Читать книгу 'Alle wollen den Krieg von Dir' - Ton Jansen - Страница 11
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Es gibt wahrscheinlich nur wenige Menschen die klar erkennen welche wichtige Bedeutung der russischen Mobilisation beigemessen werden muss für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Infolge dieser Maßnahme entartete der Konflikt zwischen Österreich-Ungarn und Serbien, der im Prinzip nur diese beiden Staaten anging und sich ohne Russlands Beteiligung höchstens auf eine Scharmützel zwischen ihnen beschränkt geblieben hätte, nämlich in einen europäischen Krieg. Denn dadurch, dass Russland seine riesige Armee mobilisierte, sahen sowohl Deutschland als Österreich-Ungarn sich genötigt dasselbe zu tun, aus dem einfachen Grunde, dass kein einziges Land sich ein bis an die Zähne bewaffnetes feindliches Heer an seinen Grenzen erlauben kann. Die Mobilisation Deutschlands und Österreich-Ungarns führte jedoch unwiderruflich die Mobilisation Frankreichs herbei, nicht nur wegen der existierenden Militärkonvention mit Russland von 1892-18941, sondern auch weil Frankreich sich genausowenig wie Deutschland und Österreich-Ungarn ein kampfbereites Heer an seinen Grenzen erlauben konnte ohne auch selbst seine Truppen in Bereitschaft zu versetzen.
Hätte Russland sich jedoch abseits gehalten und seine Armee nicht mobilisiert, dann hätte auch Deutschland das sicherlich nicht getan, weil es dann überhaupt keine Notwendigkeit dazu gegeben hätte. In dem Fall hätten auch Frankreich und England ihre Streitkräfte nicht mobilisiert, denn beide Länder trauten sich nicht ohne Russlands Unterstützung einen Krieg mit Deutschland zu beginnen. Obendrein wollten sie um jeden Preis den Anschein vermeiden den Krieg entfesselt zu haben. Für Österreich-Ungarn lag die Sache etwas anders: dieses Land wäre auch ohne die russische Mobilisation zwar wohl zur Mobilisation übergegangen, wie das tatsächlich schon am 15./28. Juli 1914 geschah, aber dabei handelte es sich um eine, nur gegen Serbien gerichtete Teilmobilisation von acht Armeekorps, einzig mit der Absicht um der ‘Räuberbande’ mal eine tüchtige Lektion zu erteilen. Einen Krieg gegen Russland, geschweige denn gegen Russland, Frankreich und England zusammen, wünschte sich damals aber keiner in Österreich-Ungarn.
Kurz gesagt: die russische Mobilisation löste eine Kettenreaktion aus, wodurch zuletzt alle europäischen Großmächte auf dem Kontinent zu den Waffen griffen. Nur Englands Haltung schien bis zum allerletzten Augenblick unklar; wer jedoch wusste, was sich in den vorangegangenen Jahren hinter den Kulissen abgespielt hatte, konnte nicht daran zweifeln, dass auch dieses Land sich in den Streit mischen würde, und zwar an Seiten Frankreichs und Russlands.2 So bedeutete Russlands Mobilisation, wie schon viele Autoren betont haben3, faktisch Krieg.
Der Mann von dem das alles abhing, war Nikolaus II., der russische Zar. Die Frage, ob es zu einem Krieg kommen würde oder nicht, lag in seinen Händen: als autokratischer Herrscher musste er in letzter Instanz ganz alleine über die Mobilisation und damit auch über den Krieg entscheiden. Eine Verantwortung die schwer auf ihm lastete und vor der er tief in seiner Seele zurückschreckte. Selbstverständlich wurde er von allen Seiten unter Druck gesetzt: von seinen Ministern; von seinen Verwandten; von den Botschaftern der wichtigsten europäischen Großmächte; von seinem kaiserlichen ‘Cousin’ Wilhelm II. und seinem königlichen Cousin Georg V.; und nicht an letzter Stelle von seiner Gemahlin Alexandra. Alle diese Menschen versuchten den Zaren auf irgendeine Weise von ihrem Standpunkt zu überzeugen und ihn wohl oder nicht zum Krieg zu veranlassen. Mit einer wankelmütigen Natur behaftet wurde Nikolaus innerlich von diesen widersprüchlichen Meinungen zerrissen, wodurch er bald zum einen, bald zum anderen Standpunkt neigte. Dabei zögerte er die endgültige Entscheidung so lange wie möglich hinaus.
In dieser Situation hätte die Meinung eines Mannes den Ausschlag geben können, ein Mann, dessen Name jeder wohl kennt, der aber von fast niemandem in Zusammenhang gebracht wird mit dem Entstehen des Ersten Weltkrieges. Dieser Mann war Grigori Jefimowitsch Rasputin-Nowy, besser bekannt als Rasputin, der mysteriöse ‘Starez’, der einen ungeheuren Einfluss hatte auf den Zaren und vor allem auf die Zarin. In der Kakophonie von Stimmen hätte seine Meinung, zusammen mit der der Zarin, den Zeiger der Waage wohl auf die Seite des Friedens ausschlagen lassen können. Ein Szenario das von einigen Menschen in der Umgebung des Zaren besonders gefürchtet wurde.
Zwei Wochen nachdem in Sarajevo die verhängnisvollen Schüsse ertönten, die ein Ende machten am Leben des österreichischen Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand und seiner Gemahlin Sophie, fand tausende von Kilometern entfernt ein zweites Attentat statt: am Sonntag, dem 28.Juni/12. Juli 1914, um drei Uhr nachmittags, flitzte im grellen Sonnenlicht in Rasputins sibirischen Geburtsort Pokrowskoje ein Dolch, der ihn im Bauch traf. Die Täterin, eine 33-jährige Frau, wurde sofort ergriffen. Sie habe Rasputin töten wollen, so erklärte sie der Polizei gegenüber, weil er in ihren Augen ein falscher Prophet sei, der die Menschen in die Irre führe.
Wie durch ein Wunder überlebte Rasputin den Anschlag. Er musste jedoch wochenlang das Bett hüten und war deshalb nicht in Sankt Petersburg während der ‘heißen’ Julitage, die dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges vorangingen. Zufall? Oder steckte vielleicht mehr hinter diesem Anschlag? War es gewissen Leuten vielleicht sehr willkommen, dass Rasputin im entscheidenden Augenblick nicht in der Nähe des Zaren war und keinen direkten Einfluss auf ihn ausüben konnte?! Hatten sie deshalb wohl beschlossen um ihn sozusagen ‘aus dem Weg zu räumen’, vorläufig oder auf immer? Anders gesagt: War die Hand von Chionija Gussewa vielleicht nur das Werkzeug anderer Leute, denen es persönlich wichtig war, dass Rasputin von der Bühne verschwand?
Es ist diese Frage, die in diesem Buch zentral steht. Die Antwort darf man wohl überraschend nennen. Denn die Untersuchungen nach dem wahren Sachverhalt des Attentats vom 29. Juni/12. Juli 1914 führen uns nicht nur zu hohen Amtsträgern innerhalb der russischen Regierung, sondern auch zu bestimmten Angehörigen der großen Romanowfamilie in der direkten Umgebung des Zaren. Und vielleicht noch weiter. Gleichzeitig werfen diese Untersuchungen ein ganz neues Licht auf das Ausbrechen des Ersten Weltkrieges, weil die Ereignisse deutlich zeigen, dass es in Russland eine ‘Kriegspartei’ gab, die zielbewusst auf einen Krieg zusteuerte. Allein schon diese Tatsache an und für sich macht die eingebürgerte Auffassung, dass Deutschland (und sein Verbündeter Österreich-Ungarn) ‘alleinschuldig’ sei am Entstehen des Ersten Weltkrieges, unhaltbar.4
So werden in diesem Buch zwei ‘Mythen’ entkräftet: die Mythe, dass Rasputin ein ‘leibhaftiger Teufel’ sei, der mit seinem verhängnisvollen Einfluss auf den Zaren das russische Reich zugrunde gerichtet habe; und die Mythe, dass Deutschland der Urheber des Ersten Weltkrieges war. In beiden Fällen trifft genau das Gegenteil zu. Denn nicht die Tatsache, dass der Zar auf Rasputin hörte, sondern eben gerade, dass er das im entscheidenden Augenblick nicht tat, hat zum Untergang des russischen Reiches geführt. Ohne den Ersten Weltkrieg, wozu Russland nicht ausreichend vorbereitet war, und den das russische Volk nicht verstand, hätte der bolschewistische Umsturz wahrscheinlich niemals stattgefunden. So wäre der Menschheit, und namentlich dem russischen Volk, unsagbares Leid erspart geblieben, wenn der Zar Rasputins weisen Rat nicht in den Wind geschlagen hätte.5 Andererseits war – wie deutlich aus diesem Buch hervorgeht – das damalige Deutschland eher ein Opfer bestimmter feindlicher Mächte als der kriegslüsterne Aggressor den man aus ihm gemacht hat.
Trotz der Tatsache, dass die Unwahrheit dieser beiden Mythen schon längst von vielen Historikern aufgezeigt wurde, finden diese immer noch weitverbreiteten Beifall und bestimmen sie weitgehend das Denken vieler Menschen und damit auch ihre Handlungsweise, wenngleich man sich dessen meistens nicht bewusst ist. Dadurch besteht die Gefahr, dass die Geschichte sich wiederholt. Denn nur ein richtiges Verständnis der Vergangenheit kann uns helfen um die begangenen Fehler zu vermeiden und die Herausforderungen der Gegenwart zu meistern. Zu diesem richtigen Verständnis einen Beitrag zu liefern ist die Absicht dieses Buches. Insofern das gelungen ist, hat es seinen Zweck erfüllt.
Bei alledem ist versucht worden keinen trockenen Tatsachenbericht zu erstellen, sondern die Ereignisse auf so eine Art zu beschreiben, dass der Leser die Geschichte sozusagen ‘mit glühenden Wangen’ liest. Denn wie tragisch sie auch waren, die Ereignisse des ‘heißen’ Sommers 1914 bleiben faszinierend, auch wenn es dieser Tage fast hundert Jahre her ist, dass der große europäische Völkerstreit entbrannte. Vielleicht, weil sie so viel über die Gegenwart und die Zukunft aussagen!
Bergen op Zoom, 1. Juli 2014 | Ton Jansen |