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Auf Messers Schneide

Am Mittwoch, dem 16./29. Juli, dem Tag, an dem er zum ersten Mal den Befehl zur Mobilmachung gab, erhielt Nikolaus zwei bemerkenswerte Berichte: das schon erwähnte Telegramm des deutschen Kaisers; und ein Telegramm Rasputins.181 Worauf ‘das Unglaubliche geschah’: der Zar zog seinen Befehl zur Mobilmachung ein!182 Zum großen Schrecken von Leuten wie Sasonow, Suchomlinow und Januschkewitsch, die ja gänzlich auf den Krieg erpicht waren.183 Wobei sie, hinter dem Rücken des Zaren, die Mobilmachung schon in Gang gesetzt hatten.184 Mit einer sehr wankelmütigen Natur behaftet ließ der Zar sich aber doch wieder zum Erlass der Mobilmachung überreden.185

So brachte das Jahr 1914, wie viele schon lange vorher hatten kommen sehen, den Krieg. Nicht wie eine zwingende, unvermeidliche Notwendigkeit, die von den Szenarien der Generalstäbe und den logistischen Anforderungen groß angelegter Mobilisationen diktiert wurde, sondern infolge menschlichen Versagens. Im entscheidenden Augenblick zeigten die wichtigsten Beteiligten ganz einfach zu wenig Einsicht, wobei viele sich zu sehr von allerhand Gefühlen und Träumen mitreißen ließen, während es anderen ganz einfach an Mut und Durchgriff fehlte. Dazu kam noch, dass man im Allgemeinen der Ansicht war, dass der Krieg schnellstens vorüber sein würde. Und selbstverständlich dem eigenen Land den Sieg bringen würde … .186 Alle diese Faktoren zusammengenommen sorgten letztendlich dafür, dass Europa ‘in den Krieg hineinschlitterte’, wie Lloyd George später bemerkte.187

Nüchtern betrachtet wäre dies alles im Grunde genommen nicht nötig gewesen. Denn für alle Fragen die 1914 auftauchten, ‘hätte sich auf die Dauer eine friedliche Lösung finden lassen’, wohingegen es im Kern keinen einzigen Grund gab, warum der Konflikt auf dem Balkan nicht ‘auf Russland [oder Serbien] und das österreichisch-ungarische Kaiserreich hätte beschränkt bleiben können’.188 Es kam im Sommer von 1914 einzig und allein zum Krieg, weil es Menschen gab die ihn wollten oder sich – wider ihrer eigenen Überzeugung – von anderen in den Krieg hineinziehen ließen. Dabei muss bedacht werden, dass der Entscheid, um die Macht aus der Hand zu geben und den weiteren Verlauf der Dinge von den Szenarien der Generalstäbe und den logistischen Anforderungen bestimmen zu lassen, auch eine menschliche Entscheidung ist! Da, wo der Krieg also Menschenwerk war und von Menschen in Gang gesetzt wurde, hätte er auch von Menschen verhindert werden können!

Die große Frage bei dem allem ist natürlich, was geschehen wäre, wenn Rasputin in dem Moment in Sankt Petersburg gewesen wäre, in der direkten Nähe des Zaren. Hätte Nikolaus in dem Fall die Mobilmachung auch befohlen, mit einem allgemeinen europäischen Krieg als fast unweigerliche Folge? Rasputin selbst war vollkommen davon überzeugt, dass es dann nicht soweit gekommen wäre: ‘Wenn ich dort gewesen wäre, dann hätte ich es nicht zum Blutvergießen kommen lassen. Aber jetzt wurde die ganze Sache ohne mich von all den Sasonows und den unseligen Ministern ausgeheckt’.189

Auch Witte war derselben Meinung. Wie er im Sommer 1914 in dem bereits erwähnten Gespräch mit A. W. Osmolowski sagte, gab es laut ihm ‘nur einen Mann, der in diesem Augenblick helfen konnte um die verwickelte politische Lage zu entwirren’.190 Auf die Frage, wer das denn wohl sein möge, antwortete Witte, zum großen Erstaunen Osmolowskis: ‘Grigori Jefimowitsch Rasputin’.

‘Angesichts des Schwankens des Zaren’, so schreibt Andrei Amalrik, ‘ist es sehr wohl möglich, dass Rasputin ihn überzeugt hätte, um nicht auf Sasonow, Januschkewitsch und Suchomlinow zu hören und den Mobilmachungsbefehl nicht ergehen zu lassen, solange noch nicht alle Mittel, um den Konflikt auf friedliche Weise zu lösen, erschöpft waren’.191 Um etwas später, einigermaßen inkonsequent, hinzuzufügen: ‘Ob er [Rasputin] im Sommer 1914 Nikolaus II. nicht beeinflussen konnte, weil er seiner Verwundungen wegen weit von ihm entfernt war, oder weil [zu diesem Zeitpunkt] schon niemand mehr imstande war, um dem Verlauf der Ereignisse Einhalt zu gebieten, kann ich nicht beurteilen’.192 Da, wo Rasputin selbst, und viele mit ihm, fest davon überzeugt war, dass er den Zaren von einem Krieg hätte abhalten können, legt Amalrik sich wohlweislich nicht fest: auf der einen Seite schließt er die Möglichkeit sicher nicht aus, auf der anderen Seite ist er jedoch auch realistisch genug um einzuräumen, dass die Ereignisse in jenem Moment vielleicht schon eine eigene, nicht zu hemmende Dynamik erhalten hatten.193 Es wird wohl niemals ganz klar werden, was genau die Wahrheit ist, aber es gibt trotzdem ein paar besondere Umstände, die aufklären können, weshalb es auf diese Weise gelaufen ist und nicht anders.

Wenn wir den ganzen Verlauf der Mobilmachung etwas genauer betrachten, kann an erster Stelle auffallen, dass Nikolaus seine Frau Alexandra, womit er doch meistens alles besprach, dieses Mal nicht informiert hat. Erst als die Generalmobilmachung eine vollendete Tatsache war, sagte man ihr Bescheid, nicht Nikolaus selbst, sondern ihre Hofdame, Anna Wyrubowa. Diese schreibt nämlich: ‘Die Zarin warf mich entgegen, dass die Mobilmachung nur die an Österreich grenzenden Bezirke betraf. Als ich sie vom Gegenteil überzeugte, stand sie geärgert auf und begab sich in das Kabinett des Zaren. […] Ich hörte sie während etwa einer halben Stunde laut mit einander reden; dann kam sie zurück, warf sich auf ein Sofa und rief unter einer Flut von Tränen aus: “Alles ist vorbei, wir sind im Krieg, und ich habe nichts davon gewusst!” ’.194

So wurde die Zarin dieses Mal – wohl oder nicht absichtlich – von ihrem Gatten in Unkenntnis gelassen über seinen Entschluss.195 Wäre Alexandra, die die Kriegsvorbereitungen ‘entsetzt’ besah196, wohl im voraus über die Entwicklungen informiert gewesen, dann hätte sie mit ziemlicher Sicherheit auf Aufschub der Generalmobilmachung gedrängt. Wobei der Zar vermutlich früher oder später in die Knie gegangen wäre. Denn gegen seine Frau kam Nikolaus eben nicht an!197 Vielleicht unterließ Nikolaus es gerade deswegen, um sie dieses Mal zu informieren!? Eine direkte Konfrontation zu vermeiden, mit wem auch immer: das war typisch Nikolaus’ Stil!

Wäre Rasputin damals in der Nähe des Zaren gewesen, dann wäre alles wahrscheinlich gerade etwas anders gelaufen. Es liegt auf der Hand, dass die Zarin ihn auch in dieser wichtigen Angelegenheit zu Rate gezogen hätte, so wie sie das ja bei fast allem machte. Und ihn vielleicht auch zum Hof hätte beordert um mit dem Zaren zu sprechen. Oder Rasputin hätte vielleicht selbst ein Treffen mit Nikolaus vorgeschlagen. In dem Fall der Zar nahezu sicher seinen Kurs geändert hätte. Denn gegen Alix und Rasputin zusammen konnte der Zar sich nicht durchsetzen, allen Sasonows, Suchomlinows und Januschkewitschs zum Trotz.198

Dazu kommt noch, dass der Krieg für den Zaren bis zum allerletzten Moment bestimmt keine ausgemachte Sache war. So sagte er zum Beispiel am 16./29. Juli, weniger als einen Tag bevor er den definitiven Befehl zur Mobilmachung erteilte, noch zu seinem Hofmarschall Wladimir Freedericksz: ‘Alles mögliche muss getan werden, um den Frieden zu retten. Ich möchte nicht für ein gewaltiges Blutbad verantwortlich sein!’.199 Hätte sich eine Gelegenheit geboten um ‘den Frieden zu retten’, wie Nikolaus zu seinem Minister sagte‚ dann hätte er diese vermutlich sofort beim Schopfe gefasst, nur schon, weil er dann die Verantwortung nicht hätte übernehmen müssen. Nikolaus sah diese Gelegenheit allerdings nicht, im Gegenteil. Das lag jedoch nicht nur an ihm.

Der durchschlaggebende Faktor, der zum Entscheid der Generalmobilmachung führte, war, wie wir gesehen haben, dass Sasonow und die Seinen Nikolaus versicherten, dass ein europäischer Krieg unvermeidlich sei und dass Russland so schnell wie möglich mobilisieren müsse um auf einen deutschen Angriff vorbereitet zu sein.200 Laut ihnen existierte auch kein Plan für eine Teilmobilisation, wobei nur gegen Österreich-Ungarn und nicht gegen Deutschland Truppen mobilisiert würden.201 Nikolaus wurde also von seinen Ratgebern stark unter Druck gesetzt, wobei sie es nicht immer so genau nahmen mit der Wahrheit. Denn in Wirklichkeit war die Chance eines deutschen Angriffs so gut wie null, wohingegen die Frage, ob es zu einem Krieg kommen würde, nicht schon entschieden war, wie sie vorgaben, sondern eben gerade von einer russischen Mobilisation, also vom Entscheid Nikolaus, abhing. Übrigens war dies nicht das erste Mal, dass der Zar in einem entscheidenden Augenblick von seinen Ratgebern in die Irre geführt wurde, denn auch 1904 beim Japankrieg hatten seine Minister ihn mit sehr zweifelhaften Argumenten auf ihre Seite gezogen.202 So beruhte Nikolaus’ ‘fataler Entschluss’203, der zum ‘Auslösungssignal für einen Weltkrieg’204 wurde, letzten Endes nur auf einem äußerst zweifelhaften und wackeligen Fundament! Unter etwas anderen Umständen hätte die Sache auch eine ganz Wendung nehmen können! Zum Beispiel, wenn Rasputin sich in der Nähe des Zaren befunden hätte …


Abbilung 19: Zar Nikolaus II. und Zarin Alexandra Fjodorowna mit ihren fünf Kindern Olga, Maria, Anastasia, Alexei und Tatjana


Abbilung 20: Villa Anna Wyrubowas neben dem Alexanderpalast in Zarskoje Selo; Rasputin traf sich hier regelmäßig mit dem Zaren und der Zarin und ihren Kindern


Abbilung 21: Anna Wyrubowa, rund 1920, als sie schon in Finnland wohnte

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