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8 Der gefallene Oligarch

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Astana, Januar 2009

Die Krise breitete sich konzentrisch von den Hauptstädten des Geldes aus. Am Donnerstag, den 29. Januar 2009 wehte morgens ein eisiger sibirischer Wind aus der Steppe in die Stadt und hüllte Astana ein. Schnee fiel auf die Altstadt, ihre gepflasterten Flussufer, an denen an milderen Abenden Liebende spazieren gingen, ihre Restaurants, in denen es Pilaus aus dampfendem, in geschmolzener Butter schwimmendem Reis gab, ihre Bierhallen mit offenen Kaminen, in denen das Feuer von den Nachkommen der Deutsch-Russen geschürt wurde, die Stalin einst in die Wildnis deportiert hatte, als er sein Bündnis mit Hitler einging. Der Schneesturm wirbelte weiter in die Neustadt, den Teil Astanas, den die kasachischen Herrscher für sich selbst hatten bauen lassen. Ihre Hochhäuser waren Denkmäler des Reichtums, den sie aufgrund der geologischen Gegebenheiten und durch die richtigen Beziehungen erworben hatten, und ihre ausgezeichneten Hotels entsprachen den Standards der internationalen Geschäftswelt. In einem davon schlief Bota Jardemalie tief und fest, als neben ihr am Bett das Telefon klingelte. Verschlafen sah sie nach der Uhrzeit: vier Uhr morgens. Was zum Teufel?, dachte sie. Sie nahm den Hörer ab und hörte die Stimme ihres Chefs, der von seiner Suite einige Stockwerke über ihrem Zimmer aus anrief. »Bota, kannst du deinen Computer holen und zu mir ins Zimmer kommen?« Seine Stimme hatte etwas Kontrolliertes, gezwungen Normales an sich. Bota zog sich rasch an, warf ihre Sachen in ihren Koffer, schnappte sich ihren Laptop und eilte zum Aufzug.

Muchtar Äbljasow öffnete die Tür zu seiner Suite. Er trug einen Anzug. Obwohl er älter und in der Bank ihr Vorgesetzter war, siezte er Bota und sie tat umgekehrt dasselbe. »Ich habe mal ein wenig nachgedacht«, sagte er, »und ich glaube, sie werden mich heute Morgen verhaften.«

Dabei blieb der Ausdruck in Äbljasows ovalem Gesicht mit dem markanten Kinn und der hohen Stirn merkwürdig ruhig. Er rief den Zimmerservice an, bestellte Tee mit Milch für Bota und begann, ihr seine Überlegungen darzulegen. Die beiden waren nach Astana gefahren, um die Pläne der kasachischen Regierung für das zu diskutieren, womit zu dieser Zeit so gut wie alle Regierungen beschäftigt waren, wenn sie nicht bereits Schritte in die Wege geleitet hatten: für die Rettung der Banken. Äbljasow war Eigentümer einer der größten Banken Kasachstans, der BTA Bank. Als er am Nachmittag zuvor zufällig mit der obersten Bankaufseherin zusammengetroffen war, hatte ihn das Gefühl beschlichen, dass irgendetwas nicht stimmte. Sie war errötet und davongeeilt, ohne auch nur ein Wort an ihn zu richten. Er hatte am selben Tag auch noch einen Termin mit Premierminister Kärim Mässimow, aber dessen Büro rief ihn mit der Nachricht an, das Treffen sei verschoben worden. Äbljasow witterte eine Falle. Er war so alarmiert, dass er von einer Verabredung Gebrauch machte, die er mit einem Kontakt bei den staatlichen Stellen hatte. Dieser konnte nicht das Risiko eingehen, direkt mit Äbljasow Verbindung aufzunehmen, wenn er in Gefahr war. Aber er hatte sich schon vor Jahren bereiterklärt, Äbljasow vor einer bevorstehenden Verhaftung zu warnen, indem er dessen Anrufe weder entgegennahm noch beantwortete. Genau dies war seine Reaktion gewesen, als Äbljasow ihn jetzt zu kontaktieren versucht hatte.

Bota hatte ein lebhaftes und respektloses Naturell, aber nun saß sie, das lange, schwarze Haar zurückgeworfen, still da und hörte zu. Sie wusste, das Äbljasow vor Jahren einige Monate in einem Gefängnislager verbracht hatte, aber sie war damals im Ausland gewesen und hatte in Harvard Jura studiert. Jetzt war sie wieder in Kasachstan und gehörte zu den jungen, im Westen ausgebildeten Führungskräften, die versuchten, aus der BTA eine kreditwürdige internationale Bank zu machen. Sie wusste, dass in Kasachstan, wann immer es um große Vermögen ging, Intrigen und Verrat zu erwarten waren. Sie war davon ausgegangen, dass Nasarbajew insgeheim einen Anteil an Äbljasows Bank verlangen würde. Geld war Macht, und Banken handelten mit Geld. Der Schwiegersohn des Präsidenten und laut Forbes reichste Mann Kasachstans, Timur Qulybajew, war bereits Besitzer einer der wichtigsten konkurrierenden Banken. Bota hatte hart gearbeitet, um die BTA zu einer Institution zu machen, der die größte Bank der Welt, die Royal Bank of Scotland, Geld zu leihen bereit war. Sie war überzeugt, dass die Bank trotz aller jetzt von Wall Street und der City of London ausgehenden Schockwellen solide dastand. Sie verwickelte sich oft mit anderen Mitgliedern der kasachischen Elite in Diskussionen über die Vor- und Nachteile staatlichen Eingreifens in das Bankensystem, aber diese Debatten endeten immer mit einigen Drinks oder einer friedensstiftenden Shisha-Pfeife. Als sie nun mit Äbljasow dasaß, während es draußen ununterbrochen schneite, dämmerte ihr jedoch, dass hier ernstere Kräfte im Spiel waren. Die Krise hatte Nasarbajew und seinem Hofstaat den Vorwand geliefert, Äbljasow seine Bank wegzunehmen und dabei so zu tun, als handele es sich dabei nicht um Raub, sondern um eine Rettungsaktion. Sie spürte, wie eine Welle der Frustration in ihr aufstieg.

Äbljasows Leibwache stand startbereit mit einem Jet am Flughafen, aber das Schneetreiben hinderte sie daran, das Hotel zu verlassen. Sie warteten und fragten sich, wann es wohl an der Tür klopfen würde. Bota öffnete ihren Laptop und machte Notizen, während Äbljasow ihr von den Ereignissen berichtete, die zu diesem Moment geführt hatten. Er gab ihr einige SIM-Karten, von denen jede im Fall seiner Verhaftung für einen anderen Kontakt benutzt werden sollte. Zu den Kontakten gehörten einige der wenigen Journalisten, die das Regime noch nicht gekauft oder durch Terror zum Schweigen gebracht hatte. Bota hatte bereits Gerüchte über Äbljasows heimliche Verbindungen zur Opposition gehört, sie aber bisher für Klatsch gehalten. Jetzt nahm sie die SIM-Karten entgegen und versteckte sie in Bonbonpapier. Das alles fühlte sich höchst surreal an. Dann gab Äbljasow ihr seine Armbanduhr.

»Nehmen Sie sie«, sagte er. »Geben Sie sie mir wieder, wenn wir uns wiedersehen.« »Sie werden sie brauchen«, sagte Bota.

Äbljasow lächelte. »Wenn sie mich verhaften, nehmen sie sie mir ohnehin weg.«

Der Schneesturm legte sich. Auf der Fahrt zum Flughafen war Äbljasow überzeugt, dass der KNB ihn schnappen würde. Aber diesmal schien ihm die tief verwurzelte Paranoia der herrschenden Klasse Kasachstans zu Hilfe gekommen zu sein. Jeder kannte jeden. Also weihte niemand, der eine Verschwörung plante, andere in sie ein, da man ja immer fürchtete, verraten zu werden. »Selbst als Premierminister«, wurde Bota klar, »weiß man nicht, wem man trauen kann.« Die Kräfte, die Äbljasow in ihre Hand bekommen wollten, hatte nicht genug Vertrauen in ihre Kollegen im Staatsapparat, um die Errichtung einer Straßensperre auf dem Weg zum Flughafen anzuordnen oder, falls es ihm gelang, dorthin zu kommen, ein Startverbot zu erteilen. Am Flughafen angekommen, stieg er ein, konnte aber nicht abfliegen, da die Flügel der Maschine vereist waren. So wartete er, während die Mechaniker das Flugzeug mit Enteiser bearbeiteten. Dann endlich heulten die Turbinen auf, der Pilot raste die Startbahn hinunter und sie hoben ab. Kurz darauf hatten sie die Grenze passiert.

Bota hingegen trat aus dem Hotel auf die ultramodernen Boulevards der Neustadt Astanas hinaus. Die Metropole strahlte einen schreiend widersprüchlichen Schick aus, als hätte Kublai Khan Isaac Asimov einen LSD-Trip verabreicht und ihn gebeten, sich eine Hauptstadt an der Drehscheibe einer neuen Ordnung auszudenken: China im Osten, Russland im Norden und, so wie sie dereinst über die Seidenstraße gekommen waren, Geschäftsleute aus dem Westen, die Öl, Uran und Kunden für ihre Fähigkeit suchten, schmutziges Geld in sauberes zu verwandeln. An der Hauptdurchgangsstraße schwang sich das extravagant gekurvte königliche Festzelt Khan Shatyr in die Luft. Das riesige, von Norman Foster entworfene Vergnügungszen­trum war pünktlich zu Nasarbajews siebzigstem Geburtstag eröffnet worden. Auf halber Höhe der Promenade stand das Hauptquartier des Staatsfonds, des Sponsors des Radrennteams von Astana, dem es gerade gelungen war, mit Lance Armstrong den größten Fahrer aller Zeiten zu verpflichten. Am anderen Ende erhob sich vor dem Palast des Präsidenten der Bayterek-Turm, in dem das heilige Ei des mythischen Samruk in den obersten Zweigen des Lebensbaums nistete. Im oberen Teil des Turmes konnten die Besucher ihre Hand in den goldenen Abdruck der Hand Nasarbajews legen, um dem Vater der kasachischen Nation ihre Ehrerbietung zu erweisen.

Mit Äbljasow Uhr unter ihrem Ärmel begab sich Bota ins Büro der BTA in Astana. Aber da sie hier ohnehin nicht viel tun konnte, beschloss sie, nach Hause in die weit im Süden im Bergland liegende Handelsmetropole Almaty zurückzukehren. Nach Ankunft ihres Fluges schaltete sie ihr Telefon wieder ein und sah, dass sie mehrere Nachrichten hatte. Nachdem sie das Büro der BTA in Astana verlassen hatte, war dort ein merkwürdiges Fax der Bankaufsichtsbehörde eingetroffen. Es wies die Geschäftsführung der Bank an, Vorbereitungen für angeblich bevorstehende gewaltige Verluste zu treffen und 3,5 Milliarden Dollar bereitzustellen. Das war am Donnerstagabend. Das Fax gab der Bank eine Frist bis Sonntag, um diese fantastische Summe aufzutreiben, die siebenmal so hoch war wie ihr Jahresgewinn. Bota war völlig klar, was hier gespielt wurde. Das Regime wollte die Bank in eine Position manövrieren, in der man ihr einen Verstoß gegen die Anweisungen der Aufsichtsbehörde vorwerfen konnte. Das würde Nasarbajew den Vorwand liefern, sie zu beschlagnahmen.

Nach ihrer Ankunft in Almaty berichtete Bota ihrem Mann, der ebenfalls Wirtschaftsanwalt war, was geschehen war. Ihm fiel sofort ein anderer Fall von Enteignung in Russland ein, der hohe Wellen geschlagen hatte – die Beschlagnahme des Yukos-Konzerns, der Michail Chodorkowski gehört hatte. »Erinnerst du dich daran, was sie mit den Anwälten gemacht haben?«, sagt er. »Wir können unter gar keinen Umständen hierbleiben.«

Bota überlegte, wie sie sich mit ihrem kasachischen Pass sofort ins Ausland begeben konnte. Sie war in letzter Zeit öfter in Großbritannien gewesen und hatte dort Pläne sondiert, es der ENRC gleichzutun und Aktien der BTA an die Londoner Börse zu bringen. Ihr britisches Visum war immer noch gültig, also entschied sie sich für London. Dort wollte sie eine Woche bleiben, bis sich alles wieder beruhigt hatte.

Auch Äbljasow war nach London gekommen. Bota suchte ihn in seinem Hotel auf und begann mit der Arbeit an seinem Antrag auf politisches Asyl. Davon hatte sie nicht sonderlich viel Ahnung, aber sie kannte den Westen wesentlich besser als ihr Chef, der seine Ausbildung in der Sowjetunion genossen hatte, und außerdem sprach sie perfekt Englisch. Der britische Asylanwalt, den sie engagiert hatte, hörte sich den Fall an, erkannte seine Ähnlichkeit mit dem Chodorkowskis und machte sie mit Bob Amsterdam bekannt. Daraufhin rief Bob Peter Sahlas in Paris an. Nach einem ersten Telefonat mit Bota fuhr Sahlas im Mai 2009 mit dem Eurostar-Zug nach London. Es war ein schöner, warmer Frühlingstag und er traf Bota in einem Restaurant in der Nähe des Buckingham Palace, das sie für diesen Zweck ausgesucht hatte. Er hatte zwar alle Hände voll zu tun, aber die Sache klang aufregend: eine Frau auf der Flucht vor dem Diktator Kasachstans.

Beim Essen erklärte sie Peter, wie die kasachischen Behörden, die Äbljasows Bank beschlagnahmt hatten, jetzt versuchten, die ganze Geschichte auf den Kopf zu stellen. Sie behaupteten nun, Äbljasow habe die BTA so gründlich ausgeplündert, dass sie nach Ausbruch der Finanzkrise kollabiert wäre, wenn sie nicht verstaatlicht worden wäre. Laut dieser Version der Geschichte war dieser gerissene Oligarch kein ganz gewöhnlicher Betrüger: Er war geradezu der Bernie Madoff der Steppe.

Peter erinnerte sich sofort an die ersten Schritte Putins gegen Chodorkowski. Ihm fiel wieder ein, wie das von Yukos beschäftigte britische Wirtschaftsprüfungsunternehmen PwC, ermutigt durch den Kreml, plötzlich zehn Jahre der Bilanzen des Unternehmens einfach für ungültig erklärt hatte. Genau dadurch konnte die Staatsanwaltschaft behaupten, Chodorkowski habe Beträge in Milliardenhöhe gestohlen. Natürlich war es richtig, dass sein Vermögen erst durch die äußerst fragwürdige Welle von Privatisierungen zustande gekommen war. Aber dasselbe galt auch für all seine Konkurrenten. Die Behörden brauchten einen Vorwurf, der nur auf ihn zutraf: den Oligarchen, der es gewagt hatte, Politik zu treiben. Indem sie die PwC dazu bewegten, Bilanzen, die sie zuvor für unbedenklich erklärt hatte, nachträglich wieder einzukassieren, schufen die Behörden Platz für eine alternative Realität.

Bald darauf kam Peter mit Bob Amsterdam zurück. Sie fuhren zum höchsten Turm der City, Tower 42; zwischen ihm und Nigel Wilkins’ BSI-Büro lag die Bank of England. Als sie mit dem ultraschnellen Aufzug nach oben sausten, war für sie noch immer offen, ob Äbljasows schuldig oder unschuldig war. Vielleicht war er just das, was seine Feinde behaupteten: ein Betrüger, der an Gier und Tücke kaum zu überbieten war. Peter wusste, dass in der Welt, in die er jetzt eintauchte, eine Schlacht um Informationen ausgefochten wurde: Jedes Wort konnte wahr und jedes Wort konnte gelogen sein; die durchtriebensten Geschichtenerzähler nahmen ein paar Wahrheiten und spannen sie zu einer großen Lüge aus. Hier konnte man der Person nur direkt in die Augen sehen und ein Charakterurteil fällen.

Der Aufzug stieg über die City hinauf, unweit der Mauer, die im Mittelalter deren Grenze gebildet hatte. Peter und Amsterdam stiegen aus und fanden sich in einem Büro wieder, das einem flippigen Start-up-Unternehmen hätte gehören können. Von der Decke hingen Drähte herab, während mitten auf dem Boden ein Stapel von Servern stand. Überall rannten Leute herum. Bota hieß die Besucher willkommen und ließ sie in einem durch eine Glastür und Glaswände abgetrennten Konferenzzimmer Platz nehmen.

Als Äbljasow erschien, trug er Hemd und Krawatte. Er konnte kein Englisch. Amsterdam hörte ihm über Dolmetscher zu, aber Peter konnte genügend Russisch, um selbst zu verstehen, was Äbljasow sagte. Dabei erkannte er rasch einen tiefen Geist, der sich sehr gut auszudrücken wusste. Dieser Mann hatte offensichtlich von Beginn an viel mitgemacht und durch eigene harte Erfahrungen viel gelernt. Äbljasow ging nun dazu über, von seinen jetzigen Problemen zu erzählen, aber Amsterdam stoppte ihn. »So machen wir das nicht«, sagte er. »Ich will alles über Sie wissen. Was ist Ihre erste Erinnerung?«

In den nächsten vier Tagen erzählte Äbljasow den Besuchern seine gesamte Lebensgeschichte. Er berichtete, wie er bei der Abschlussprüfung des Gymnasiums eine Goldmedaille gewonnen hatte, aber dass er sie erst abholen durfte, nachdem seine Eltern dem Schuldirektor ein Bestechungsgeld gezahlt hatten und von seiner Erinnerung daran, wie das Geld über den Tisch geschoben wurde. Er erzählte von seinem Interesse an Physik, besonders an unterirdischen Atomversuchen – ein emotionales Thema für die Bewohner seines Landes, unter dessen weiten Ebenen in der Sowjetunion zahlreiche solche Experimente durchgeführt worden waren. Seine Talente hätten es ihm eigentlich möglich machen müssen, nach Moskau zu gehen, wie er es sich gewünscht hätte, nachdem sein erstes Kind, die winzige Madina, im sowjetischen Almaty an einer Lungenentzündung erkrankt war. Aber den örtlichen Apparatschiks waren seine Ambitionen ein Dorn im Auge und so nahmen sie der Familie auch noch ihr kleines Zimmer weg, anstatt ihr zu helfen. Das war Ende der achtziger Jahre: Der Kapitalismus drang durch die Ritzen des Systems und mit ihm kamen wundersame Dinge wie Fotokopierer, Faxapparate und PCs. Äbljasow fand für all das Käufer und Verkäufer und als Mittelsmann kassierte er die Provision. Ein halbes Jahr später hatte er sich ein Haus gekauft. Schon bald verdiente er so viel Geld, dass er nicht mehr wusste, was er damit tun sollte. Die Frage, ob seine Aktivitäten illegal waren, stellte sich nicht: Es gab zu diesem Zeitpunkt noch gar keine Gesetze, die den Ablauf von Privatgeschäften regelten.

Dann endlich kam der Ruf eines Instituts in Moskau, die Chance zur Erfüllung seiner Träume von wissenschaftlicher Erkenntnis. Aber es war zu spät. Das Leben hatte ihm jetzt die Möglichkeit gegeben, Geschäfte zu machen. Die Zukunft war bis jetzt noch eine große Frage ohne Antwort; zunächst einmal würde er weitermachen und so viel Geld verdienen, wie er konnte. Er band seine Sippe in sein Unternehmen ein, das immer größer wurde und Geschäfte mit so gut wie jeder Ware machte. Er verlor sein ganzes Vermögen und gewann es in drei Monaten wieder zurück. Nachdem ein Schwindler ihm ein Kontingent von Äpfeln verkauft hatte, die bis auf die ganz oben verdorben waren, begann er, auf wasserdichten Verträgen zu beharren. Dann begannen die Privatisierungen – wenn man den Kapitalisten zuhörte, waren sie ein Beispiel für die Befreiung der vitalen Kräfte des neuen Unternehmertums von der lastenden Hand des Staates. Er tat sich mit einem Partner zusammen und kaufte eine Bank, die BTA. Er besaß jetzt mehrere Milliarden Dollar. Da er nunmehr eine der prominentesten Figuren des neuen Kasachstans war, wurde er auch Mitglied der Regierung und war dort als Energie-, Industrie- und Handelsminister für die Stromversorgung zuständig. Er war der Einzige, der es wagte, dem Präsidenten zu widersprechen und die ständige Vergabe von Posten an Verwandte Nasarbajews sowie die schleichende Etablierung von Strukturen, die er als »Klan-okratie« bezeichnete, zu kritisieren. Als er dann zurücktrat, zitierte Nasarbajew ihn zu sich. »Sie haben keine Achtung vor Ihrem Präsidenten«, schimpfte er. »Sie respektieren mich nicht einmal als Person, Sie sind nicht loyal.« Dann beruhigte er sich wieder und bat: »Kommen Sie zurück und arbeiten Sie für mich.« Äbljasow lehnte erneut ab. »Nun, in diesem Fall müssen Sie mir einen Anteil abtreten.« Sie würden fortan Partner sein. Der Präsident würde die Hälfte der BTA-Bank übernehmen. Das wäre dann eine Garantie gegen Illoyalität vonseiten Äbljasows, aber dieser gab nicht nach: Nein. Er wusste, dass es Veränderungen geben würde; er unterstütze sie und fand heraus, dass andere genauso dachten. Diese Reformer gründeten dann gemeinsam eine politische Partei, die Demokratische Wahl Kasachstans. Ihr angeblich so aufgeklärter Herrscher Nasarbajew ließ sie zerschlagen.

Im Gefangenenlager betrug die Außentemperatur 35 Grad minus. Diebe, deren Gaunerehre es ihnen untersagte, sich ihren Wärtern zu unterwerfen, schlitzten sich den Bauch mit Rasiermessern und Nägeln auf; Vergewaltiger, die einen schutzlos und allein antrafen, drohten damit, ihre Vaseline zu holen. Die Gefangenen wurden geschlagen, bis sie den Schmerz nicht mehr spürten. Es gab mich nicht mehr. Das hier war nur ein Körper. Aber ich war nicht in diesem Körper – ich stand irgendwo neben ihm. Nach all den Prügeln konnte er die Knie nicht mehr beugen und musste seine Notdurft im Stehen verrichten. Während Äbljasow sich im Lager befand, nahm Nasarbajew ihm alles weg, zum einen aus Gier, aber auch und sogar in erster Linie, um die politische Bedrohung zu eliminieren, die er für ein System darstellte, das nunmehr durch schmutziges Geld kontrolliert wurde. Alles – außer dem, was Äbljasow erfolgreich vor ihm verborgen hatte. Er hatte seine eigenen BTA-Anteile einem Partner anvertraut, der zwar gezwungen war, einen Teil davon an Nasarbajews Leute abzutreten, aber dem es dennoch gelungen war, den größten Teil zu behalten.

Nach fast einem Jahr in Lagern und Gefängnissen kam er schließlich durch eine Lüge frei. Er versprach Nasarbajew, er werde künftig nichts mehr für die Opposition tun. Er zog nach Moskau, schickte seine Kinder in den Westen und begann mit dem Wiederaufbau seiner Bank. Er stellte kluge junge Leute wie Bota ein. Sie verwandelten die BTA in eine richtige Bank, eine Bank westlichen Stils, die ihre Aktien bald in London an die Börse bringen können würde, wo sie vor dem raffgierigen Präsidenten geschützt sein würden. Wie Äbljasow nach seiner Rückkehr nach Kasachstan feststellen musste, war Nasarbajews Habsucht nicht geringer geworden. Äbljasows Anteile waren gut verborgen und gehörten jetzt der Witwe seines Partners, der bei einem Jagdunfall umgekommen war. Aber Nasarbajew zitierte Äbljasow wieder und wieder zu sich und verlangte immer wieder einen Anteil an der Bank – und mittlerweile handelte es sich nicht mehr nur um einen »Anteil«. Der Präsident wollte jetzt die Mehrheit und damit die Kontrolle. Und dafür sollte Äbljasow, wenn überhaupt etwas, sehr viel weniger als den Marktpreis von 4 Milliarden Dollar erhalten. Am 4. Januar 2006 erklärte Nasarbajew ihm im Präsidentenpalast von Astana unterhalb des Turms mit dem heiligen Ei des heiligen Vogels: »Ich habe Angst vor Ihnen und den Milliarden, die Sie gegen mich mobilisieren können; sie befinden sich in der Bank, die Sie kontrollieren, und daher müssen wir die Kontrolle über sie gemeinsam ausüben.« Nasarbajews Höflinge kamen mit Plänen zu Äbljasow, den Präsidenten zum Teilhaber zu machen, und seine Strohmänner und Spione arbeiteten an demselben Projekt. Am 23. Februar 2008, zu einem Zeitpunkt, als die kasachischen Banken ebenso wie die Banken überall in wachsender Gefahr waren, unterhielt sich Nasarbajew während eines gemeinsamen Aufenthalts der beiden Männer in Moskau mit Äbljasow. Dazu trafen sie sich an einem Ort, der einst den Mitgliedern des Zentralkomitees der KPdSU als Residenz gedient hatte und wo jetzt ein zwielichtiger Mittelsmann Nasarbajews wohnte. Der Präsident erklärte, dies sei seine letzte Warnung. Die umstrittenen BTA-Anteile müssten bis zum 1. April an den benannten Strohmann übergeben werden, ansonsten würde Äbljasow festgenommen und zu Haft verurteilt werden. Die Bank würde vom Staat beschlagnahmt werden. Äbljasow leistete noch weitere elf Monate Widerstand. Dann kam die Nacht des Schneesturms, in der sein Kontakt ihm durch sein Schweigen signalisierte, dass es an der Zeit war, zu fliehen.

Peter Sahlas glaubte Äbljasow. Die Vielfalt an Einzelheiten, die Spontaneität seiner Erzählung. Hier war ein Gleichgesinnter, der Unrecht nicht mochte. Als Äbljasow über seine ersten geschäftlichen Versuche berichtete, bei denen er Fotokopierer in einen Bus einlud, fühlte Peter sich an die stürmischen Tage im Russland der 1990er Jahre erinnert. Er konnte noch das Benzin riechen. Ich kannte diese Typen, dachte er, die diese Maschinen damals verscherbelt haben.

Jetzt hatte er das Gefühl, dass jeden Moment die Polizei im Tower 42 auftauchen könnte. Kasachstan hatte sicherlich eine Rote Notiz an Interpol herausgegeben, in der verlangt wurde, dass man Äbljasow verhaftete. Peter schrieb Seite um Seite mit Notizen voll. Er riet Äbljasow, zurückzuschlagen, und zwar hart. Klagen, Public Relations, Lobbyarbeit. Doch Äbljasow wollte lieber erst einmal vorsichtig sein. Er würde zunächst die Füße stillhalten, um zu sehen, wie weit Nasarbajews Arm im Westen reichte.

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