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Der Graf und der Bauer

Aufgestachelt von den kriegslüsternen Berichten in der Presse, löste die Nachricht über den Krieg in gewissen Kreisen in Russland einen ‘Ausbruch von emotionalem Patriotismus’ aus.149 Als Nikolaus nach dem Unterzeichnen der Kriegserklärung am Sonntag, dem 20. Juli/2. August 1914, zusammen mit seiner Frau Alexandra auf dem Balkon des Winterpalastes in Sankt Petersburg erschien, sank die vieltausendköpfige Menge auf dem Platz vor dem Palast spontan wie ein Mann auf die Knie und stimmte die Nationalhymne Gott sei des Zaren Schutz an. Zu Tränen gerührt neigte Nikolaus sein Haupt vor seinen knienden Untertanen.150

So stand Rasputin inmitten der allgemeinen Euphorie zu jenem Zeitpunkt in Russland nahezu allein mit seinem Widerstand gegen den Krieg. Aber doch nicht ganz! Bei seinem Kreuzzug für den Frieden hatte er nämlich mindestens einen ganz wichtigen Mitstreiter: der ehemalige Finanzminister und Ministerpräsident Graf Sergei Witte, einer der begabtesten Minister die Russland je gekannt hat. Auch dieser intelligente und tatkräftige Politiker, der ‘letzte große Staatsmann des alten Russlands’, sah in diesem Krieg kein einziges Heil, im Gegenteil.151 Und wie auch Rasputin, hielt er mit seinen Warnungen nicht zurück, ungeachtet wen er gegenüber sich hatte.152 So sagte er am 28. August/10. September 1914 zum französischen Botschafter Maurice Paléologue, eine der treibenden Kräfte hinter der Kriegspartei in Russland153:

‘Dieser Krieg ist ein Wahnsinn. Die Vorsicht des Zaren wurde von von dummen und kurzsichtigen Politikern zur Seite geschoben. Der Krieg kann für Russland nur schreckliche Folgen haben. Nur Frankreich und England können sich irgendeinen Vorteil vom Siege erhoffen. […] Abgesehen davon, dass mir unser Sieg noch höchst zweifelhaft erscheint. […] Was hofft man zu gewinnen? Eine Erweiterung des Territoriums? Herrgott, ist denn das Reich Seiner Majestät nicht schon groß genug? […] Und selbst wenn wir – was unrealistisch wäre – von einem totalen Sieg ausgehen und die Hohenzollern und die Habsburger so klein sind, dass sie um Frieden betteln – das würde nicht nur das Ende der deutschen Dominanz bedeuten, sondern auch die Proklamation von Republiken in Mitteleuropa. Das würde zugleich auch das Ende des Zarismus bedeuten. Und ich spreche lieber nicht darüber was mit uns geschehen wird, wenn wir den Krieg verlieren werden … .154

Scharfsinnig und erfahren wie kein anderer sah Witte nur allzu deutlich ein, was die Folgen eines Krieges sein würden. Dabei ließ er sich nicht mitreißen von den aufwiegelnden Berichten in der Presse über die Befreiung der orthodoxen Mitbrüder auf dem Balkan, die Eroberung von Konstantinopel und von der Aya Sophia, den Zugang zum Mittelmeer via den Bosporus und die Dardanellen, und dergleichen. Als einer der wenigen Menschen in Russland verlor Witte während jenen heißen Sommertagen den Kopf nicht. ‘Sie machen wohl Anspielung auf unser Ansehen im Balkan’, hatte er zu Paléologue gesagt, ‘auf unsere fromme Pflicht, unsere Blutsbrüder zu beschützen, auf unsere geschichtliche, heilige Sendung im Orient?’ ‘Aber’, so fuhr er nüchtern fort, ‘das ist ein romantisches, altmodisches Wahngebilde. Niemand hier, kein ernst Denkender, interessiert sich noch für diese unruhigen, eitlen Balkanvölker, die gar nichts Slawisches an sich haben, die nichts anderes sind als umgetaufte Türken’.155 Was Witte betrifft sollte man ‘die Serben der Züchtigung überlassen, die sie verdient haben’, indem sie Österreich-Ungarn ständig provozierten.156 Seiner Meinung nach hatte Russland viel zu viel Interesse an einem guten Verhältnis mit Deutschland um einen Krieg zu riskieren. Dieser würde dem Land nur Elend bringen, mehr nicht.157 Vernünftige Worte, die damals jedoch keiner hören wollte.158

Viel hatte Witte übrigens 1914 nicht in die Suppe zu brocken, weil er – abgesehen von einem Sitz im ziemlich machtlosen Staatsrat und vom Vorsitz des Obersten Finanzrates – seit seinem Rücktritt am 14./27. April 1906 als Premierminister kein einziges offizielles Amt mehr bekleidet hatte, etwas was er sehr gerne gewollt hätte.159

Zweimal hatte es beinahe geklappt. Als Nikolaus nämlich 1911 die Nase gestrichen voll hatte vom damaligen Premierminister Stolypin, wurde unter anderen erwogen Witte als seinen Nachfolger zu benennen. Dieser weigerte sich aber absolut um den sehr umstrittenen Alexei Chwostow, der damalige Gouverneur von Nischni Nowgorod, als Innenminister zu akzeptieren. Damit war die Sache erledigt, denn nachdem Stolypin am 1./14. September 1911 während einer Galavorstellung in der Oper von Kiew vom Anarchisten und Geheimagenten Dmitri Bogrow ermordet worden war, wurde nicht Witte, sondern dessen Rivale, Finanzminister Wladimir Kokowzow, zum Premierminister ernannt.160

Zwei Jahre später, im Januar 1914 (a. St.), bot sich für Witte nochmals eine Gelegenheit dar um Premierminister zu werden, als auch Kokowzow seinerseits beim Zaren in Ungnade gefallen war. ‘Die Ernennung Wittes, des Lieblings der Fortschrittsparteien und des industriellen Kapitals’, so schreibt Edward Radsinski, ‘hätte wohl alle Probleme gelöst’.161 Aber auch dieses Mal hatte Witte das Nachsehen. Nikolaus hatte ihm nämlich das Oktobermanifest von 1905 nie vergeben können, wobei der Zar wohl oder übel seine Macht mit einer gesetzgebenden Duma teilen musste.162 Seitdem hasste Nikolaus, aber vor allem seine Frau Alexandra, Witte, und er war bestimmt nicht gesonnen um dem fähigen Staatsmann jemals wieder eine führende Position zu gönnen, sosehr das Staatsinteresse das auch verlangte. Also wurde am 31. Januar/13. Februar 1914, in einem Moment wo er am dringendsten gebraucht wurde, nicht der äußerst kompetente und intelligente Witte zum Ministerpräsidenten ernannt, sondern der – laut manchen schon einigermaßen senile – Greis Iwan Goremykin, der mit seinen 74 Jahren nun nicht gerade die richtige Person war, um Russland aus dem Schlamm zu ziehen.163 Seiner Natur nach eher gefügig war Goremykin auch bestimmt nicht der Mann danach, um Nikolaus von Kriegsteilnahme abzuhalten. Was Witte als Premierminister ganz bestimmt wohl getan hätte! 164

Wie anders wäre alles wohl nicht gelaufen, wenn Nikolaus den Rat seines Vaters, den er ihm auf seinem Sterbebett mitgab, befolgt hätte?! ‘Hör gut auf Witte’, hatte Alexander III. damals zu seinem jungen und unerfahrenen Sohn gesagt.165 Zum großen Unglück Russlands schlug Nikolaus jedoch die Mahnung seines verehrten Vaters im entscheidenden Augenblick in den Wind. Deshalb musste Witte, der den Sommer 1914 im französischen Badeort Biarritz verbrachte, voller Bedauern zusehen wie Russland unwiderruflich auf den Krieg zusteuerte.166

1903 hatte Nikolaus schon einmal denselben Fehler gemacht, als er Witte, nach elf Jahren treuen Dienstes als Finanzminister, am 29. August/11.September den Laufpass gab. ‘Danach begannen sich’, wie der niederländische Historiker van der Meiden schreibt, für Russland ‘die Katastrophen zu vollziehen’.167 Der Russisch-Japanische Krieg von 1904-1905 brach aus, was die Revolution von 1905 nach sich zog. Dieses Mal war Nikolaus noch weise genug um Witte zurückzurufen, worauf dieser das Land bis zu zwei Mal vor dem Untergang behütete. Dank seines Verhandlungstalents vermochte Witte nämlich bei dem am 23. August/5. September 1905 geschlossenen Vertrag von Portsmouth (New Hampshire, VS) den Schaden für Russland zu beschränken. Um dann, noch keine zwei Monate später, dank dem Oktobermanifest, sein Land vor den Toren einer allgemeinen Revolution wegzuschleppen. So ging Russland haarscharf am Abgrund vorbei, in den es einige Jahre später dennoch stürzen sollte.168 Der kurzsichtige Nikolaus nahm es seinem Minister aber nicht in Dank ab und gab Witte bei der erstbesten Gelegenheit am 14./27. April 1906 schon wieder den Laufpass.169 Denn wer an die, für ihn ‘heilige’ Autokratie rührte, rührte zugleich an ihn! Und an seine Frau Alix!

Übrigens stand Nikolaus in 1914 nicht allein mit seinen Bedenken gegen die Rückkehr Wittes auf der politischen Bühne. Auch Andere sahen – allerdings aus ganz anderen Gründen – einer Rückkehr Wittes in die Politik mit Angst und Beben entgegen. Es gab jedoch etwas was Einige noch mehr fürchteten als Witte im Amt des Ministerpräsidenten: Witte und Rasputin zusammen! Als Rasputin im Jahre 1911 Witte besuchte, verursachte das bei seinen Gegnern freilich nichts mehr und nichts weniger als eine regelrechte ‘Panik’, vor allem unter den Monarchisten.170 So notierte zum Beispiel Alexandra Bogdanowitsch-Butowskaja, die Gemahlin des Generals Jewgeni Bogdanowitsch, einer von Rasputins meist vehementen Feinden, nach Rasputins Besuch bei Witte in 1911 in ihr Tagebuch: ‘Eine große Gefahr ist der Umstand, dass sich der “Störenfried” [Rasputin] mit Witte verständigt hat … Witte möchte wieder an die Macht’.171 Wie sich aus diesen Worten ersehen lässt, bestand bei einigen Leuten die Befürchtung, dass Rasputin den Zaren überreden wollte um Witte wieder zum Ministerpräsidenten zu ernennen.172 Witte am Ruder des russischen Staatsschiffes, während Rasputin hinter geschlossenen Türen mit den ‘Zaren’ Nikolaus und Alexandra die Geschäfte regelte: ein größerer Alptraum gab es für einige Leute in Russland nicht!173

Die Gefahr eines solchen Tandems zwischen Witte und Rasputin war übrigens sicher nicht imaginär. Wie unterschiedlich der liberale Graf und der einfache Bauer aus Sibirien als Person auch immer waren, in menschlicher und politischer Hinsicht stimmten sie in vielen Punkten überein. So erklärte Witte nach Ablauf des Besuches, der Rasputin ihm erstattet hatte: ‘Rasputin unterbreitete mir im Gespräch sehr originelle und interessante Ansichten’.174 Und bei einer anderen Gelegenheit erklärte er dem Journalisten A.W. Osmolowski: ‘Sie wissen nicht was für ein großer Intellekt dieser hervorragende Mann besitzt. Er kennt Russland, seinen Geist, seine Gesinnung und seine historischen Bestrebungen besser als jeder andere. Er weiß das alles durch eine Art von Instinkt, aber leider ist er jetzt weit entfernt’.175 So zeigte sich auch Witte, vielleicht fast mehr noch als andere Menschen, beeindruckt von Rasputins gesundem Verstand und klarer Urteilskraft.

Außer Witte widersetzten sich auch noch einige andere prominente Persönlichkeiten einer russischen Kriegsteilnahme, unter anderen der ehemalige Innenminister Pjotr Durnowo, und der ziemlich umstrittene Fürst Wladimir Meschtscherski, seit 1872 Herausgeber der äußerst konservativen Zeitung Grazjdanin (‘Der Bürger’), die täglich vom Zaren gelesen wurde.176 Durnowo hatte im Februar 1914, als die Kriegsgefahr schon sichtlich zunahm, dem Zaren ein Memorandum geschickt, worin er auf die Gefahren eines Krieges für Russland wies.177 Dieser würde seiner Meinung nach solche ‘grundlegende soziale Erschütterungen’ hervorrufen, dass eine Revolution ‘unvermeidlich’ würde, egal ob Russland den Krieg gewinnen oder verlieren würde. Letzteres erachtete er, ‘mit einem Gegner wie Deutschland’, übrigens wahrscheinlicher.178

Wie Durnowo, wandte auch Fürst Meschtscherski sich persönlich an den Zaren. Obwohl er schwer krank war, begab der alte Mann sich am 10./23. Juli 1914, das heißt am Tag des österreichischen Ultimatums an Serbien, persönlich zum Zaren und flehte ihn an um sich nicht in den Krieg mitreißen zu lassen. Nikolaus, der eine direkte Bitte immer schwer weigern konnte, schwor darauf Meschtscherski, dass es zu keinem Krieg kommen würde. ‘Beruhigt kehrte Meschtscherski im strömenden Regen nach Hause zurück’, schreibt Amalrik, und … ‘starb noch am selben Abend’!179 Leider hielt Nikolaus auch dieses Mal sein Versprechen nicht …

So erhoben am Vorabend des Krieges mindestens drei prominente Persönlichkeiten in Russland beunruhigt ihre Stimme. Alle drei stießen jedoch mit ihrem Plädoyer beim Zaren auf taube Ohren, worauf der halbblinde Durnowo sich weiter darüber ausschwieg, währenddessen Witte im moment suprême zur Badekur im französischen Badeort Biarritz verblieb. Somit gab es im entscheidenden Augenblick also niemanden in der Nähe des Zaren, der ihn von seinem verhängnisvollen Schritt hätte zurückhalten können. Und es gab auch keinen kräftigen Premierminister mehr, wie z.B. Stolypin, der den Krieg hätte verhindern können.180

Und Rasputin? Der genas im Krankenhaus von Tjumen, weit entfernt vom Zaren in Sankt Petersburg, von seinen Verletzungen. Also hatten die Falken, die gezielt auf den Krieg zusteuerten, gänzlich freies Spiel. Mit fatalen Folgen. Was, so können wir uns erfragen, wäre aber geschehen, wenn Rasputin in jenen turbulenten Julitagen wohl in Sankt Petersburg gewesen wäre?! Höchste Zeit, um uns dieser Frage zuzuwenden.


Abbilung 17: Zar Nikolaus II. segnet die russischen Truppen während des Japankrieges 1904-1905


Abbilung 18: Graf Sergei Witte, Russlands ehemaliger Finanz- und Premierminister; wurde von Zar und Zarin gehasst wegen seinem ‘Oktobermanifest’ aus 1905, wodurch die Macht des Zaren eingeschränkt wurde; stand Rasputin sympathisch gegenüber und lehnte einen Krieg gegen Deutschland aufs schärfste ab

'Alle wollen den Krieg von Dir'

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