus gesundheitlichen Gründen. Ein Beamter dort stimmte zu und beantragte beim Richter die Entlassung Aleksanyans auf Kaution, aber bei der Kautionsanhörung sprach sich ein Vertreter der Staatsanwaltschaft gegen seine Freilassung aus. Der Richter urteilte, die Entscheidung zur Freilassung eines Verdächtigen sei Sache des Ermittlers. Dieser wiederum erklärte, das sei Sache der Gefängnisleitung. Und Letztere entschied, Aleksanyan müsse in Haft bleiben. Wie Aleksanyan seinen Anwälten berichtete, bekam er danach Besuch von einer weiteren Beamtin der Staatsanwaltschaft. Sie machte zum dritten Mal dasselbe Angebot: Geben Sie uns die falsche Aussage, die wir gegen Chodorkowski benötigen, und Sie bekommen Ihre Behandlung. Wieder lehnte er ab.

Am 22. Januar 2008 erschien ein zusammengekrümmter, schwankender Aleksanyan, der kaum zu stehen in der Lage war, vor dem Obersten Gerichtshof, um gegen seine erneute Haftverlängerung Berufung einzulegen. Er sprach per Video aus einem Käfig in seinem Gefängnis. Als Peter Sahlas die Aufnahme sah, wand er sich vor Scham. Es fühlte sich an, als habe er einem Mord zugesehen.

Nachdem er sich für sein Husten entschuldigt hatte, erklärte Aleksanyan, dass »mich jetzt sogar die Ärzte mit Entsetzen betrachten«. Er berichtete von den Angeboten, sich durch die wahrheitswidrige Belastung Chodorkowskis seine Freiheit zu erkaufen. Das Oberste Gericht lehnte seine Berufung ab. Eine Woche später begann sein eigentliches Verfahren. Einen Tag später fand man ein Lymphom bei ihm, das zeigte, dass er inzwischen an AIDS erkrankt war. Das Gericht entschied dennoch, seine Entlassung könne »die Feststellung der Wahrheit verhindern«. Folglich wurde er, als er am 8. Februar endlich in ein Zivilkrankenhaus gebracht wurde, um antiretrovirale Medikamenten gegen AIDS und eine Chemotherapie gegen seinen Krebs zu erhalten, mit Handschellen an sein Bett gefesselt. Er wurde von Wachen, die sich weigerten, sterile Uniformen zu tragen, zur Toilette begleitet. Das Gericht erteilte seinen Verwandten Besuchserlaubnis, aber seine Wärter ließen sie nicht zu ihm.

Inzwischen war Peter Sahlas in London, Paris, Berlin und Washington aktiv, um die Regierungen zu einer Intervention zur Rettung Aleksanyans zu bewegen. Dessen schrecklicher Zustand erinnerte ihn daran, dass er vielleicht ein ähnliches Schicksal geteilt hätte, wenn er statt in Toronto in Moskau zur Welt gekommen wäre. Peter war klar, dass es hier in Wirklichkeit nicht um Recht, sondern um Geopolitik ging. Er sah seine Aufgabe nun darin, »den Abgrund an Gemeinheit, zu dem die Ankläger und das Gericht herabgesunken sind, zu begreifen, die Tatsachen unzweideutig darzulegen und klarzumachen, warum all das wichtig ist«.

Nachdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dem Russland unter Jelzin beigetreten war, schließlich die bedingungslose Freilassung Aleksanyans anordnete, konnte dieser das Gefängnis verlassen, um die wenigen Jahre zu genießen, die ihm sein geschundener Körper noch ließ. Mit der erneuten Strafverfolgung und Verurteilung Chodorkowskis hatte er nichts mehr zu tun. Nachdem Chodorkowski und die anderen Oligarchen der ersten Stunde inhaftiert, im Exil oder auf andere Weise entmachtet waren, trat eine neue Kohorte von Leuten auf den Plan, die Putin alles verdankten. Der ehemalige Geheimdienstbeamte und Sekretär Putins, Igor Setschin, wurde Geschäftsführer des staatseigenen Öl-Konsortiums Rosneft, das die Yukos-Guthaben übernahm. Während Peter diese Entwicklungen beobachtete, musste er an eine Passage aus Gogols Die toten Seelen denken: »Es handelt sich darum, dass wir alle zusammen unser Vaterland retten müssen, das nicht etwa durch eine Invasion von zwanzig fremden Volksstämmen, sondern durch uns selbst gefährdet wird, und dass sich neben der rechtmäßigen Regierung eine andere gebildet hat, die sehr viel mächtiger und stärker als jene ist.«

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