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Die Würfel fallen

‘Dieser Krieg ist das großte Verbrechen gegen die Menschheit, das jemals verübt worden ist. Die hieran Schuldigen tragen eine furchtbare Verantwortung, und gegenwärtig sind sie schon hinreichend entlarvt.’‡

‘Ich sehe voraus’, klagte Zar Nikolaus II. in der Nacht vom 15./28. zum 16./29. Juli seinem fast zehn Jahre älteren ‘Cousin’, dem deutschen Kaiser Wilhelm II. seine Not, ‘dass ich sehr bald dem auf mich ausgeübten Druck erliegen und gezwungen sein werde, äußerste Maßnahmen zu ergreifen, die zum Kriege führen werden’.65 Sein Vorgefühl war richtig: noch keine 24 Stunden später erlag er tatsächlich dem, vor allem von Außenminister Sasonow und Generalstabschef Januschkewitsch auf ihn ausgeübten Druck und willigte er in die Verkündung der Generalmobilmachung ein. Um dann etwa zwei oder drei Stunden später seine Zustimmung wieder einzuziehen.

Was, so können wir uns fragen, mag den Zaren zu diesem unerwarteten Schritt veranlasst haben? Warum zog er den Mobilmachungsbefehl so schnell wieder ein, noch bevor die Tinte sozusagen trocken war? Was war geschehen?

Später hat sich herausgestellt, dass die veränderte Ansicht des Zaren veranlasst worden war durch ein Telegramm des deutschen Kaisers Wilhelm II., das Nikolaus kurz zuvor empfangen hatte.66 Dadurch, dass Wilhelm in diesem Telegramm angab, dass er seine Bemühungen fortsetze um eine direkte Verständigung zwischen Sankt Petersburg und Wien zu fördern, war bei Nikolaus die Hoffnung auf eine friedliche Lösung des Konflikts wieder lebendig geworden.67

Nachdem er das Telegramm gelesen hatte, rief der Zar sofort seinen treuen Hofmarschall, den Grafen Wladimir Freedericksz, herbei und legte ihm seinen Zweifel vor. Dieser nahm kein Blatt vor den Mund und erklärte ungeschminkt, dass die allgemeine Mobilisation ‘eine nicht wiedergutzumachende Tat war, die den Krieg herbeiführen würde’. Worauf der Zar äußerst erregt ausrief: ‘Alles mögliche muss getan werden, um den Frieden zu retten. Ich möchte nicht für ein gewaltiges Blutbad verantwortlich sein!’ Nach einigen Minuten der Stille sagte er schließlich, dass er den Befehl für die allgemeine Mobilisation einziehen würde.68 Den Worten die Tat folgen lassend, nahm er darauf das Telefon, um seine Entscheidung dem Kriegsminister Suchomlinow und dem Generalstabschef Januschkewitsch mitzuteilen.69

Da wo die beiden Minister und der Chef des Generalstabes zuvor Nikolaus’ Entschluss zur Durchführung der Generalmobilmachung ‘mit Begeisterung’ begrüßt hatten, bemächtigte sich jetzt Entsetzen, um nicht zu sagen Verzweiflung ihrer. Hinter dem Rücken des Zaren war ja die Generalmobilmachung schon längst in Gang gesetzt worden70 und Umstellung auf die Teilmobilmachung würde sicherlich in ein gewaltiges Chaos entarten.71

Was jetzt? Nach schleunigster Beratung wurde beschlossen, die Aufhebung des Befehls ‘als Missverständnis zu deklarieren, als Fehler, der bald korrigiert würde’.72 Bis auf Weiteres waren die drei Verschwörer aber machtlos und mussten sie sich vor des Zaren Willen beugen.73 So wurde anstelle des Aufrufs zur Generalmobilmachung gegen Mitternacht das Telegramm zur Bekanntmachung der Teilmobilmachung versandt, wobei der 17./30. Juli als erster Tag der Mobilmachung galt.74

Am nächsten Morgen, Donnerstag dem 17./30. Juli, trafen Sasonow, Januschkewitsch und Suchomlinow sich gegen elf Uhr, um die neue Lage zu besprechen. Dabei wurde übereingekommen den Zaren zu überreden den ‘Fehler’ zu ‘korrigieren’, indem man ihn auf die Gefahren einer Teilmobilmachung wies.75

Gesagt, getan. Der Zar wurde angerufen, aber dieser reagierte äußerst störrisch und weigerte sich ganz entschieden um auf seinen Beschluss, die Mobilmachung aufzuheben, zurückzukommen. Schließlich erklärte er kurz und bündig, dass er das Gespräch abbreche. Gerade noch rechtzeitig wusste Januschkewitsch, der in diesem Augenblick das Hörrohr in der Hand hielt, Nikolaus mitzuteilen, dass Sasonow ebenfalls zugegen war und um die Erlaubnis bitte dem Zaren einige Worte sagen zu dürfen.76

Nach einer Zeitlang Schweigen erklärte der Zar sich einverstanden den Minister anzuhören. Darauf nahm Sasonow den Hörer und bat Nikolaus dringend ihn noch am selben Tag zu empfangen, damit er ihm seine Ansicht über den allgemeinen politischen Zustand darlegen könne. Dies, so behauptete Sasonow, dulde keinen Aufschub. Einen Augenblick blieb es wiederum still am anderen Ende des Apparats. Dann antwortete der Zar, dass er ihn am Nachmittag um drei Uhr empfangen werde, gemeinsam mit seinem persönlichen Abgesandten am Hof des deutschen Kaisers in Berlin, Generalmajor Ilja Tatischtschew.77

Gegen zwei Uhr nachmittags machte Sasonow sich auf den Weg zum kaiserlichen Palast in Peterhof.78 Während der Unterredung mit dem Zaren, die beinahe eine Stunde dauerte und wobei auch Nikolaus’ persönlicher Gesandter am Hof des deutschen Kaisers Wilhelm II. in Berlin, Graf Ilja Tatischtschew, zugegen war79, warf Sasonow sein ganzes Gewicht in die Waagschale und setzte Nikolaus unter großen Druck. Dabei äußerte er zuerst seine Meinung, dass der Krieg unvermeidlich geworden sei. Aus allem war ja zu ersehen, dass Deutschland entschlossen sei, es zu einem Zusammenstoß kommen zu lassen, denn sonst hätte es nicht alle Versöhnungsvorschläge, sowohl von Sasonow selbst als vom britischen Außenminister Grey, abgelehnt80, anstatt seinen Verbündeten Österreich-Ungarn zur Vernunft zu bringen, was es mit Leichtigkeit hätte tun können.81

Zur heiklen Frage der Generalmobilmachung übergehend, teilte Sasonow dem Zaren seine Ansicht – und die des Kriegsministers Suchomlinow und des Generalstabschefs Januschkewitsch – mit, dass ein weiterer Aufschub derselben äußerst gefährlich sei. Denn ‘nach den Nachrichten, in deren Besitz sie seien, sei die deutsche Mobilmachung, obwohl sie noch nicht offiziell erklärt worden sei, trotzdem bereits erheblich vorgeschritten’.82 Angesichts dieser – völlig eingebildeten – Gefahr83, so fuhr Sasonow fort, bleibe dem Zaren ‘nichts anderes übrig als der Befehl, zur allgemeinen Mobilmachung zu schreiten’.84 So suchte Sasonow mit allerlei halben und ganzen Erdichtungen85 den Zaren zur Unterschreibung des Mobilmachungsbefehls zu überreden. Der alte Fuchs hatte seine Schliche deutlich noch nicht verlernt!

Offensichtlich von einem schrecklichen inneren Kampf gequält erhob der Zar dauernd Einwände. Endlich sagte er, mit einer Stimme, aus der eine tiefe Erregung hervorklang: ‘Das heißt, Hunderttausende von Russen dem Tode weihen. Wie soll man vor einem solchen Entschluss nicht zurückschrecken?’ Mit allen Wassern gewaschen erwiderte Sasonow, dass die Verantwortung für die kostbaren Leben, die der Krieg hinraffen werde, nicht auf dem Zaren ruhen werde. ‘Er habe’, so versicherte Sasonow dem leichenblassen Nikolaus, ‘diesen Krieg nicht gewollt, weder er selbst, noch seine Regierung’, und habe ‘alles getan, um ihn zu vermeiden’. Er könne sich also, so fuhr er fort, ‘mit dem vollen Bewusstsein seiner innerlichen Rechtfertigung sagen, dass sein Gewissen rein sei, und dass er weder vor Gott noch vor dem eigenen Gewissen, noch vor den kommenden Geschlechtern des russischen Volkes, das Blutvergießen werde verantworten müssen, das der furchtbare Krieg mit sich bringen werde, der Russland und ganz Europa aufgedrängt werde durch den bösen Willen der Feinde’.86 Der Diener der seinem Herren die Absolution erteilt! Gewiss ein seltsamer Anblick!

Schließlich konnte der Zar dem Druck Sasonows nicht widerstehen und kapitulierte: nach einer langen Zeit des Stillschweigens sagte er zu Sasonow: ‘Sie haben recht. Uns bleibt nichts anderes zu tun übrig, als den Angriff abzuwarten. Übermitteln Sie dem Generalstabschef meinen Befehl zur Mobilmachung’.87 Sasonow hatte gesiegt! Die Würfel waren gefallen!

Eine gewaltige Erleichterung bemächtigte sich Sasonows. Mit Zustimmung des Zaren rief er noch im Palast den Stabschef Januschkewitsch an und teilte ihm telefonisch die Einwilligung des Zaren zur Generalmobilmachung mit. ‘Jetzt können sie das Telephon zerbrechen’, so beendete er das Gespräch.88 Damit bezog er sich auf was Januschkewitsch ihm am Morgen vor seiner Abfahrt nach Peterhof gesagt hatte, nämlich, dass er, Januschkewitsch, sobald er von Sasonow den erlösenden Bericht aus Peterhof empfangen haben würde, unverzüglich zusätzliche Befehle erteilen würde um die Teilmobilmachung durch die Generalmobilmachung zu ersetzen.89 ‘Und dann’, so hatte Januschkewitsch hinzugefügt, ‘werde ich fortgehen, mein Telefon zerschlagen und überhaupt alle Maßnahmen ergreifen, damit es auf keine Weise möglich sein wird, mich aufzufinden, um mir entgegengesetzte Befehle im Sinne einer neuen Aufhebung der allgemeinen Mobilmachung zu übermitteln’.

Die List gelang, denn dieses Mal wurde der Befehl nicht widerrufen: noch am selben Tag, Donnerstag dem 17./30.Juli, wenige Minuten nach sechs Uhr, während im Saale des Telegrafenamtes eine absolute Stille herrschte, fingen auf einmal, wie bei Zauberschlag, alle Telegrafenapparate gleichzeitig an zu klappern. Die große Stunde hatte geschlagen: die Telegramme bezüglich der Generalmobilmachung der russischen Armee und der Flotte wurden in alle Ecken und Winkel des ausgestreckten Reiches versandt.90 Nun gab es keinen Weg mehr zurück: der allgemeine europäische Krieg war unwiderruflich Tatsache!

So ‘rutschte Russland auf tragische Weise in was die schrecklichste Feuersbrunst in der Geschichte der Menschheit bis zu dem Zeitpunkt wurde’.91 Ein ‘Brand’, der der Welt unsagbares Leid bringen und viele Millionen Menschenleben fordern würde. Und überdies Russland mit einem verheerenden Bürgerkrieg und 72 Jahren bolschewistischen Terrors aufhalste.

Unvermeidlich, wie viele Historiker meinen?92 Oder wäre vielleicht doch, trotz allem, eine friedliche Lösung möglich gewesen, wie viele sich erhofft hatten? War der Krieg, trotz der zwingenden Kraft der Bündnisse und der militärischen Szenarien, vielleicht doch Menschenwerk und keine eiserne Notwendigkeit? Mit anderen Worten: wäre es vielleicht doch möglich gewesen um den Ereignissen einen anderen Verlauf zu verleihen, wenn die betreffenden Machthaber, insbesondere der russische Zar, im entscheidenden Augenblick anders gehandelt hätten oder wenn in den turbulenten Julitagen andere Leute am Ruder gestanden hätten? Wer kann es sagen?! Wie manche Leute behaupteten, gab es in ganz Russland nur eine einzige Person die in dem Moment noch einen allgemeinen Krieg hätte vermeiden können: Rasputin, der mysteriöse ‘Bauer-Mönch’ aus Sibirien! Dieser befand sich jedoch weit weg: in einem Krankenhaus in der sibirischen Stadt Tjumen …

Rede Sasonows in der Reichsduma am 22. Februar/6. März 1916 (Sasonoff, Kap. IX, S. 187).

'Alle wollen den Krieg von Dir'

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