Читать книгу 'Alle wollen den Krieg von Dir' - Ton Jansen - Страница 17
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Frieden, Land und Brot’
Während in allen europäischen Regierungszentren fieberhaft über die Krise, die nach dem Mord in Sarajevo entstanden war, beratschlagt wurde, genas Rasputin im Krankenhaus von Tjumen von seinen Verwundungen. Er sah dabei aber nicht tatenlos zu. Sobald er im weit entfernten Sibirien von den Kriegsplänen gehört hatte, bombardierte er den Zaren mit Telegrammen, um ihn von der Teilnahme am drohenden europäischen Krieg abzuhalten. Nach eigenen Angaben sandte er dem Zaren etwa zwanzig Telegramme über dieses Thema, worunter eines das ‘sehr ernst’ war.128 Außerdem schrieb er dem Zaren Ende Juli (n. St.) einen Brief, worin er ihn nachdrücklich vor dem herannahenden Krieg und dessen verheerenden Folgen warnte:
‘Lieber Freund, ich sage es abermals: eine bedrohliche Wolke [schwebt] über Russland. Unglück, viel Leid, es ist dunkel und kein Licht dringt durch. Ein unendliches Meer von Tränen, und auch von Blut? Was soll ich sagen? Es gibt keine Worte, der Schrecken ist unbeschreiblich. Ich weiß, alle wollen den Krieg von dir, auch die Treuen, nicht wissend, dass er den Untergang bedeutet. Schwer ist die Strafe Gottes: wenn Er den Verstand wegnimmt, ist das der Beginn des Endes. Du bist der Zar, der Vater des Volkes, lass nicht die Toren triumphieren und sich und das Volk zugrunde richten. Angenommen, dass sie Deutschland besiegen – was wird aus Russland? Man muss bedenken, dass alles anders sein kann, als man es sich vorstellt. Seit Menschengedenken gab es kein bittereres Leiden, alles wird in Blut untergehen. Massenhaftes Sterben, unendlicher Kummer. Grigori.129
Eine ‘erschreckend richtige Prophezeiung’130, die sich nicht viel später tatsächlich bewahrheiten sollte, nicht nur wegen des Ersten Weltkrieges, sondern auch wegen dem bolschewistischen Terror, der Russland 1917 infolge des Ersten Weltkrieges in den Griff bekam und Land und Volk 72 Jahre lang geißelte.
Abgesehen von diesem visionären Zukunftsbild hatte Rasputin auch ganz alltägliche, nüchterne Gründe um vor dem Krieg zu warnen, Gründe die deutlich auf der Hand lagen, aber dennoch nur von Wenigen eingesehen wurden. Es hat wirklich den Anschein, als ob die Leute – wie Rasputin in seinem Brief an den Zaren schrieb – den Verstand verloren hätten. Rasputin selbst dagegen verfügte in hohem Maße über das, was man ‘gesunden Verstand’ nennt, während er außerdem dank der endlosen Wanderfahrten, die er in seinen jungen Jahren durch ganz Russland gemacht hatte, und dank seinen späteren Kontakten in den höheren Kreisen eine tiefe Einsicht in alle Schichten der russischen Gesellschaft besaß. Darüber waren Freund und Feind sich einig.131 So rühmte zum Beispiel sein unerbitterlicher Feind Michail Rodsjanko, der Vorsitzende der Duma, Rasputins ‘außergewöhnlichen, wissbegierigen Verstand’, währenddem der Ministerpräsident, Wladimir Kokowzow, auch kein Freund Rasputins, erklärte, dass er auf Fragen über das Bauernleben ‘einfach, vernünftig und klug’ antwortete.132 Und der Unterminister des Inneren, als solcher auch Chef der Polizei, Generalleutnant Pawel Kurlow, erzählte, wie er getroffen wurde von Rasputins ‘gesundem Verstand und seiner Fähigkeit, sich zurechtzufinden in aktuellen Fragen, sogar die von staatlicher Art’.133 Doktor Pjotr Badmajew, der listige ‘Kräuterdoktor’, der eine recht zweideutige Rolle spielte in Rasputins Leben, nannte ihn einen ‘klugen, wenngleich einfachen Bauern’, der aber, trotz seiner mangelnden Bildung‚ ‘die Dinge besser verstand als die Gebildeten’.134 Rasputin war also gar nicht so dumm wie manche uns glauben lassen wollen! Unerschrocken und abhold von allen Konventionen, hielt er obendrein seine Meinung nicht hinter dem Berg zurück, wen auch immer er gegenüber sich hatte.
Einmal, während einer Unterredung mit dem Zaren, hatte Rasputin mit der Faust auf den Tisch geschlagen und seinen Gesprächspartner gefragt wo er das fühle, in seinem Kopf oder in seinem Herzen. ‘In meinem Herzen natürlich’, antwortete der Zar. Worauf Rasputin ihm deutlich machte, dass man auf diese Weise auch Beschlüsse fassen sollte: ‘Du musst dein Herz fragen und nicht deinen Kopf!’135 Hätte der Zar diesen weisen Rat im Juli 1914 befolgt, dann wäre wohl alles anders gelaufen.136 Jetzt aber verhallte die Stimme Rasputins wie die eines Rufenden in der Wüste.
Der Balkan, so meinte Rasputin, war überhaupt ‘keinen Krieg wert’.137 Außerdem würde ein Krieg, für den Russland in dem Moment ‘noch lange nicht bereit war’138, das Volk nur ins Elend stürzen. Wie wahr! Denn als der Krieg einmal Tatsache war, hatten die Menschen in den Städten schon bald nicht genug zu essen und konnten sie ihre Häuser nicht anständig heizen, währenddem die Soldaten in der Armee an fast allem Mangel litten: Uniformen und Stiefel; Gewehre, Kugeln und Granaten; motorisierte Fahrzeuge, Flugzeugzubehör, Telefon- und Telegrafenapparatur, und so weiter und so fort. Wobei sich manchmal zehn Mann ein Gewehr teilen mussten! Kein Wunder, dass die Verluste an Material und Menschenleben auf dem Schlagfeld gigantisch waren!139 Und das alles für einen Krieg, den das Volk gar nicht verstand und wobei es nichts zu gewinnen hatte! Infolge all dieser Missstände sank die Moral der Truppen immer tiefer, je länger der Krieg dauerte, sodass die Soldaten zuletzt zu Tausenden desertierten.140 Rasputin sah das alles voraus und wollte Russland vor dieser Katastrophe behüten. So war es vor allem seine Liebe fürs Volk, die ihm eingab um gegen den Krieg zu sein. ‘Er ging aus dem Volk hervor, kannte das Volk, liebte es und setzte sich für den einfachen, scheuen Bauern ein’, sagte Iwan Tschurikow, wie Rasputin selbst ein Bauer der aus dem dem Volke hervorgegangen war, über ihn.141
Dank der Abschaffung der Leibeigenschaft durch den ‘Zar-Befreier’ Alexander II. waren die russische Bauern zwar befreit worden, aber damit war ihr Elend noch nicht vorbei. In anderer Form wurde die Ausbeutung von den Grundherren nämlich einfach fortgesetzt, währenddessen die Bauern der örtlichen Dorfsgemeinschaft (‘Mir’) in vielen Fällen noch jahrelang Abfindungssummen bezahlen mussten, als Kompensation für den enteigneten Boden. Weiter auferlegte die Regierung ihnen am Ende des neunzehnten und Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts auch noch schwere Steuern zur Finanzierung der schnell wachsenden Industrialisierung, währenddem gleichzeitig riesige Mengen Getreide exportiert wurden, was steigende Brotpreise nach sich zog.142 Außerdem war, unter anderem des enormen Bevölkerungsanwuchses wegen, ein enormer ‘Landhunger’ entstanden. Während das Land also in hohem Tempo industrialisierte und die Volkswirtschaft pfeilschnell wuchs, litten die Produzenten von Brotgetreide selbst Hunger. Durch den Krieg sollten all diese Probleme noch drückender werden.
Rasputin teilte die Auffassung der Bauern, dass das Land denen gehören musste, die es bearbeiteten. Unzufrieden darüber, dass die Duma die Landfrage nicht zu Gunsten der Bauern zu lösen vermochte, unterstützte Rasputin am Vorabend der Revolution den Plan, der eine gezwungene Enteignung der Gutsbesitzer beantragte.143
Die Geschichte sollte Rasputin in diesem Fall Recht geben: einige Jahre später wussten die Bolschewiken, namentlich dank der Losung ‘Frieden, Land und Brot’, das Volk für sich zu gewinnen, sodass sie die Macht ergreifen konnten.144 Der große Unterschied zwischen Rasputin und den Bolschewiken besteht aber darin, dass Rasputin kein Verfechter eines Klassenstreites und gewalttätiger Reformen war, ganz im Gegenteil, er befürwortete den ‘Klassenfrieden’. So sagte er zum Beispiel: ‘Die eine Partei macht Konzessionen und dann die andere auch – auf diese Weise stiftet man Frieden unter dem Volke. […] Gewalt soll es nicht geben. Man muss es anständig bitten’.145
Der Weg der Gewalt war also bestimmt nicht Rasputins Weg. Ohne gleich einen ‘Pazifisten’ aus ihm zu machen, wie zum Beispiel Lew Tolstoi, denn dazu war er viel zu realistisch, war Rasputin im Allgemeinen ein Gegner des Krieges, eine Auswirkung seiner christlichen Lebenshaltung. ‘Krieg ist eine üble Sache’, sagte er Anfang 1913 zu dem Reporter D. Rasumowski, ‘und, statt Demut zu üben, marschieren die Christen geradewegs auf ihn zu. […] Es lohnt sich nie, in den Krieg zu ziehen, einander vom Leben und von den Segnungen des Lebens zu berauben, das Gesetz Christi zu brechen und die eigene Seele vorzeitig abzutöten. Was wird aus mir, wenn ich dich besiege, dich unterwerfe? Ich muss danach stets vor dir auf der Hut sein und dich fürchten, und du wirst in jedem Fall gegen mich sein. So wird es sein, wenn ich das Schwert zur Hand nehme. Aber durch die Liebe von Christus werde ich dich für immer für mich gewinnen und nichts zu fürchten haben’.146
Bei dem allem war Rasputin der Meinung, dass der Krieg den Zusammenbruch des Zarismus herbeiführen würde. ‘Er sagte oft zu Ihren Majestäten’, Zar Nikolaus und seiner Frau Alexandra, erzählte Alexandras Hofdame und gleichzeitig ihre Busenfreundin, Anna Wyrubowa, später, ‘dass im Falle eines Krieges alles zu Ende sein würde für Russland und für sie’.147 ‘Lass die andere Völker, die Deutschen, die Türken, sich gegenseitig bekämpfen’, sagte Rasputin im obengenannten Gespräch mit Rasumowski, ‘das ist ihr Missgeschick und ihre Blindheit. Es nützt ihnen nichts und sie werden sich nur gegenseitig schneller umbringen. Aber wir schauen liebevoll und ruhig in unser Inneres und werden so einmal mehr über allen anderen stehen’.148
So zeigte sich, dass – außer Nächstenliebe und Bekümmernis um das Seelenheil seiner Mitmenschen – die Liebe zum russischen Volk, zusammen mit aufrechter Besorgnis um das Schicksal von Russland und dem Zaren, die Hauptgründe für Rasputins ablehnender Haltung dem Krieg gegenüber waren. Es gibt schlechtere Motive.
Abbilung 16: Der Brief mit der ’erschreckend richtige[n] Prophezeiung’, den Rasputin im Juli 1914 (n. St.) aus Tjumen an den Zaren Nikolaus II. in Sankt Petersburg sandte