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9 Streng geheim

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London, April 2009

Am 2. April sollte Nigel Wilkins eigentlich vor dem unweit der Themse in Londons Gerichtsbezirk gelegenen Arbeitsgericht zu einer Anhörung erscheinen, bei der über seine Klage gegen die BSI wegen widerrechtlicher Entlassung verhandelt würde. Am selben Tag fungierte Premierminister Gordon Brown als Gastgeber der G20, der politischen Führer der zwanzig größten Wirtschaften der Welt. Sie waren zusammengekommen, um Steuergelder in Höhe von fünf Billionen Dollar – dem Äquivalent des Bruttoinlandsprodukts von Japan, der zweitgrößten Wirtschaft der Welt – bereitzustellen, um zu verhindern, dass die Krise der Banker das Leben von Milliarden von anderen Menschen mit sich in die Tiefe riss. Nigel hatte seine Abfindung bereits ausgezahlt bekommen. Die Gerichtsverhandlung wurde abgesagt, weil die Chefs der BSI drei Tage vorher zugestimmt hatten, die Summe auf 70 000 Dollar, das heißt auf mehr als die Hälfte seines Jahresgehalts, zu verdoppeln, woraufhin er seine Klage zurückgezogen hatte.

Bei alldem war es Nigel nicht ums Geld gegangen. Es ging darum, dass sie nicht mit der Behauptung durchkommen sollten, sie seien im Recht und er im Unrecht gewesen. In seinem Antrag hatte Nigel all die Techniken aufgelistet, die seine Kollegen zur Anonymisierung des Geldes ihrer Kunden verwendeten. Er sagte, ihm sei deswegen gekündigt worden, weil die Schweizer Banker an der Spitze der BSI alle Spuren der Aktivitäten ihrer Londoner Filiale verwischen wollten, bevor die Financial Services Authority, die die City beaufsichtigte, und Her Majesty’s Revenue and Customs, das heißt das Finanzamt, aufgrund der Krise zu schärferen Überwachungsmaßnahmen griffen.

Teil der Einigung war, dass Nigel sich unter Strafe der Rückgabe seiner Abfindung verpflichten musste, solche Behauptungen zu unterlassen. Aber Nigel hatte selbst Jura studiert und wusste, dass keinerlei Abkommen Vorrang vor dem Gesetz selbst hatte. Hier hatte er ein ganz bestimmtes Statut im Auge, nämlich den »Proceeds of Crime Act« von 2002. Paragraf 330 dieses Statuts (Nigel konnte etliche Paragrafen aus dem Gedächtnis zitieren) machte es zur Straftat, Kenntnis vom Vergehen der Geldwäsche zu haben und dieses nicht den zuständigen Stellen zu melden. Dabei musste man sich, um dieser Straftat schuldig zu sein, nicht einmal sicher sein, sondern lediglich »vernünftige Gründe für das Wissen oder den Verdacht« haben. Ferner hieß es in Paragraf 331, dem Kontrollbeamten, den alle Banken anstellen mussten, komme in dieser Hinsicht eine besondere Verantwortung zu. In der BSI war Nigel dieser Kontrollbeamte gewesen. Außerdem wusste Nigel im Unterschied zu seinen Ex-Kollegen in der Cheapside, dass die »Verpflichtung« auch deshalb ohne Bedeutung war, weil Nigel die FSA und das Finanzamt bereits ins Bild gesetzt hatte. Sechs Tage vor seinem letzten Arbeitstag bei der BSI hatte er Briefe dorthin geschickt, in denen er darlegte, was in der Londoner BSI-Filiale vor sich ging. Und er war bereit, seine Behauptungen mit dem Inhalt der drei roten Schachteln zu belegen, die sich jetzt in seiner Wohnung in Kensington befanden und auf die er von Hand »streng geheim« geschrieben hatte.

Im Zuge der Vorbereitungen der BSI, London zu verlassen, war Nigel aus seinem Einzelbüro in das Großraumbüro verlegt worden, in dem die Privatbanker und ihre Sekretäre arbeiteten. Die Banker waren offenbar überzeugt, ihr Büro, vielleicht sogar die ganze Cheap­side oder die gesamte City of London, durch einen Schweigekodex geschützt seien, und hatten überall auf ihren Schreibtischen Papiere herumliegen lassen. Nigel hatte begonnen, abends, wenn die anderen das Büro verließen, um in Champagnerbars zu gehen oder zum Flughafen zu fahren, in diesen Dokumenten zu wühlen. Bald fing er an, Fotokopien zu machen und diese mit nach Hause zu nehmen. Allmählich machte er sich Gedanken, was passieren würde, wenn man ihn erwischte. Dabei dachte er nicht nur an die Sanktionen durch seine Vorgesetzten, sondern auch an die Wut der Kunden, die ihr Geld so eifersüchtig hüteten. Trotzdem machte er immer weiter und erzählte niemandem davon, nicht einmal Charlotte.

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