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12 Realität

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London, Mai 2010

Am 2. Mai 2010 wurde die Krise der Banken zu einer Krise der Staaten. Das Ungemach im Finanzsektor von 2008 hatte begonnen, die sogenannte »Realwirtschaft« in Mitleidenschaft zu ziehen, und damit auf der ganzen Welt zu Rezessionen geführt. Regierungen, die gewaltige Summen zur Rettung der Banken ausgegeben hatten, mussten nun feststellen, dass ihren Haushalten Steuereinnahmen fehlten, da die Unternehmen ihre Beschäftigten entließen oder gleich ganz die Tore schlossen. Staatsschulden, die vor der Krise nicht als nicht sonderlich großes Problem erschienen waren, erwiesen sich jetzt als nicht mehr rückzahlbar. Nach Verhandlungen, die sich ein ganzes Wochenende hinzogen, einigten sich die Führer Europas darauf, Griechenland 146 Milliarden Dollar zu leihen, um eine Staatspleite zu verhindern. Im Gegenzug stimmte die Regierung in Athen einer dramatischen Beschneidung der öffentlichen Ausgaben zu, um ihre Gläubiger besser bedienen zu können. Damit wurde ein Großteil der Griechen zu einem Leben in Not verdammt.

Dies war ganz offenbar die Stunde der Wahrheit. Nigel Wilkins war gerade 60 Jahre alt geworden. Endlich war für ihn die Zeit gekommen, seinen Schlag zu landen.

Nicht lange, nachdem er noch vor seinem Ausscheiden aus der BSI die Behörden kontaktiert hatte, hatte er einen Anruf vom Königlichen Finanzamt, Her Majesty’s Revenue and Customs (HMRC), bekommen. Er hatte angeboten, ins Büro der Behörde zu kommen, aber stattdessen bat man ihn nun, sich um 10 Uhr morgens vor der Filiale von WHSmith in der Nähe der U-Bahn-Station Hammersmith einzufinden. Dort sollte er nach einem Mann in Khaki-Jackett mit Khaki-Tasche Ausschau halten und ihm dann folgen. Nigel hatte genau das getan, hatte den Khaki-Mann erspäht und war ihm etwa eine Meile lang hinterhergegangen, bis er hörte, wie eine Stimme seinen Namen rief. Als er sich umdrehte, erblickte einen weiteren Mann, der ihn zu einem Hotel führte. »Wir haben das nur getan, um sicherzugehen, dass Ihnen niemand folgt«, erklärte ihm der Finanzbeamte.

Dann hatte Nigel vier Stunden lang mit ihm und seinem Begleiter gesprochen und ihnen eine Liste von BSI-Kunden übergeben. »Wir werden ab jetzt vermutlich keinen Kontakt mehr miteinander haben«, hatte der Beamte gesagt.

Danach öffnete Nigel jeden Tag gespannt die Zeitung, in der Hoffnung, dort zu lesen, dass die von ihm entlarvten Schweizer Banker und vielleicht auch ihre Kunden angeklagt worden waren. Entweder das, oder es könnte ihm wie anderen Whistleblowern, die Interna aus der Welt der Finanzgeheimnisse ausgeplaudert hatten, ein Unfall zustoßen. »Sie sind mächtiger als du«, hatte Charlotte ihn gewarnt, als er beschloss, den Kampf mit ihnen aufzunehmen: »Sie werden dich fertigmachen.« Sie wusste, dass es nicht Eitelkeit war, die ihn antrieb, obwohl es manchmal den Anschein hatte. Die Plünderer mochten sich ihre Geschichte so drehen, wie sie wollten, aber Nigel wusste, was er mit eigenen Augen gesehen hatte, wusste um die Papiere in seinen roten Schachteln: die Belege, die zeigten, woher das Geld gekommen war, wohin es geflossen war und wie man es getarnt hatte. Genau das war es, worauf Nigel insistierte: auf der Vergangenheit. Die Vergangenheit war Realität.

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