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‘C’est la guerre européenne!’

‘The First World War was an unprecedented catastrophe that shaped our modern world.’†

‘We are all muddled into war’ – ‘wir sind alle in den Krieg hineingeschlittert’, so fasste der spätere britische Premier David Lloyd George. im Nachhinein das Entstehen des Ersten Weltkrieges zusammen.7 Kein einziger Fürst oder Staatsmann, so führte er in seinen Memoiren aus, wollte damals Krieg, keiner sah ihn sogar voraus. Und als man sich endlich der Gefahr eines allgemeinen Krieges bewusst wurde, war keiner imstande ihn aufzuhalten. Denn dazu hätte es, nach Lloyd George, einen großen Staatsmann wie z.B. Bismarck oder Disraeli oder Roosevelt benötigt und den gab es damals nicht.8 So übergab die Politik, selbst nicht ein noch aus wissend, zuletzt dem Militär die Zügel, worauf ‘der Automatismus der Generalstabsplanungen in Gang gesetzt wurde’.9 Anstelle politischer Erwägungen und diplomatischer Unterhandlungen, fingen ‘militärische Pläne und Zeitschemen an die Politik zu diktieren’.10

So nimmt es sich allerdings aus für jemanden der die Ereignisse oberflächlich betrachtet. Hinter den Kulissen spielten sich nämlich noch ganz andere Ereignisse ab, wobei bestimmte Gruppierungen zielbewusst auf einen europäischen Krieg ansteuerten, weil sie diesen für unvermeidlich hielten oder notwendig erachteten um ihre politischen Ziele zu erreichen. Anscheinend nach Frieden trachtend, taten diese Leute im Verborgenen alles Mögliche um den Krieg Schritt für Schritt herbeizuführen.11

In diesem komplexen Prozess spielte die russische Mobilisation eine äußerst wichtige, ja sogar entscheidende Rolle. Sowohl für Österreich-Ungarn als auch für Deutschland bedeutete eine völlig mobilisierte russische Armee an ihren Grenzen ja eine tödliche Gefahr. Wenn sie nicht das Risiko laufen wollten um plötzlich von Russland überrumpelt zu werden, dann blieb diesen Ländern keine andere Wahl als ebenfalls ihre Armeen zu mobilisieren. Andererseits war Frankreich, der Französisch-Russischen Allianz von 1892-1894 wegen, im Falle einer russischen Mobilisation mehr oder weniger auch zur Mobilisation verpflichtet.12 Außerdem konnte es natürlich schwierig tatenlos zusehen wie eine bis an die Zähne bewaffnete deutsche Armee in den höchsten Stand der Bereitschaft gebracht wurde. Nichts tun käme in einem solchen Fall einem Selbstmord gleich. Eine französische Mobilisation vergrößerte aber wiederum die Chance, dass auch England sich am Krieg beteiligen würde, denn diese Weltmacht konnte ja nicht zulassen, dass Frankreich von der deutschen Armee ‘zermalmt’ würde.13

Das Gegenteil war aber der Fall, solange Russland nicht mobilisierte. In dem Falle hatten nämlich sowohl Österreich-Ungarn als auch Deutschland kaum etwas zu befürchten, deshalb brauchten sie ihre Armeen auch nicht in Bereitschaft zu stellen. Infolgedessen hätte aber auch für Frankreich und England, die ja der Balkankonflikt im Grunde letzten Endes nichts anging, kein Anlass zur Mobilisation bestanden.

So war die russische Mobilisation in hohem Maße entscheidend dafür, ob es zu einem europäischen Krieg kommen würde oder nicht. Als Zar Nikolaus II. dann am Donnerstag dem 17./30. Juli 1914 endgültig den Befehl zur Mobilisation erteilte, bedeutete das also, wie der amerikanische Historiker John McKay in seiner Übersicht der westlichen Geschichte bemerkt, dass er ‘tatsächlich einen allgemeinen Krieg erklärte’.14 Zweifelsohne war man sich dessen in Russland auch klar bewusst. Denn die Auffassung, dass Mobilisation ‘kein friedliebender Akt’ war, sondern ‘der meist definitive Schritt zum Krieg’, war schon seit 1892 Gemeingut unter den russischen Offizieren.15

Auch Nikolaus II. war sich dieser Gefahr ohne Zweifel klar bewusst16, deswegen sein anhaltendes Zögern um zur Mobilmachung überzugehen. Nur über begrenzte geistige Fähigkeiten verfügend war er eigentlich der Spielball seiner Umgebung. Und die drängte – aus allerlei manchmal recht düsteren Gründen – nachdrücklich zum Krieg.

Einer der Menschen die in diesem Drama eine Hauptrolle spielten, war der damalige russische Außenminister Sergei Sasonow. Er war es der Nikolaus schließlich dazu überredete die Mobilmachung zu befehlen, ja, ihn geradezu dazu zwang. Wobei er keine Skrupel hatte der Wahrheit nötigenfalls ein bisschen Gewalt anzutun.

Ein ‘Januskopf mit zwei Gesichtern’, so könnte Sergei Sasonow wohl am besten gekennzeichnet werden. Nach außen hin gab er sich in diesen turbulenten Julitagen von 1914 vor allem für einen Friedensapostel aus, der den einen nach dem anderen Versöhnungsvorschlag lancierte17 und alles auf alles setzte um einen Krieg zu verhindern. Hinter geschlossenen Türen zeigte er jedoch ein ganz anderes Gesicht, nämlich das eines geschliffenen Politikers, der zu jedem Preis den russischen Einfluss auf dem Balkan vergrößern wollte, mit dem Ziel um schlussendlich eine freie Durchfahrt für russische Handels- und Kriegsschiffe vom Schwarzen Meer zum Mittelmeer über die Meerengen Bosporus und Dardanellen zu bewirken.18

Ebenso wie seine Vorgänger, namentlich sein berüchtigter ‘geistiger Vater’ Alexander Iswolski, hatte Sasonow diese ‘historische Aufgabe’ Russlands zum Schwerpunkt seiner Politik gemacht. Dabei war er allmählich zur Einsicht gekommen, dass dieses ’gehobene’ Ziel aller Wahrscheinlichkeit nach ohne einen europäischen Krieg nicht zu erreichen war.19 Sasonow erhoffte sich ja, indem er an Seiten Englands und Frankreichs an einem Krieg gegen Deutschland und Österreich-Ungarn teilnehmen würde, den Widerstand dieser zwei Kaiserreiche zu überwinden und seine Bundesgenossen gleichzeitig zu überreden um Russlands Erstreben in bezug auf die «Straits» zu bewilligen.20 Dass ein solcher allgemeiner europäischer Krieg ‘Ströme Bluts’ mit sich bringen würde, nahm er mit in Kauf.21

Mit dem Konflikt zwischen dem großen, ehrwürdigen, aber mit Zerfall bedrohten Kaiserreich Österreich-Ungarn einerseits und dem kleinen aufrührerischen Königreich Serbien andererseits, sei, so meinte Sasonow, der Augenblick gekommen um – nach zwei ehernen gescheiterten Versuchen22 – den langgehegten Traum hinsichtlich der «Straits» zu verwirklichen. Dabei stellte die Aushändigung des österreichischen Ultimatums an Serbien am Donnerstag dem 10./23. Juli 23 für ihn sozusagen das Signal dar um zur Tat zu schreiten.

‘C’est la guerre européenne!’, lautete Sasonows Reaktion, als er am Freitag dem 11./24. Juli gegen zehn Uhr morgens bei seiner Ankunft auf dem Ministerium von seinem Kabinettschef Moritz von Schilling die Nachricht vom österreichischen Ultimatum vernahm.24 Der Meinung, dass ‘Österreichs Schritt den Krieg bedeute’ und dass ‘Russland auf jeden Fall mobilisieren müsse’, wie er am selben Morgen dem britischen Botschafter George Buchanan und dessen französischen Kollegen Maurice Paléologue gegenüber erklärte25, legte Sasonow seine Karten jedoch nicht sofort offen auf den Tisch. So plädierte er während des an jenem Tag um drei Uhr nachmittags in aller Eile einberufenen Ministerrates – entschieden gegen die Meinung der Heeresspitze angehend – zu Anfang für eine teilweise, nur gegen Österreich-Ungarn gerichtete Mobilisation26, trotz der Gefahr, dass dadurch eine Generalmobilmachung und damit auch die Chance eines militärischen Sieges beeinträchtigt würde.27 Sasonow beharrte aber auf seinem Standpunkt und wusste seine Minister-Kollegen schlussendlich für seine Auffassung zu gewinnen.28 Hiermit war die Sache jedoch noch nicht erledigt, denn ohne die Erlaubnis des Zaren konnte kein einziger Reservist eingezogen und kein einziges Pferd oder Auto gehoben werden. Sanftmütig von Art wie Nikolaus eben war, graute ihm jedoch sehr vor einem Krieg, weshalb er jede Gelegenheit die Sache aufzuschieben oder sogar aufzuheben dankbar ergriff.29

Sasonow zögerte nicht und berief direkt am nächsten Tag einen zweiten Ministerrat ein, wobei dieses Mal auch der Zar zugegen war. Dieser fand am Ende des Vormittags, zu Beginn des Nachmittags statt, nicht in Sankt Petersburg, sondern im nahegelegenen Städtchen Krasnoje Selo, zirka zwanzig Kilometer südwestlich der Hauptstadt, wo der Zar an jenem Tag die Sommermanöver der russischen Armee beiwohnen sollte.

Nach einer langen Einführung Sasonows, worin er unter anderem das österreichische Ultimatum an Serbien eine ‘planvolle Herausforderung’ nannte, dem Russland seines Erachtens nicht ‘gleichgültig’ gegenüber stehen konnte, genehmigte der Zar zuletzt die Teilmobilmachung gegen Österreich, zu der der Ministerrat am vorangegangenen Nachmittag im Prinzip beschlossen hatte, unter der Bedingung, dass der Mobilisationsbefehl erst erlassen würde wenn die Umstände Anlass dazu gäben. Gleichzeitig wurde Sasonow bevollmächtigt um zu entscheiden ob eine Mobilisation überhaupt notwendig war und wann zu ihr übergegangen würde.30 Auf diese Weise wurde der Schlüssel zu Krieg oder Frieden – und damit das Los der ganzen zivilisierten Welt – in die Hände eines einzigen Mannes gelegt! Eine Befugnis die Sasonow, als er die Zeit dafür reif hielt, dankbar geltend machte. So weit war es jetzt allerdings noch nicht.

Das war aber noch nicht alles. Neben dem Beschluss um zur Mobilisation zu schreiten wurde während dieses zweiten Ministerrats zugleich eine Anzahl zusätzlicher Maßnahmen getroffen.31 Weitaus die Wichtigste davon war die Entscheidung, um – in aller Heimlichkeit, denn es durften keine schlafenden Hunde geweckt werden! – die sogenannte ‘Kriegsvorbereitungsperiode’ in Gang zu setzen, sowohl für die Armee wie für die Flotte. Eine Maßnahme, die in verschiedener Hinsicht kaum oder nicht von der wirklichen Mobilisation zu unterscheiden war.32 Dadurch könnte – wenn der entscheidende Augenblick gekommen war – die Mobilisation selbst erheblich beschleunigt werden, wodurch Russland einen wichtigen Vorsprung auf seine Feinde bekommen würde. Der Entscheid, der sofort in Wirkung trat, galt auffälligerweise für alle Truppen im europäischen Teil Russlands.33 Mittels eine Anzahl – streng geheimer – Telegramme wurde diese Maßnahme noch am selben Tag den Befehlshabern in den verschieden Militärbezirken mitgeteilt.34

Die Folgen traten sofort in Erscheinung: unmittelbar nachdem die Parade in verkürzter Form abgehalten worden war, erging der Befehl, die Manöver der russischen Armee in Krasnoje Selo sowohl wie in ganz Russland abzubrechen und die Truppen sofort in ihre Garnisonen zurückzuführen.35

Auch in Sankt Petersburg waren die Effekte schon bald zu spüren. Früh am Abend herrschte auf den Bahnhöfen der Hauptstadt ein geschäftiges Treiben: neben den Tausenden von Menschen die über das Wochenende der drückende Hitze der Stadt entkommen wollten, waren die Züge vom Militär überfüllt.36 Und einige Stunden später widerhallte in den Straßen des nachtstillen Petersburgs der Hufschlag der Kaiserlichen Garden, die im Nebel schleunigst nach der Hauptstadt zurückgeritten waren, obwohl sie noch für einen Monat in Krasnoje Selo hätten bleiben sollen.37 So wurde schon am Samstag dem 12./25. Juli, während die diplomatischen Verhandlungen in vollem Gange waren, ja, noch ehe der Termin des österreichischen Ultimatums verstrichen war, von Russland ein erster Schritt in Richtung Krieg getan.

Mit dem Entscheid des Ministerrates vom 12./25/ Juli um die vier südlichen, an Österreich-Ungarn grenzenden Militärbezirke zu mobilisieren und in ganz Russland die Kriegsvorbereitungsperiode einzuführen, begann für Sasonow das ‘große Warten’38, bis der Augenblick gekommen war, an dem er den ‘Blankoscheck’ der Nikolaus ihm ausgestellt hatte, einlösen konnte.39 Dieser Augenblick brach am Dienstag dem 15./28. Juli an, der Tag an dem Österreich-Ungarn Serbien den Krieg erklärte.


Abbilung 3: Außenminister Sergei Sasonow, der große Initiator der russischen Mobilmachung und somit auch des Entbrennens eines allgemeinen europäischen Krieges (um 1915)

Erik Sass, Serbia in Collapse. Www.mentalfloss.com, November 5, 2015 (abgerufen am 1. Mai 2021).

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